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       # taz.de -- LNG-Terminals in Deutschland: Rügen gegen RWE
       
       > Ein großes LNG-Terminal soll vor Rügen gebaut werden. Die Insel wehrt
       > sich. Ob das Terminal für die Gasversorgung benötigt wird, ist
       > umstritten.
       
   IMG Bild: Ein LNG-Tanker und eine schwimmende Arbeitsplattform von RWE vor dem Ostseebad Sellin am 19. März
       
       Binz taz | Nachts kann man es hören, dieses dumpfe Brummen. Wenn die
       Lichter an der Binzer Strandpromenade erloschen sind und das größte Seebad
       Rügens vor sich hin schlummert. Wer das Brummen sucht, muss raus aufs Meer.
       Auf der Seebrücke, wo einem der Wind mit Wucht ins Gesicht peitscht und die
       dunkle Ostsee wogt, ist es unüberhörbar. Für die Menschen auf der Insel ist
       das Brummen eine böse Vorahnung, was bald sein könnte.
       
       Am Samstagmorgen, dem 11. März, ist es still. Der Westwind hat den Himmel
       blau gefärbt. Nun sieht man, was letzte Nacht zu hören war. Fünf Schiffe
       haben wenige Kilometer vor Binz Anker geworfen. „Was wollen die Schiffe
       hier?“, wundert sich ein junges Paar am Strand. In diesen Tagen wird über
       kein anderes Thema auf der Insel gesprochen.
       
       Auf dem Rumpf der Schiffe steht in weißer Schrift „LNG“ – verflüssigtes
       Erdgas für die Energieversorgung. Ganz Deutschland diskutiert über Gas,
       hier kommt es an. Sie liefern es zu einem Terminal ins nahegelegene Lubmin,
       am Festland.
       
       Das Brummen ist nur der Anfang. In knapp zwei Monaten wird der
       Energiekonzern RWE auf die Insel kommen – mit Bohrplattformen,
       Schwimmbaggern und Verlegeschiffen. Sie kommen im Auftrag der
       Bundesregierung und werden das größte fossile Projekt Europas bauen: ein
       [1][LNG-Terminal für Rügen]. Im Meer, knapp fünf Kilometer vor den
       Sandstränden der Seebäder, soll es stehen. Von dort soll eine 38 Kilometer
       lange Pipeline nach Lubmin verlegt werden, wo das Gasnetz sich in den Rest
       der Republik erstreckt.
       
       Auf dem Binzer Kurplatz organisiert sich an diesem Samstag der
       [2][Widerstand]. 33 Bürgermeister:innen der Insel, die Gemeinden,
       Umweltverbände, Bürgerinitiativen – alle sind gemeinsam gegen den Bau. So
       eine Allianz gab es hier noch nie. Es ist noch früh, Kisten mit Aperol
       werden in die aufgestellten Buden geschleppt und Plakate bemalt. Rügen
       macht mobil. Unter dem Namen „Widerklang“ läuft das ganze Wochenende ein
       Festival. In wenigen Tagen organisierte die Gemeinde Reden, Musik, Flyer,
       rote „Kein LNG“-Mützen und eine Bundestagspetition.
       
       Den ganzen Tag kommen Menschen zu einem kleinen Stand an der Promenade.
       Dort liegen Bögen bereit, um die Petition zu unterschreiben. Eine
       juristische Lücke macht ihnen Hoffnung. Im LNG-Beschleunigungsgesetz der
       Ampelkoalition steht bislang nur der Standort Lubmin, von Rügen ist keine
       Rede. Das muss vom Parlament geändert werden, bevor RWE bauen kann. Gegen
       diese mögliche Änderung läuft die [3][Petition]. 50.000 Unterschriften
       braucht es, um vor dem Petitionsausschuss des Bundestags gehört zu werden.
       Knapp 10.000 haben sie, zwei Wochen verbleiben: Die Zeit drängt.
       
       Auch hinter der Festivalbühne kann man die LNG-Tanker sehen. Karsten
       Schneider, 59, blickt aufs Meer und sagt, ein paar Zwei- oder Dreimaster
       wären ihm lieber. Der Bürgermeister von Binz ist groß gewachsen, fester
       Händedruck, tiefe Stimme. Vermutlich braucht man die hier. Sonst hört einen
       niemand gegen den ganzen Wind. Seit fast 12 Jahren ist Schneider nun im
       Amt.
       
       Mit seinen goldverzierten weißen Villen wirkt Binz entweder zeitlos oder
       aus der Zeit gefallen. Nur 6.000 Menschen leben hier, bei
       Quadratmeterpreisen von bis zu 20.000 Euro versteht man, wieso. Es lebt
       sich ruhig hier, sagt Schneider. Vor zwei Monaten änderte sich das.
       
       Im Januar 2023 bekommt Karsten Schneider eine Mail von RWE mit der Bitte um
       ein Treffen. Schneider hatte zuvor noch nie mit dem deutschen
       Energiekonzern zu tun. Er macht zusammen mit seinem Stellvertreter und
       Kurdirektor Kai Gardeja einen Termin für die folgende Woche. Schneider
       erinnert sich genau. Am 24. Januar, einem Dienstag, um 10 Uhr, treffen
       Gardeja und er eine internationale Delegation von RWE in der Kurverwaltung.
       Sie kommen im Auftrag der Bundesregierung und haben eine Präsentation
       vorbereitet.
       
       Es geht schnell, sie erzählen von „einem Anlegetower für ein „FSRU-Schiff“
       vor Sellin im Südosten Rügens. Diese Spezialschiffe können flüssiges LNG
       aufnehmen, erwärmen und in Gas umwandeln. Sie sind knapp 300 Meter lang und
       50 Meter hoch. Nach einer halben Stunde sind es schon zwei Anlegetower und
       vier Schiffe. Eine Stunde später spricht RWE über eine mögliche dritte
       Plattform.
       
       RWE ist nicht mit Fragen, sondern mit Antworten gekommen. Eine 38 Kilometer
       lange Pipeline soll das umgewandelte Gas aufs Festland nach Lubmin pumpen.
       Laut den Anträgen soll die Industrieanlage vor Rügen eine Kapazität von 38
       Milliarden Kubikmeter Gas jährlich haben. Eine vergleichbar große Anlage
       gibt es in Europa nicht. Das Terminal in Lubmin schlägt aktuell nur 4,5
       Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr um.
       
       Nach dreißig Folien ist es vorbei. Der Bürgermeister und sein Kurdirektor
       schauen sich an. Gardeja hatte Wuttränen in den Augen. Schneider sagt, er
       habe sich selten so erschrocken. Wie ein „Postmann, der ein Paket
       vorbeibringt“, sei RWE gekommen und habe ihnen das [4][größte fossile
       Bauvorhaben] Europas vor die Tür gesetzt.
       
       Als RWE dieselbe Präsentation später der Nachbargemeinde Baabe zeigte,
       haben sie scheinbar einige Zahlen geändert, erzählt Schneider. „Die wollen
       uns hier was unterjubeln“, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel nach
       vorne. „Wir haben hier vier der fünf Ostseebäder, und davor wollen Bundes-
       und Landesregierung ein LNG-Terminal setzen?“ Schneider macht eine Pause,
       „man baut doch auch keine zehngeschossige Toilette vor den Bundestag“.
       Mitte Februar hat RWE die Dokumente für die Pipeline vorlegt, am 15. Mai
       wollen sie anfangen zu bauen.
       
       Es ist Mittag, und der Kurplatz hat sich inzwischen mit einigen hundert
       Menschen gefüllt. 3.500 Menschen kamen an diesem Samstag im März insgesamt,
       gibt die Gemeinde später bekannt. Manche haben Plakate vorbereitet. Der
       Bürgermeister ist noch nicht da, auf der Bühne liegt ein Mikrofon bereit.
       
       Stefanie Dobelstein, 48, macht den Anfang. Sie ist Sprecherin der
       Bürgerinitiative „Lebenswertes Rügen“. „Ein großer Teil von Rügens
       Bevölkerung ist nur noch fassungslos über das Ausmaß der geplanten
       Industrialisierung“, sagt sie. „Ausgerechnet vor der von unseren Gästen
       geliebten Bäderküste“.
       
       Die ganze Insel lebt vom Tourismus. Wenn die Betten leer blieben, wäre das
       eine finanzielle Katastrophe. „Wer kommt noch nach Rügen, um auf eine
       Industrieanlage zu gucken?“, fragt sich Dobelstein. Gemeinsam mit den
       Umweltorganisationen Nabu und WWF warnt die 48-Jährige vor unabsehbaren
       Folgen für Natur und Klima. Die geplante Pipeline soll durch den
       Greifswalder Bodden laufen, ein Natur-, Meeres- und Vogelschutzgebiet.
       Außerdem ziehen die ohnehin bedrohten Heringsschwärme zum Laichen durch das
       Baugebiet.
       
       Die Pipeline ist inzwischen im Genehmigungsverfahren. Knapp 600
       Einwendungen gab es von Privatpersonen und Umweltverbänden. Das Bauamt
       Stralsund prüft diese nun. Manche munkeln, das Ding sei schon durch. Denn
       der Bund würde wohl kaum 38 Kilometer Pipeline bauen lassen, die vor Rügen
       ins Nichts läuft. Der kalte Wind knickt Dobelsteins Notizen in ihrer Hand
       um, sie stockt kurz. Stefanie Dobelstein ist eigentlich Grundschullehrerin,
       doch seit Kurzem auch Energieexpertin. Sie organisiert Demos, gibt
       Interviews und ist täglich in Kontakt mit Umweltverbänden. Auch sie hat
       eine Einwendung gegen den Pipelinebau geschrieben. Tausend Seiten
       Genehmigungsunterlagen, eine Woche Zeit. Manchmal fühlt sie sich wie im
       Schleudersitz. „Mit solchen beschleunigten Fristen schaffen wir unseren
       Rechtsstaat ab“, sagt Dobelstein. Nachts hat sie ihre Einwendung
       geschrieben, anders ging es nicht. Nach der Rede sagt sie: „Wenn ich schon
       nicht die Welt retten kann, dann wenigstens die Insel.“
       
       Kurdirektor Kai Gardeja steht hinten in der Menge und hört aufmerksam zu.
       Er trägt eine dieser roten „Kein LNG“-Mützen, die es hier zu kaufen gibt,
       und hat auf seine Fragen keine Antworten bekommen, weder vom Bund noch von
       RWE. Zum einen ist da das Chlor. Für den Wärmeaustausch sollen die
       Regasifizierungsschiffe die Chemikalie zurück ins Meer leiten. Gardeja hat
       es in den Antragsunterlagen gelesen. Von [5][Flüssiggas] hatte Gardeja,
       bevor RWE kam, keine Ahnung. Er hat das Thema „volley genommen“, sich
       reingestürzt, sagt er.
       
       Der Bürgermeister eilt auf die Bühne. Er war noch auf einem
       Frühjahrsempfang in Putbus und stellt sich kurz vor, obwohl ihn hier alle
       kennen. Notizen hat er keine. „LNG – leider nicht geil“, hat Schneider auf
       der letzten Demonstration gesagt. Heute ergänzt er: „LNG – lieber nicht
       genehmigen“, und gibt das Mikrofon weiter.
       
       Widerstand gegen Energieinfrastruktur ist nicht neu in Deutschland. Auf
       Borkum will man die Offshore-Energieparks nicht, bayerische Gemeinden
       protestieren gegen die Abschaffung des Mindestabstands von Windrädern. Nun
       will Rügen nicht auf Schiffe gucken. Auch alternative Standorte für das
       Terminal wie den Industriehafen Mukran oder eine größere Entfernung zur
       Küste wollen die Bürgermeister:innen der Insel nicht. Entzieht man
       sich der gesellschaftlichen Verantwortung angesichts der Energiekrise, die
       durch den Ukrainekrieg ausgelöst wurde?
       
       Als es auf der Bühne um den Krieg geht, gibt es Zwischenrufe: „Wir leiden
       hier doch auch“. Dobelstein zieht die Augenbrauen hoch. Es sei der
       Bevölkerung nicht so leicht zu vermitteln, wieso das Gas nun teuer
       eingekauft wird, wenn man es doch vorher so günstig aus Russland bekam,
       erklärt Schneider im Gespräch. Wer mit den Menschen hier spricht, versteht,
       was er meint. Den Nord-Stream-Pipelines trauern einige Demonstranten
       hinterher. Die Angst vor dem kalten Winter haben viele vergessen.
       
       Dabei plante der Bund den Ausbau der Flüssiggas-Infrastruktur letztes Jahr
       in großer Dringlichkeit. Über die Hälfte des russischen Importgases brach
       nach Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine weg. Noch im Juni 2022
       forderte Schneider, gemeinsam mit weiteren Bürgermeistern der Insel, die
       Regierung auf, Nord Stream 2 offen zu lassen und mit Russland einen
       „diplomatischen Weg“ zu finden. Dafür gab es bundesweit wenig Beifall,
       außer von der AfD. Heute würde er das so nicht wieder machen, sagt er. Die
       Dauer des Krieges habe er unterschätzt, und Nord Stream sei ohnehin
       zerstört.
       
       Doch wie viel Energie Deutschland für den nächsten Winter 2023/24 braucht,
       ist umstritten. Nach dem ersten Winter ohne russisches Gas sind die
       Speicher so voll wie seit zehn Jahren nicht. Ein Bericht vom
       Bundeswirtschaftsministerium besagt, man habe den Energiebedarf mit den neu
       errichteten schwimmenden LNG-Terminals in Lubmin und Wilhelmshaven längst
       abgedeckt.
       
       Trotzdem will Deutschland die LNG-Kapazitäten vervielfachen und sich bis
       2030 54 Milliarden Kubikmeter Gas liefern lassen, von denen 34,4 Milliarden
       gar nicht benötigt werden. Habecks Ministerium rechtfertigt das mit Risiken
       durch „Havarien, Sabotage oder andere exogene Ereignisse“. Das Deutsche
       Institut für Wirtschaftsforschung rechnete Habecks Zahlen durch und
       erklärte kürzlich den Bau fester LNG-Häfen an Nord- und Ostsee für unnötig.
       
       Auch bei der Kostenplanung zeigt Habecks Ministerium Rechenschwäche. Schon
       jetzt werden die LNG-Bauvorhaben um 1,6 Milliarden teurer als gedacht. Das
       Finanzministerium will das Flüssiggas-Budget nun auf insgesamt 10,5
       Milliarden Euro anheben. Im Hintergrund soll der Kanzler Druck machen.
       
       ## Sorge vor Rechtsruck auf der Insel
       
       Zwanzig Jahre Betriebszeit, zum Großteil durch schmutziges Fracking-Gas aus
       den USA beliefert: Was der Ausbau der fossilen LNG-Terminals für
       Deutschlands Klimaziele heißt, weiß niemand so genau. Das letzte Wort hat
       der Bundeskanzler. Die Bürgermeister:innen der Insel haben Scholz und
       Wirtschaftsminister Habeck mehrere Briefe und Mails geschrieben. Bis heute
       haben sie keine Antwort bekommen.
       
       Auf der Bühne vor dem Hotel gehen die Reden weiter. Rügen sei ein „Schatz“,
       den man bewahren müsse, der „Inbegriff heiler Natur“. Dieser
       Inselpatriotismus zieht auch Rechte an. 120 von ihnen stehen jetzt nur
       hundert Meter vom Kurplatz-Festival entfernt, vor einer kleinen Bühne vor
       dem Seebrückenplatz. Auch sie hatten für Samstag eine Demonstration
       angemeldet. Das Widerklang-Festival wurde in großer Eile als Gegenmaßnahme
       organisiert. Mit ihren „Kein LNG vor Rügen“-Plakaten würden sie in der
       benachbarten Menge vor dem Kurplatz nicht auffallen. Dort will man sie
       nicht haben, denn die Organisatoren planen die Montagsdemos auf der Insel.
       Ein bekannter Verschwörungstheoretiker soll eine Rede halten. Die Gemeinde
       hat eine Securityfirma beauftragt, damit diesmal alles gut geht.
       
       Denn bei der letzten Demo Ende Februar wurde man „unterwandert“, erzählt
       Kurdirektor Gardeja. In Baabe hatten knapp 2.500 Menschen gegen LNG
       protestiert. Ein Moderator und Bühnentechniker sollen versucht haben,
       rechte Redner auf die Bühne zu schleusen. Ein ehemaliger AfD-Politiker
       gelangte schließlich in einer offenen Diskussionsrunde ans Mikrofron. Man
       drehte ihm den Ton ab. Am Morgen danach sind Gardejas Autoreifen
       aufgeschlitzt.
       
       Wenn der Eindruck entsteht, „die da oben“ regieren über die Köpfe des
       „Volkes“ hinweg, befeuert das die Stimmanteile der Rechtspopulisten. Die
       Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern hält sich bedeckt. Das Zahlenchaos
       aus Berlin hilft auch nicht weiter, die Kommunikation vor Ort hat man RWE
       überlassen.
       
       Bürgermeister Schneider macht sich Sorgen um die Demokratie. „Wenn das
       LNG-Vorhaben durchgeht, erleben wir nächstes Jahr bei der Kommunalwahl
       unser blaues Wunder“, sagt er. 35 oder 40 Prozent würden dann aus Protest
       AfD wählen, befürchtet er. Knapp 20 Prozent tun das auf Rügen jetzt schon.
       Bei der rechten Demo heute sind auch Schneider und der Kurdirektor
       eingeladen. Sie werden nicht kommen. Schneider hat deshalb am Vorabend eine
       Mail bekommen, ob er noch in den Spiegel schauen könne. Wenn die beiden
       hier auftauchen, will man sie verprügeln, sagt ein Redner vor der
       Seebrücke.
       
       In der Hotellobby des Kurhotels, hundert Meter weiter, lehnt sich Schneider
       zurück in den Sessel. Er will sich nicht einschüchtern lassen. Manchmal
       fragt er sich, was das mit ihm innerlich macht, erzählt er. Eine Antwort
       hat er noch nicht gefunden. Heute bleibt es ruhig. Als der Bürgermeister
       das Kurhotel verlässt, ist der Seebrückenplatz wieder leer.
       
       Ein paar Tage später, um 3.30 Uhr in der Nacht von Montag auf Dienstag,
       steigen der Bürgermeister und sein Kurdirektor ins Auto und fahren los.
       Wenn Habeck und Scholz nicht zu ihnen kommen, fahren sie eben nach Berlin.
       Sie laden zum parlamentarischen Frühstück ein. Schneider hat mehrere
       Nachrichten von Bürger:innen bekommen. Eine davon wird er später den
       Abgeordneten vorlesen: „Lieber Karsten, mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr
       morgen nach Berlin fahrt, ich drücke, wie viele andere Binzer übrigens
       auch, ganz fest die Daumen!“ Schneider ist gerührt.
       
       35 Abgeordnete sind gekommen. Mit so viel Interesse haben sie nicht
       gerechnet: Stühle werden dazu gerückt, das Frühstück reicht nicht.
       Kurdirektor Gardeja zeigt eine Darstellung der geplanten Industrieanlage.
       Einige SPD-Abgeordnete sind empört, die Schiffe seien viel zu groß
       abgebildet. Man kann sich nicht einigen.
       
       Viele Abgeordnete fühlen sich über die LNG-Pläne der Bundesregierung nicht
       ausreichend informiert, erzählt Schneider später am Telefon. Er stockt
       kurz, bekommt eine aktuelle Meldung angezeigt: „Ministerpräsidentin Manuela
       Schwesig verkündet, das LNG-Terminal vor Sellin auf Rügen sei keine
       Option“. Dabei hatte Umweltminister Meyer das Projekt bereits Mitte Februar
       vorgestellt.
       
       Dem NDR zufolge haben sich Habeck und Schwesig sogar schon letzten Sommer
       auf das Rügen-Terminal geeinigt. Nun fordert Schwesig zwei Monate vor
       Baubeginn, alternative Standorte wie den Rügener Industriehafen Mukran zu
       prüfen oder die Entfernung zur Küste zu vergrößern. Ein Sprecher von RWE
       reagiert am Telefon überrascht, will sich aber offiziell nicht dazu äußern.
       
       Ist die Rückwärtsrolle der Landesregierung dennoch ein großer Erfolg für
       die Insel? Schneider seufzt und sagt, die Champagnerflaschen werde man erst
       öffnen, wenn Scholz das Ding persönlich absage. Vor Schneider und seinen
       Mitstreitern liegt ein langer Weg. Er hat gehört, dass RWE seine Anwälte
       ausgetauscht hat. Auch die Gegner des LNG vor Rügen haben längst
       Verfahrensanwälte beauftragt. Man hätte es auch hinnehmen und sich über
       die Millionen an Ausgleichszahlung freuen können. Doch für den
       Bürgermeister und seinen Kurdirektor ist das keine Option: „Wir wollen
       nicht in die Geschichtsbücher eingehen als die, die nicht alles versucht
       haben, um das zu verhindern“.
       
       Eine Woche später, am Samstagmorgen, dem 18. März, bewegt sich etwas vor
       der Insel. RWE schifft die Bauplattform JB119 an die Stelle, wo später das
       Terminal stehen soll. Das sei „schweres Gerät, mit dem Probebohrungen
       durchgeführt werden können“, sagt Constantin Zerger von der Deutschen
       Umwelthilfe.
       
       Dabei läuft das Genehmigungsverfahren noch, erst vor zwei Tagen hat die
       Landesregierung dem Standort eine Absage erteilt. Werden hier Tatsachen
       geschaffen? Das Bergamt Stralsund sagt auf Anfrage, das Umweltministerium
       Mecklenburg-Vorpommern sei zuständig, Umweltminister Meyer sagt, er wisse
       von nichts. Das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Ostsee hat den Vorgang
       genehmigt. Ob es dafür eine Rechtsgrundlage gibt, bleibt bislang ungeklärt.
       Das „Deutschlandtempo“ vom Kanzler lässt keine Zeit zum Prüfen.
       
       Nur einen Tag später ist die Plattform wieder weg. RWE schreibt auf
       Anfrage, „die Erkundungsplattform sei nach ihren Erkundungen
       zurückgekehrt“, und widerspricht einer „Baumaßnahme“. Zerger vermutet, dass
       die geplanten Arbeiten gar nicht durchgeführt wurden. Es sei
       offensichtlich, dass RWE eine solche Plattform nicht am Wochenende an den
       Bauplatz schickt, um einfach mal nachzugucken. „Sie sind offenbar
       zurückgepfiffen worden“, schreibt Zerger per Mail. Ob am 15. Mai trotz des
       Protests der Landesregierung gebaut wird, will RWE auf Anfrage nicht
       beantworten.
       
       Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte am Mittwoch an,
       dass er den Hafen Mukran als Alternativstandort prüfen will. Aus
       Unternehmenskreisen bei RWE heißt es, dass Mukran bereits letzten Sommer
       für das Bundeswirtschaftsministerium geprüft wurde. Das Projekt sei dort in
       dem von Habeck gewünschten Zeitraum nicht realisierbar. Will Habeck sich
       also nur Zeit verschaffen, während RWE bereits seine Bagger und Bohrer auf
       Erkundungstouren schickt? Die Inselbewohner auf Rügen wird der Vorschlag
       des Bundeswirtschaftsministers jedenfalls nicht besänftigen. Denn das Klima
       und der Tourismus werden auch ein paar Kilometer weiter unter dem Terminal
       leiden.
       
       23 Mar 2023
       
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