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       # taz.de -- Lamberty und Nocun über Esoterik: „Antisemitismus wird ignoriert“
       
       > Esoterik verspricht oft einfache Lösungen. Pia Lamberty und Katharina
       > Nocun sehen in ihr eine Gefahr nicht nur bei Krankheiten, sondern auch
       > für unsere Demokratie.
       
   IMG Bild: Schamanismus, Horoskope, Wunderheiler, Globuli: Das Feld der Esoterik ist breit
       
       taz: Horoskope, [1][Globuli] und Wunderheiler: Alles Elemente aus der
       Esoterik. Lässt sich bei dieser Vielfalt überhaupt eine gemeinsame
       Definition für Esoterik finden, Frau Lamberty, Frau Nocun? 
       
       Pia Lamberty: Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Die meisten haben
       bei Esoterik direkt Assoziationen im Kopf, doch eine Definition fällt
       schwer. Im Wortsinn geht es um „Geheimlehre“. Also ein Wissen, das nicht
       allen Menschen zugänglich ist, sondern nur Erleuchteten. Um einer
       Definition näherzukommen, haben wir Kernelemente definiert.
       
       Und was sind das für Elemente? 
       
       Pia Lamberty: Wichtig ist „Magisches Denken“, also der Glaube an
       übernatürliche Kräfte von Hexen, eine heilende Kraft von Edelsteinen, aber
       auch Homöopathie fällt darunter. Also, dass etwas, das gar nicht vorhanden
       ist, Wirkung erzeugen kann. Hinzu kommt der Fokus auf das Selbst. Viele
       esoterische Praktiken suggerieren, man sei für sein eigenes Glück
       verantwortlich, äußere Faktoren würden das kaum beeinflussen. Deswegen
       spielt Selbstoptimierung eine große Rolle. Ein weiterer Aspekt ist eine
       höhere Ordnung, die besagt, dass, wer Gutes tut, auch Gutes erhält und
       umgekehrt. Diese Karma-Idee führt leider auch zu Aussagen wie der, dass
       Menschen, die krebskrank sind, selbst schuld daran seien.
       
       Werden kranke Menschen besonders von Esoterik angesprochen? 
       
       Katharina Nocun: Esoterik kann einem die Illusion geben, dass man
       vollständige Kontrolle über das eigene Leben ausüben und Krisen magisch
       lösen kann. Für viele ist das der letzte Strohhalm bei Krankheiten,
       psychologischen Krisen oder nach dem Verlust von Angehörigen. Über ein
       Medium soll man dann beispielsweise mit Toten in Kontakt bleiben. Die
       Versprechen der Problemlösungen in der Esoterik sind grenzenlos.
       
       Pia Lamberty: Am Anfang liest man vielleicht aus Gag sein Horoskop, aber in
       einer Krise kann Esoterik plötzlich handlungsleitend werden. Das sieht man
       häufig bei Menschen, die eine schlimme Krankheitsdiagnose bekommen und dann
       zum Heiler gehen. In der Esoterik wird bewusst mit dem Leid von Menschen
       Kasse gemacht.
       
       Bei Instagram begegnet man immer mehr Menschen, die ihren Stress auf den
       rückläufigen Merkur schieben oder künftige Partner*innen nach ihrem
       Aszendenten aussuchen. Nimmt Esoterik durch soziale Medien zu? 
       
       Katharina Nocun: Früher stand das Horoskop in der Bravo Girl, heute seht es
       bei Instagram. Ob es wirklich mehr wird, lässt sich nicht sagen. Aber klar
       ist, dass Esoteriker alle Kanäle nutzen. Es gibt verstärkende Elemente, wie
       den Empfehlungsalgorithmus von Tiktok, wodurch man schnell in sich selbst
       bestätigende Bubbles rutschen kann. Bei Tiktok heißt es etwa in Videos,
       dass, wenn man einen bestimmten Ton 50-mal abspielt, ein Wunsch in
       Erfüllung geht. Jugendliche glauben, dass sie auf diese Art Gedanken
       „manifestieren“ können, was eigentlich nur ein anderes Wort für zaubern
       ist.
       
       Viele machen sich über solche Praktiken und Trends lustig. Wird so
       verharmlost, was in der esoterischen Welt vor sich geht? 
       
       Pia Lamberty: Es gibt Menschen, die glauben, dass es eine Form der
       politischen Auseinandersetzung ist, wenn man sich über etwas lustig macht.
       Humor kann zwar eine Form der Auseinandersetzung sein, aber sie darf
       natürlich nicht da stehen bleiben.
       
       Katharina Nocun: Im Rahmen der Recherche habe ich mir online einen
       Gebärmutterreinigungskurs von einer selbsternannten sibirischen Schamanin
       angeschaut. Da geht man natürlich mit einer skeptischen Grundhaltung rein.
       Ich sollte in meine Gebärmutter reinhorchen, hab natürlich nichts gehört.
       Doch dann bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Den Teilnehmerinnen wird
       erzählt, dass sich durch den Sex in vergangenen Partnerschaften negative
       Energien in der Gebärmutter angereichert haben und dass dies ihr Glück
       behindere. Die Lösung: ein mehrteiliger, kostspieliger Workshop. Diese
       Gebärmutterreinigung soll dann auch bei unerfülltem Kinderwunsch oder Krebs
       helfen. Andere Frauen, die vielleicht zeitgleich vor dem Rechner saßen,
       haben da womöglich fleißig mitgeschrieben. Das war gruselig.
       
       Eine Gefahr sehen Sie nicht nur bei unbehandelten Krankheiten, sondern auch
       für unsere Demokratie. Wieso? 
       
       Pia Lamberty: Schon immer steckte in esoterischen Welten auch völkisches
       Gedankengut. Die dort weitverbreitete Fortschrittsfeindlichkeit und
       Antimoderne ist häufig ein Einfallstor für Antisemitismus. Teilweise geht
       das so weit, dass Juden und Jüdinnen die Schuld an der Shoah gegeben wird.
       Ein Problem ist, dass Esoterik sich als apolitisch versteht und die
       Menschenverachtung so von vielen übersehen wird.
       
       Katharina Nocun: Natürlich ist nicht jede Form von Esoterik automatisch
       faschistisch. Aber im Bereich Gesundheit haben Esoteriker und
       Rechtsextreme teils ähnliche Feindbilder. Wie bei Verschwörungserzählungen
       zum Thema Impfen, wo manchmal von der „verjudeten Schulmedizin“ die Rede
       ist. Ein Extrembeispiel ist die „Germanische Neue Medizin“ nach Ryke Geerd
       Hamer. Der behauptete, dass Krebs auf Ungleichgewichte oder
       Schockerlebnisse im Leben zurückzuführen ist. Statt Strahlentherapie, Chemo
       oder OPs schlug er Gesprächstherapie oder ein Lied als Behandlung vor.
       
       Dass Menschen, die seiner pseudomedizinischen Lehre folgten, gestorben
       sind, ist bekannt. Wieso glauben Menschen trotz allem daran? 
       
       Pia Lamberty: Eine Krebsdiagnose ist furchtbar. Und der Ansatz von Hamer
       bietet die Möglichkeit zu glauben, dass das eigentlich alles gar nicht so
       schlimm ist, sondern nur ein verdrängter Konflikt, weil man als Kind vom
       Boot gefallen ist oder Ähnliches. In diese Hoffnung fliehen sich die
       Menschen. Der Antisemitismus, den es in seiner Ideologie gibt, wird dann
       einfach ignoriert oder findet sogar Zustimmung.
       
       Katharina Nocun: Angehörige der Opfer von Hamer sagten, dass er als
       charismatischer Führer wahrgenommen wurde. Und er befeuerte das Narrativ
       von der bösen Medizin und der guten Esoterik. Da wird etwa von gierigen
       Pharmaunternehmen gesprochen, wenn aber Esoteriker Umsätze in Millionenhöhe
       machen, wird das gerne ausgeblendet. Dass Esoteriker natürlich auch ihre
       Markenrechte patentieren lassen und diese auch vor Gericht durchsetzen,
       wird einfach ignoriert.
       
       Für Fachärzt*innen und Psychotherapie gibt es lange Wartezeiten. Werden
       esoterische Angebote aus Alternativlosigkeit angenommen? 
       
       Pia Lamberty: Empirisch sieht es so aus: Menschen gehen nicht aus
       Frustration zum Heilpraktiker, sondern eher aus ideologischen Gründen. Aber
       klar gibt es die Situation, dass es zu wenig Psychotherapieangebote gibt,
       und dann greifen Menschen auf Heilpraktiker zurück. Um Psychotherapie
       anbieten zu können, müssen diese allerdings nur einen „kleinen
       Heilpraktiker“ machen, was einer mündlichen Prüfung mit
       28-Multiple-Choice-Fragen entspricht. Fatal, wie da vom Gesetzgeber die
       Psyche von Menschen behandelt wird.
       
       Katharina Nocun: Vielen ist nicht klar, wie unreguliert der Markt für
       Heilpraktiker ist. Es ist gefährlich, wenn Esoterik sich mit dem Label
       „Alternativmedizin“ versucht, als gleichwertige Alternative zur
       evidenzbasierten Medizin zu etablieren. Eine ähnliche Mogelpackung ist die
       „Ganzheitlichkeit“. Jeder projiziert da etwas anderes drauf. Niemand würde
       sagen, er wünsche sich keine ganzheitliche Medizin. Viele Menschen könnten
       bei einer Krebsdiagnose neben einer onkologischen Behandlung auch von einer
       psychotherapeutischen Begleitung profitieren. Aber da braucht es keinen
       Heiler oder Guru, sondern ausgebildete Psychologen.
       
       Wenn die taz [2][kritisch über Homöopathie und Anthroposophie] berichtet,
       gibt es böse Leserbriefe. Viele, die schon tief in der esoterischen Welt
       verwurzelt sind, scheinen mit Fakten nicht mehr erreichbar. Kann man mit
       Ihrem Buch dann überhaupt die Richtigen erreichen? 
       
       Pia Lamberty: Ich freue mich über jede Person, die sich in diesem Milieu
       bewegt und das Buch liest. Letztendlich ist es wie immer: Wenn jemand ein
       sehr geschlossenes Weltbild hat, ist es schwer, die Menschen über Fakten zu
       erreichen. Die Sektenberatungsstelle in NRW, mit der wir auch gesprochen
       haben, kann in solchen Momenten ein Ansprechpartner sein. Am besten
       funktioniert ein Eingreifen im Privaten mit professioneller Unterstützung.
       Generell ist mein Eindruck, dass Fakten immer weniger zählen.
       Selbstverständlich ist vieles diskutabel, aber bestimmte Dinge sind Fakten.
       Wie: Homöopathie wirkt nicht über einen Placeboeffekt hinaus. Punkt.
       
       Katharina Nocun: Natürlich fühlt man sich angegriffen, wenn jemand einem
       sagt: Hör mal, hier gibt es Studien, die zeigen, dass das, worauf du all
       die Jahre gesetzt hast, keine wissenschaftliche Grundlage hat. Menschen
       fühlen sich extrem angegriffen, wenn man auch nur andeutet, dass ein
       Placeboeffekt bei ihnen gewirkt haben könnte. Sie fühlen sich in ihrem
       Schmerz nicht ernst genommen. Da muss sich für mich auch in der
       gesellschaftlichen Diskussion etwas ändern, damit der Placeboeffekt nicht
       mehr als etwas Schambesetztes empfunden wird. Doch gleichzeitig war
       Homöopathie vor 50 Jahren lange nicht so verbreitet wie heute.
       Kritiker*innen von Homöopathie werden teils unter Druck gesetzt, teils
       sogar juristisch eingeschüchtert.
       
       Haben Sie dafür ein Beispiel? 
       
       Katharina Nocun: Die Ärztin Natalie Grams-Nobmann sollte eine
       Unterlassungserklärung abgeben für den Satz, dass Homöopathie nicht über
       den Placeboeffekt hinaus wirkt. Sie hat sich geweigert. Es gibt eine
       finanziell starke Homöopathie-Lobby, die weiter ihre Produkte verkaufen
       möchte. Doch eine emanzipatorische Gesellschaft muss sich klarmachen, dass
       von wissenschaftsfeindlichen Haltungen auch immer Risiken ausgehen – nicht
       nur in Bezug auf die Gesundheit.
       
       18 Oct 2022
       
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