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       # taz.de -- „Landsfrau“ im Berliner Ringtheater: Die Erwartungen, die auf ihr lasten
       
       > In „Landsfrau“ untersucht Mariann Yar westliche Blicke auf Afghanistan.
       > Die Performance-Collage des Ringtheaters wagt sich in unsicheres Terrain
       > vor.
       
   IMG Bild: Mariann Yars Performance weist autobiografische Elemente auf
       
       Am Anfang werden Matratzen aufgepumpt. Eine Frau in Folkloretracht betätigt
       eine großkalibrige Pumpe. Die wirkt wie eine Zimmerkanone, entlässt aber
       nicht schnell fliegendes Blei aus dem Rohr, sondern nur Luft. Die so
       gefüllten Matratzen könnten bequeme Liegeflächen sein. Massenhaft
       angeordnet wirken sie jedoch wie ein Notlager, übereinandergestapelt gar
       wie Särge. Lehnt man zwei von ihnen nebeneinander aufrecht an die Wand,
       ergibt sich wegen der hellen, an vergilbtes Papier erinnernden Farbe das
       Bild eines aufgeschlagenen Buchs.
       
       Vor dieses große Buch stellt sich Mariann Yar und zitiert Theodor Fontane.
       Die Episode verweist auf den Deutschunterricht, den Yar, 1993 als Tochter
       afghanischer Eltern in Budapest geboren, in Deutschland aufgewachsen und an
       der UdK in Berlin zur Schauspielerin ausgebildet, als Kind offenbar erlebt
       hatte.
       
       Yar schildert in dieser Szenenfolge, wie Lehrerinnen und Lehrer sie immer
       wieder nach Einschätzungen der [1][Situation in Afghanistan] befragten, wie
       sie mit dem Vorwurf, eine potentielle Terroristin zu sein, konfrontiert
       wurde und ihr unter die Nase gerieben wurde, vielleicht eine Tochter bin
       Ladens zu sein.
       
       In ihrer mit autobiografischen Elementen versehenen Performance erzählt Yar
       auch, wie sie sich solchen Situationen entzog. Sie stellte sich krank, bat
       ihre Eltern, zu Hause bleiben zu dürfen und erfand sogar ganz neuartige
       christliche Feiertage wie etwa Christi Grünkohlfahrt als Grund für den
       Unterrichtsausfall.
       
       Wahrnehmung des 11. Septembers 
       
       Yar zeigt in „Landsfrau“ nicht nur die Blicke, die sie auf sich zog. Sie
       schildert auch, wie unterschiedlich etwa sie und ihr Vater die Anschläge
       des 11. September 2001 wahrnahmen: Ihr Vater wie versteinert vor den
       Fernsehbildern sitzend, während sie als Achtjährige begeistert war von den
       Musikvideos auf MTV. Gemeinsames Sitzen vor den Fernsehbildern ereignete
       sich dann 20 Jahre später, bei der Übernahme Kabuls durch die Taliban. Und
       wieder musste Yar als vermeintliche Expertin herhalten für das, was dort
       geschah.
       
       Nun ja, Deutsche kennen dies auch, wenn sie zu ihrem Verhältnis oder dem
       ihrer Vorfahren zu Hitler befragt werden. Ostdeutsche erst recht, wenn es
       um die Stasi geht und die Frage, wie man „in so einem Staat“ überhaupt
       hatte leben können. Nicht zu vergessen Menschen aus Russland, die ohne eine
       Klärung ihrer Sichtweise auf Putin kaum noch als diskurswürdig gelten.
       Stellvertreter für die Herkunftsnation sein zu müssen ist toxisch.
       
       Yar gräbt sich in der Suche nach einem Ausweg tiefer ins Afghanischsein
       ein, lernt extra das Spiel mit dem traditionellen Instrument Harmonium und
       singt afghanische Lieder. „Wir sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern
       auch Dichter und Tänzer“, sagt sie.
       
       Situation weiblicher Verwandter 
       
       Am Ende versucht sie, dem sich bedenklich neigenden Turm aus aufgestapelten
       Matratzen standzuhalten. Es ist ein Bild für die Erwartungen, auch die an
       sich selbst, die auf ihr lasten – gerade als in Europa lebender Tochter
       einer afghanischen Familie, [2][deren noch im Lande befindlichen weiblichen
       Verwandten jetzt gar nicht mehr singen und tanzen, studieren und arbeiten
       dürfen].
       
       „Landsfrau“ erkundet auf sehr feinfühlige, aber auch von Wut und
       Verzweiflung befeuerte Art die Dilemmata, in denen Menschen stecken, die
       von den Herkunftsländern ihrer Familie nicht losgelassen werden. Am Ende
       schaut Mariann Yar erschöpft, aber auch etwas trotzig ins Publikum. Beim
       Applaus ist man für Momente unsicher, ob man nur Publikum ist oder im Blick
       der Künstlerin nicht doch mit dem Bild derer verschwimmt, die sie einst zur
       Afghanistanexpertin machten oder sie gar nach versteckten Terrormerkmalen
       absuchten. „Landsfrau“ wagt sich in unsicheres Terrain vor, genau das also,
       was Kunst sich trauen sollte. Und die noch recht junge Institution
       Ringtheater etabliert sich als spannender Berliner Theaterort.
       
       24 Aug 2023
       
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