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       # taz.de -- Legendäres Rolling-Stones-Album: Steuerflucht an die Côte d'Azur
       
       > Zu Beginn der 70er Jahre waren die Rolling Stones am Ende. Dann
       > produzierten sie das Album "Exile on Main St.". Fast 40 Jahre nach
       > Erscheinen gilt es als beste Rockplatte.
       
   IMG Bild: Heraus aus der Krise: Mick Jagger und Bill Wyman bei Konzert in New Yorks Madison Square Garden 1972.
       
       Inzwischen scheint ja ein jeder Pizzabote, der einmal an der Villa Nellcôte
       in Villefranche geklingelt hat, ein Enthüllungsbuch über "seine Erlebnisse"
       mit den Rolling Stones im selbstgewählten Steuerexil an der Côte dAzur
       veröffentlicht zu haben: Mann, da ging so was von die Post ab, Drogen,
       laute Musik, Weiber, eine sonnenflirrende Party vom Mai 1971 bis in die
       Puppen des ausgehenden Jahres, und mittendrin nahmen die Stones eine Platte
       auf, da wäre man gern dabei gewesen, hätte man was davon gewusst, aber wir
       waren ja erst 16 und saßen ein wenig verdattert um einen mit Resopal
       bezogenen Küchentisch in einem kleinen Knusperknäuschen in Niederbayern:
       "Exile on Main St." lag vor uns, die neue Stones-LP, das komische
       Robert-Frank-Cover mit den Kontaktabzügen, die Schrift so ein Gekrakel. Und
       vor allem: keine Hits.
       
       Einer von uns hatte sein Schüler-Bafög geopfert, um die Zusammenkünfte an
       der Billigst-Stereo-Dröhnmaschine mit einem neuen "Satisfaction" zu
       bereichern, und nun das hier. Jagger war irgendwie gar nicht zu hören, dann
       Bläser, so ne Scheiße, viel Geklimper mit der rechten Hand,
       Backgroundsängerinnen, die Geißel der 70er, Country, Dschungelgetrommel,
       nein, das hatten wir uns definitiv anders vorgestellt, mehr so wie "Brown
       Sugar", wo man gleich mitdengeln kann und die Luftgitarre rausholen, aber
       wem erzähle ich das? Andererseits gibt man so ein Taschengelddesaster nicht
       so gern zu, "Tumblin Dice", da würde man sich vielleicht dran gewöhnen,
       aber sonst? Katzenmusik. Was sang der da? "I only get my rocks off while Im
       dreaming"?
       
       Mann, unsere Felsen gingen ab, wenn der Quelle-Katalog versehentlich oder
       absichtlich an der Unterwäsche-Seite offen rumlag. Jagger hatte vielleicht
       Probleme - die Probleme eines dreißigjährigen Dandys, aber keinesfalls die
       Probleme eines pickligen Biertrinkers aus der deutschen Provinz, den die
       Mädchen nicht einmal mit der Grillzange anfassen würden. Wie auch immer,
       die Stones waren erst mal durch; ein paar Monate später habe ich meinem
       Freund die Platte trotzdem abgetauscht gegen was weiß ich, weil mich
       irgendwas an dieser Sorte Stones faszinierte, trotz aller Mängel aus
       Pubertierenden-Sicht.
       
       Ein paar Jahre später wurde mir schließlich klar, dass dies hier die
       ultimative Rockplatte ist, Schluss, aus, vielleicht weil der Quelle-Katalog
       nicht mehr so aufreizend wirkte wie einst: Die CD-Version wurde
       nachgekauft, Texte über die Platte geschrieben, schließlich erscheint heute
       eine aufgebrezelte Fassung für das 21. Jahrhundert mit zehn Bonus-Tracks
       und die Super Deluxe Edition mit goldener Badewanne und darin liegendem
       Buch samt DVD, und bei den Filmfestspielen von Cannes wird das Teil auch
       gezeigt. Nicht die Badewanne, der Film. Zur besten Rockplatte aller Zeiten.
       Wie gesagt.
       
       In dem Film erzählt Bobby Keys, der Saxofonist auf "Exile on Main St.":
       "Ja, verdammt, da wurden ein paar Joints gedreht und Whiskeyflaschen
       standen da und die Mädels hatten wenig an, es ging schließlich um Rock n
       Roll". Doch der Chef, inzwischen auf einem etwas bräsig wirkenden
       Elder-Statesman-Trip, ist durchaus anderer Wahrnehmung: "Alles musste ich
       selbst erledigen; der Produzent Jimmy Miller hatte nichts mehr im Griff und
       ansonsten lagen da nur Betrunkene oder Junkies herum."
       
       Dabei dürfte "Exile on Main St." die einzige Stones-Platte sein, bei der
       Jagger nicht voll und ganz das Sagen hatte. Zu Beginn der 1970er-Jahre war
       die Band eigentlich am Ende, fertig, trotz sensationeller Alben und
       triumphaler Tourneen. Brian Jones war in seinem Swimmingpool gestorben,
       vielleicht ermordet worden. Jagger hatte sich von Marianne Faithful
       getrennt, auch nicht einfach. Das Altamont-Debakel mit dem Tod von Meredith
       Hunter wurde den Stones als Konsequenz ihrer Hybris angekreidet. Die
       britische Labour-Regierung hasste Hippie-Millionäre und forderte
       gigantische Steuerschulden ein, aber Geld war keins da. Die Amerika-Rechte
       an allen Tantiemen waren in die Hände des Rechtsanwaltes Allen Klein
       geraten, der gar nicht daran dachte, einen Cent davon wieder herzugeben.
       
       Prozesse wurden geführt und eingestellt. Vergleich nennt man diese Art von
       Pleite. Jagger drehte komische Filme, Richards ließ sich mit der Marseiller
       Drogenmafia ein, und Charlie Watts und Bill Wyman waren auch keine große
       Hilfe. Da war es Zeit für einen Befreiungsschlag, und wer sollte den
       führen, wenn nicht Mick Mastermind himself. Die Band wurde auf Anraten des
       Steuerberaters an die Côte dAzur kommandiert, auch wenn Wyman und Watts
       klagten, dass eine bestimmte Sorte Senfgurken bei den Froschfressern schwer
       zu erhalten sei und die Milch anders schmecke.
       
       Keith Richards und Anita Pallenberg entschieden sich für ein kleines
       Schlösschen im Braunen (die Nazis sollen da früher mal residiert haben),
       und nach Micks Hochzeit mit Bianca im Mai 1971 zog die Hochzeitsparty
       einfach dorthin um; Gram Parsons samt Frau und Heroinvorräten stieß hinzu,
       Dr. John, Nicky Hopkins und Ian Stewart ließen ein Klavier aufstellen, Mick
       Taylor brachte sein Schminkköfferchen mit, Jagger parkte die hochschwangere
       Ehefrau unter tausend Liebesschwüren in Paris und los konnte es gehen - die
       Stones waren in der Stadt. Man feierte und wohnte und schlief kreuz und
       quer durch diese tumultuösen Monate wie einst die Protagonisten in
       Boccaccios Decamerone, und wenn Keith im Morgengrauen mit seiner
       musikalischen Entourage Richtung Kellerstudio trödelte, konnte man Mick mit
       den Zähnen knirschen hören: Doch der Hausherr war Keith, was soll man
       machen?
       
       Bitte 18-mal durchklicken! 
       
       Charlie Watts beschreibt den Arbeitsprozess: "Keiths Rezept ist einfach.
       Man nehme einen Song, spiele ihn zwanzigmal, lasse ihn dann gut
       durchziehen, spiele ihn wieder zwanzigmal, und dann taugt er entweder was.
       Oder nicht." Jagger zischte später so was wie "lausig" und "keine Disziplin
       in der Truppe", nahm die Bänder mit nach Los Angeles, fügte noch ein paar
       Lyrics hinzu und gab es schließlich auf, seinen Gesang aus dem tiefblau
       eingefärbten R & B-Schlamm zu extrahieren, den Richards und Produzent Jimmy
       Miller da zusammengemixt hatten.
       
       Was man auf "Exile on Main St." zu hören bekommt, immer noch, ist genau
       diese Opposition zwischen Rock und Roll, zwischen Jagger und Richards. Der
       gerade auf dem falschen Fuß erwischte Musik-Bürokrat versus egomanischer
       Momentmensch. Von "Rocks Off" über "Rip this Joint" bis "Turd on the Run"
       hörte man dieses unglaubliche Eingespieltsein, dieses Selbstverständliche
       unendlich oft geübter Spielzüge (würde man im Fußball sagen), diese
       Automatismen, die den Teppich erst zum Fliegen bringen, diesen Groove eines
       glücklichen Moments - ständig wird beschleunigt und voll abgebremst, als
       sei es die einfachste Übung der Welt. Dazu diese Anfänge! Bitte im
       CD-Player 18-mal durchklicken. Brennender Gummi. Lautpoesie. Wie 18 große
       erste Sätze aus Jahrhundertromanen, bei denen niederbayerische Teenager
       noch nicht mitkommen und nie mithalten können, weil sie nicht ahnen, was
       ein Learjet sein könnte und wie sich das anfühlt, wenn eine Balletttänzerin
       auf deinem erigierten Schwanz eine Pirouette dreht.
       
       Rock n Roll ist in einem ganz positiven Sinne mit "Exile on Main St."
       erwachsen geworden. Selbstbestimmt. Frei. Souverän. Aber auch dekadent und
       entrückt. Sogar Jagger erliegt diesem Sog des langen Moments, der
       stillstehenden Zeit, der Faszination am Stones-Sein, vertreibt seinen
       Nebenbuhler Gram Parsons vom Hofe (selbst in der CD-Neuauflage und der DVD
       findet er keine Erwähnung) und pimpt sein Ego auf, indem er sich an Anita
       Pallenberg ranmacht.
       
       Dazu singt er in seinem feinsten Fake-Amerikanisch, dreht und rollt sich
       wie eine läufige Kätzin, wulst den Lipp und tut den Mick. "Exile on Main
       St." leuchtet von innen heraus, es glüht wie Hölle, auch nach vierzig
       Jahren noch, ein Leuchtfeuer des Hedonismus. Des menschlichen Glücks. Ein
       kolossaler Irrtum. Wie alle schönsten Dinge des Lebens.
       
       17 May 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karl Bruckmaier
       
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