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       # taz.de -- Lebensbilanz von Dimitri Hegemann: Der Powerfinisher
       
       > Dimitri Hegemann ist eine Legende des Berliner Nachtlebens. Seine Clubs
       > gehören zum Inventar der Stadt. Nun fordert er: Gebt der Jugend ihren
       > Raum.
       
   IMG Bild: Kulturmanager Dimitri Hegemann
       
       Powerfinisher, so hieß eine wandgroße automatische Schuhputzmaschine, die
       Dimitri Hegemann in einem ehemaligen Schuhgeschäft vorfand, das er 1984
       in der Wrangelstraße in Kreuzberg 36 bezog. Für 100 Mark Monatsmiete.
       
       Das Ungetüm blieb erst mal stehen, und drumherum entstand im
       Do-it-yourself-Geist jener Jahre das „Fischbüro“, eine Art öffentliches
       Wohnzimmer inklusive Debattierclub, das den Bedürfnissen einer Zeit
       entsprach, in der Redebedarf und Kuschelfaktor auf Sofas nach den manchmal
       sprachlos machenden Sturm-und-Drang-Jahren von Punk und Genialen
       Dilletanten in der harschen Frontstadt Westberlin wieder höher wurden.
       
       Dank Fischbüro gab es damals Standup-Comedy von Käthe B und Vorträge am
       Pult, wöchentliche „Krisensitzungen“ und „Fortbildungskurse“, zu denen alle
       beitragen konnten, die zufällig anwesend waren. Sogar Timothy Leary und
       Robert Anton Wilson schauten vorbei. Hegemann wohnte in jener Zeit für 90
       D-Mark Monatsmiete mit Außenklo in der Gneisenaustraße.
       
       „Diese Zeiten sind lange vorbei, Berlin ist unbezahlbar geworden. Das
       Potenzial von Nachtleben ging meistbietend an irgendwelche Entwickler“,
       sagt Hegemann heute selbstkritisch. Aktuell werden um die Ecke vom
       ehemaligen Fischbüro im Wrangelkiez für möblierte Dreizimmerwohnungen 2.800
       Euro Monatsmiete abgerufen. Armut gab es hier schon in den 1980ern, so
       krass wie gegenwärtig, wo neben den gutbetuchten Neuen viele Gestrandete
       aus aller Welt auf den Straßen sind, klaffte die Schere aber noch nie
       auseinander.
       
       Dimitri Hegemann hat viele Menschen in Berlin scheitern sehen. Er hat
       überlebt. Obwohl er selbst auch manches Mal auf die Schnauze gefallen ist,
       zieht er nun, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag, positive Bilanz und
       nimmt dabei allmählich Abschied vom Nachtleben, dem er erst mit dem
       Fischbüro, dann mit dem Ufo und später mit dem Tresor legendäre Orte
       beschert hat. Ohne ihn wäre diese Stadt um vieles ärmer.
       
       Hegemann gilt manchen Kolleg:innen in der taz inzwischen als
       Kommerzschwein, mit dem man gar nicht mehr spricht. Es wird sogar
       behauptet, sein Laden, der Technoclub Tresor in der Köpenickerstraße, sei
       nur an Geld interessiert. 22 Euro Eintritt für eine Nacht, das klingt nur
       für jene happig, die die dreistelligen Eintrittspreise für zweistündige
       Mainstream-Popkonzerte ausblenden.
       
       ## Die Achse Berlin – Detroit
       
       Oder den Umstand, dass Hegemann 124 Angestellte im Tresor bezahlt. „Du
       brauchst die internationale Szene, die es nur in Berlin gibt. Das macht den
       Unterschied und schafft einen anderen Geist, jeder bringt von außen eigene
       Ideen mit.“ [1][Die Achse Berlin–Detroit, die Hegemann mit dem Club und dem
       Technolabel Tresor in den frühen 1990ern begründet hat, ist inzwischen ein
       Selbstläufer.]
       
       Schon als er 1978 aus Nordrhein-Westfalen nach Westberlin kam und in der
       New-Wave-Band Leningrad Sandwich spielte, mit britischen Musiker:innen,
       die er an einem Armeestützpunkt aufgegabelt hatte, war in ihm
       Selbstverwirklichungsdrang. In Berlin fand er „ein Sammelbecken aus
       verrutschter Intelligenz. Viele, die bereits im Westen Veränderungen
       anschieben wollten. Wir hörten nur: Nein, geht nicht!“ Anfang der 1980er
       assistierte er beim Punkmogul Karl Ulrich Walterbach und organisierte die
       ersten Tourneen von US-Hardcorebands wie [2][Dead Kennedys]. Seit damals
       hat er nie aufgehört, im Umfeld von Musik Ideen zu entwickeln.
       
       Wobei nicht immer alles zu Ende gedacht ist. Im Tresor will er nun eine
       Ärztin in Bereitschaft engagieren. „Nachtarbeit ist Ausnahmezustand, der
       etwas mit den Leuten macht. Es geht um Mental Health.“ Eine Betriebsärztin?
       „Nein, der Job bei uns ist cooler, sie sammelt zwischendurch Leergut.“
       Getreu seiner katholischen Herkunft wollte Hegemann auch schon
       Franziskanermönche als Security an die Tür postieren. „Die Inspiration kam
       durch den Film ‚Christmas in Black‘. Allianz ist ein Gedanke, der auch beim
       heiligen Franziskus vorkommt. Schon allein, weil Mönche imposant aussehen
       mit ihren Kutten und allen Menschen gleichermaßen zugewandt sind.“
       
       ## Nachtleben ist wichtig für Demokratie
       
       Erfolgreich hat er inzwischen im Tresor eine [3][„Academy for Subcultural
       Understanding“] ins Leben gerufen. Per Crashkurs wird jeweils sechs jungen
       Leuten das Einmaleins des Clubbetreibens vermittelt. „Die werden das, was
       sie hier lernen, zu Hause anwenden. In Erfurt oder Bremerhaven etwas auf
       die Beine zu stellen ist doch wichtig. Nachtleben stärkt die Demokratie.“
       Hegemann ist Idealist, Dampfplauderer und Steher, ein wandelnder
       Widerspruch, der viele Sachen angestoßen hat, aber andere in den Sand
       setzte.
       
       Nahe seinem Geburtsort Werl hat er in Dortmund 2018 den Tresor West
       eröffnet, auf dem ehemaligen Fabrikgelände Phönixhallen. Zunächst
       verhinderte die Coronapandemie, dass sich der Club in der Stadt etablieren
       konnte, zudem kam Hegemann gegen die Sperrstundenregelung in Dortmund nicht
       an. „Da hatte ich einen Denkfehler gemacht. Den Tresor kannste nicht
       übertragen wie eine Pommesbude. Seine Seele liegt in Berlin. [4][Seit dem
       Mauerfall bosseln wir an Techno rum und wissen inzwischen, wie
       elektronische Musik geht.] Dieses Narrativ fehlt in Dortmund. Dort ist nur
       Tiktok erfolgreich. Die treffen sich und starren den ganzen Abend ins
       Handy. In Berlin werden Handys an der Clubkasse noch abgeklebt.“
       
       ## Hartes Pflaster Detroit
       
       Auch in Detroit ist Hegemann mit seiner Vision, aus einem Gebäude der
       Packard-Autofabrik eine Art zweiten Holzmarkt zu gestalten, an die Grenzen
       gelangt. Der spanische Investor verschwand irgendwann spurlos. „Bei mir
       zählt noch der Handschlag. Wie ich da abgezogen wurde, war eine neue
       Erfahrung für mich. Ich musste kapieren, Ami zu sein ist ein himmelweiter
       Unterschied zum behüteten Europa. Dennoch, die Detroiter haben Berlin viel
       gegeben. Ihre Musik hat uns 1989 gerettet und Berlin für immer verändert.“
       
       Seit 2023 ist nun doch mit Hilfe von Hegemann eine „Underground Music
       Academy“ in Detroit tätig, in einem mit Eigeninitiative renovierten Haus
       werden [5][unter Leitung von Houseproduzent Waajeed] Fortbildungskurse für
       den Nachwuchs veranstaltet. Die Sache ist gut angelaufen.
       
       Unter dem Tresor in der Köpenickerstraße hat seit Kurzem auch die
       Plattenladen-Institution Hardwax Unterschlupf, die aus ihren alten Räumen
       am Landwehrkanal verdrängt wurde. Und dieses Wochenende läuft [6][im Tresor
       das Festival „Berlin Atonal“], einst von Hegemann gegründet, um den
       Genialen Dilletanten eine gemeinsame Bühne zu bieten. Unter neuer Leitung
       ist es zum Fixpunkt im Veranstaltungskalender zwischen Techno,
       Performancekunst und Industrial Music geworden.
       
       Mit dem Programm hat Dimitri Hegemann nichts mehr zu tun. Er wirkt müde,
       ärgert sich, dass ihn inzwischen auf dem Fahrrad viele überholen. Bei
       seiner Abschiedsbotschaft an die Jugend bleibt er ganz Powerfinisher: „Es
       gibt Leerstand, Leute, die Ideen haben, und die Entscheidungsträger in
       eurer Stadt. Denen geht es besser, wenn die Jugend zufriedener ist. Gebt
       der Jugend ihren Raum! Go for it. Ihr werdet auf die Nase fallen, egal.
       Ohne euch passiert gar nix.“
       
       23 Aug 2024
       
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