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       # taz.de -- Landesamt für Einwanderung: Die Termin-Lotterie
       
       > Das Berliner Landesamt für Einwanderung ist komplett überfordert. Viele
       > Geflüchtete stehen vor dem Nichts, weil sie keinen Termin bekommen.
       
   IMG Bild: Für viele Geflüchtete ist diese Art der Terminvergabe schlichtweg eine Katastrophe
       
       Berlin taz | Seit ein paar Tagen ist Drar Habtom* wieder arbeitslos. Sein
       Arbeitgeber, ein Dienstleister der Deutschen Bahn, hatte keine andere Wahl,
       als den Eritreer zu kündigen – obwohl das Unternehmen Reinigungskräfte wie
       ihn dringend braucht. Denn Habtom hat keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr
       für Deutschland.
       
       Schon Wochen bevor seine befristete Aufenthaltserlaubnis ablief, hatte der
       Mann versucht, einen Termin beim [1][Landesamt für Einwanderung (LEA)] zu
       buchen, um die Genehmigung zu verlängern. Nach unzähligen Versuchen war er
       froh, für Anfang September einen Termin bekommen zu haben. Bis die Behörde
       per Mail wieder absagte.
       
       Wann immer Drar Habtom auf der LEA-Website seither seine Daten eingibt, um
       einen neuen Termin zu buchen, erhält er die Antwort: „Diese Terminart ist
       derzeit nicht verfügbar.“ Seit Wochen geht das so. Der Mann ist ratlos. Und
       er ist kein Einzelfall.
       
       Seit mindestens zwei Jahren haben zugewanderte Menschen Probleme, dringend
       benötigte Termine beim LEA zu bekommen. Bis Anfang 2023 gelang es immerhin
       noch, einen Termin zu buchen, der Monate in der Zukunft lag. Diese Buchung
       sollte man ausdrucken. Damit galt das Aufenthaltsrecht erst einmal weiter
       bis zu diesem Termin. Arbeitsverträge, Sprachkurse, Mietverträge konnten so
       verlängert werden, Arbeitslosengeld wurde weiter gezahlt. Inzwischen
       funktioniert das immer seltener.
       
       ## Kein Einlass, keine Sozialleistungen
       
       Die frühere Berliner Linken-Abgeordnete Karin Hopfmann, die heute
       ehrenamtlich Flüchtlinge betreut, berichtet von einem weiteren Betroffenen:
       Der Asylsuchende aus Russland hatte ein Praktikum absolviert. Sein Betrieb
       wollte ihn anschließend als Monteur für Photovoltaikanlagen beschäftigen.
       Im Juni lief sein Aufenthaltsrecht ab, einen Termin beim Amt gab es nicht –
       und der Job war weg.
       
       Da ihm seither auch der Einlass im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten
       verwehrt bleibt, kann er aber auch keine Sozialleistungen mehr beziehen. Um
       sich etwas zu essen zu kaufen, musste er sich verschulden. Erst im August
       gelang es Karin Hopfmann, für Mitte September einen Vorsprachetermin für
       den Mann zu buchen. Sie kämpft jetzt darum, dass er die entgangenen
       Sozialleistungen nachgezahlt bekommt.
       
       Im „Wochenrhythmus“ wendeten sich Menschen an sein Büro, die Probleme mit
       dem LEA haben, sagt Jian Omar der taz. Der migrationspolitische Sprecher
       der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus berichtet von einer Israelin, die
       visafrei nach Deutschland einreisen durfte und hier heiratete. Nach drei
       Monaten Visafreiheit benötigte sie jedoch ein Aufenthaltsrecht im Rahmen
       des Familiennachzuges, das ihr gesetzlich auch zusteht.
       
       Sie gehört sogar zu den Glücklichen, die einen Termin buchen konnten – für
       den kommenden Januar. Doch das nutzt ihr wenig. Zwar ist sie bis dahin vor
       einer Abschiebung sicher. Allerdings kann sie keine Arbeit aufnehmen, kein
       Konto eröffnen. Schlimmer noch: Sie hätte für eine dringende
       Familienangelegenheit nach Israel fliegen müssen. Doch ohne
       Aufenthaltsrecht war eine legale Ausreise ebenso wenig möglich wie eine
       spätere Wiedereinreise. Omar sagt: „Es ist historisch gesehen ein Unding,
       dass eine Jüdin nicht aus Deutschland ausreisen darf.“
       
       ## Grüne fordern mehr Personal
       
       Der Grüne sieht nur eine Lösung: Das Einwanderungsamt muss sein Personal
       stark aufstocken. „Ich habe zu Beginn der Legislatur dort hospitiert“, sagt
       Omar. „Die MitarbeiterInnen arbeiten engagiert, und die vorhandenen Stellen
       sind besetzt. Aber es gibt einfach zu wenige Stellen.“ Berlin brauche und
       erlebe Zuwanderung, dem müsse sich die Stadt stellen.
       
       Zudem fordert Omar Änderungen bei der elektronischen Terminvergabe. Viele
       würden zunächst Termine buchen, die angeboten werden, aber recht spät
       liegen. Finden sie dann überraschend doch noch einen früheren Termin, sagen
       sie den langfristig gebuchten nicht ab, und dieser verfalle. „Mir liegen
       sogar gesicherte Erkenntnisse vor, dass Termine inzwischen auf dem
       Schwarzmarkt verkauft werden. Das ist nicht hinnehmbar“, so Omar.
       
       Eine Sprecherin der Senatsinnenverwaltung räumt auf taz-Nachfrage ein, dass
       freigeschaltete Termine in kürzester Zeit ausgebucht seien. Ursache sei
       „ein stetiger und in den beiden letzten Jahren sprunghafter Anstieg von
       Flucht und Migration nach Berlin“.
       
       Im Jahr 2022 seien 50 Prozent mehr Aufenthaltstitel und Bescheinigungen
       ausgestellt worden als noch 2019. Eine Lösung sieht die Innenverwaltung in
       einer erheblichen personellen Verstärkung der Behörde. Auf eine
       parlamentarische Anfrage der Linksfraktion hatte das Haus von Senatorin
       Iris Spranger (SPD) erklärt, in Notfällen wie einem drohenden Verlust des
       Arbeitsplatzes sei es auch möglich, auf anderen Wegen Termine zu buchen.
       
       FlüchtlingsberaterInnen berichten der taz, dass es bis vor wenigen Monaten
       noch möglich war, in nachgewiesenen Notfällen ohne Termin zur Behörde zu
       kommen. Laut Karin Hopfmann funktioniert das nicht mehr.
       
       ## Petition ans Abgeordnetenhaus
       
       Hopfmann hat sich darum in einer Petition an das Abgeordnetenhaus gewandt.
       Darin beschreibt sie auch, wie sie mit ihrem Klienten aus Russland im Juli
       erfolglos versuchte, ohne Termin in die Behörde zu gelangen. Sie machte
       beim Sicherheitsdienst geltend, dass es sich um einen Notfall handele. „Es
       standen Dutzende Menschen dort, denen es ebenso ging“, so Hopfmann. „Aber
       der Sicherheitsdienst hat uns ohne Prüfung des Einzelfalls fortgeschickt.“
       
       Wäre sie nicht gegangen, hätte ihr und ihrem Klienten Platzverweis und
       Polizei gedroht, davon ist Hopfmann überzeugt. In ihrer Petition spricht
       Hopfmann von einer „Terminglücksspiellotterie“ mit Folgen, wo es um „Not
       oder Brot“ ginge.
       
       Jian Omar verweist darauf, dass das Problem im kommenden Jahr noch größer
       werde, wenn nicht sofort gehandelt wird. So hätten sich etliche
       LEA-MitarbeiterInnen beim neuen Landesamt für Einbürgerung beworben, das ab
       Januar entstehen soll. Neue MitarbeiterInnen müssten jedoch erst in die
       juristische Materie eingearbeitet werden.
       
       Und nicht zuletzt laufe Anfang März 2024 für die meisten [2][ukrainischen
       Flüchtlinge] die Aufenthaltserlaubnis ab. Wenn der Krieg bis dahin nicht
       beendet ist, wofür wenig spricht, wird das LEA dann mit einer riesigen Zahl
       neuer AntragstellerInnen auf die Verlängerung des Aufenthaltstitels zu tun
       haben.
       
       *Name geändert
       
       29 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Antidiskriminierung-bei-Behoerden/!5950767
   DIR [2] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Deutschland/!5955701
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Mai
       
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