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       # taz.de -- Lehrermangel: Die Schulabbrecher
       
       > Zu viel Druck im Referendariat, starre Hierarchien, Kampf mit der
       > Bürokratie. Warum jedes Jahr Hunderte angehende Lehrer ihre Ausbildung
       > aufgeben.
       
       Manchmal träumt Richard Le Déon von dem Alltag, gegen den er sich selbst
       entschieden hat. Den eines Gymnasiallehrers in Niedersachsen. Dann überlegt
       er, wie es sein könnte, wenn er nicht alles hingeschmissen hätte. Wie es
       wäre, heute Schulklassen in Mathe und Französisch zu unterrichten. Nur ohne
       die Überforderung, die er als Referendar verspürte. Und ohne den Druck und
       die Bürokratie, unter deren Last er irgendwann zusammengebrochen ist.
       
       Solche Gedanken kommen dem 28-Jährigen oft mittwochs, wenn er in einer
       Berufsschule in Hannover sitzt und sich auf seinen neuen Beruf vorbereitet:
       Gärtner der Fachrichtung Gemüsebau. Dort hört Le Déon, warum man Tomaten
       nicht zu früh im Jahr vorzieht, welche Fruchtfolge sich beim Ökolandbau
       eignet – und wie Schlupfwesten Schädlinge kleinhalten.
       
       An vier Tagen die Woche lernt er ganz praktisch, wie man Gemüse anbaut, auf
       einem Feld südlich von Göttingen. Sein neuer Beruf macht Le Déon Spaß. Er
       beschreibt ihn als „intensiv und erfüllend“. Vor allem aber fühlt er sich
       erleichtert, nicht mehr in einem System zu stecken, das ihm „die mit
       Abstand schlimmste Zeit“ seines Lebens beschert hat.
       
       In Deutschland teilt sich die Lehrer:innenausbildung in zwei Phasen.
       Im Studium die Theorie, danach das Referendariat, die praktische Anwendung.
       Die Folge: Viele Lehramtsanwärter:innen stehen im Referendariat
       erstmals vor einer Schulklasse. Zwar schreiben heute alle Bundesländer
       während des Studiums „Praxisphasen“ an Schulen vor, einige sogar ein
       „Praxissemester“ – in der Regel schauen die Studierenden dabei aber vor
       allem zu. Erst im Referendariat unterrichten sie selbst.
       
       Nicht alle stehen das durch. Wie viele, ist schwer zu ermitteln. Die
       Ministerien wissen nicht immer, ob jemand abgebrochen hat oder gerade wegen
       Krankheit oder Elternzeit pausiert. Im Schnitt kann man von einer
       bundesweiten Abbrecherquote von 5 Prozent ausgehen; jedes Jahr verlieren
       die Schulen um die 1.500 Lehrkräfte. Das deckt sich in etwa mit den Zahlen
       der Kultusministerkonferenz (KMK).
       
       Auch hier lassen sich wegen der unterschiedlich langen Ausbildungszeiten in
       den Ländern keine exakten Quoten errechnen. Aber für das grobe Bild reicht
       es. Im Jahr 2020 nahmen 30.430 Referendar:innen ihren Dienst auf.
       Viele von ihnen müssten zwei Jahre später ihre Ausbildung abgeschlossen
       haben – doch 2022 haben nur 27.742 ihre Staatsprüfung bestanden.
       
       Warum aber schmeißen Jahr um Jahr hunderte angehende Lehrer:innen hin?
       Menschen, die dringend gebraucht werden, um ein auf Kante genähtes
       Schulsystem am Laufen zu halten. Bereiten Studium und Referendariat gut auf
       den Alltag an der Schule vor? Und falls nein: Was folgt daraus? Für Schulen
       und Ministerien? Für den Anspruch unserer Gesellschaft an den Lehrerjob?
       
       Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die wochentaz mit Ministerien
       und Verbänden, Lehrkräften und Ausbilder:innen, Studierenden und
       Referendar:innen gesprochen. Rund ein Dutzend angehender Lehrkräfte
       haben uns von ihren Erfahrungen mit dem jetzigen System erzählt. Warum die
       Ausbildung so stressig ist, warum sie so viel Frust erzeugt.
       
       Einer von ihnen ist Paul Messall, der sein Referendariat trotz
       abgeschlossenen Lehramtsstudiums in Hessen nicht an der Grundschule
       absolvieren darf. Er hat sich wie Richard Le Déon einen neuen Beruf
       gesucht. Oder Theresa Rahn, die am Ende ihres Referendariats fast einen
       Nervenzusammenbruch erleidet, weil die Berliner Verwaltung ihr die sicher
       geglaubte Stelle verweigert. Rahn heißt anders, ihren Namen haben wir auf
       ihren Wunsch geändert.
       
       Referendar:innen arbeiten oft bis Mitternacht, zudem stehen sie unter
       ständiger Beobachtung und Begutachtung. Seminarleiter:innen,
       Fachkolleg:innen, Schulleiter:innen bewerten und benoten regelmäßig
       den Unterricht. Dieses Feedback ist wichtig, einerseits. Die
       Referendar:innen sollen lernen, ihren Unterricht selbständig zu planen
       und zu halten. Da braucht es eine enge Begleitung.
       
       Richard Le Déon sagt: „Meine fachliche Betreuung war insgesamt echt gut,
       sie hat mir sehr geholfen.“ Andererseits bauen die vielen Seminarstunden,
       Unterrichtsbesuche und Lehrproben auch einen konstanten Druck auf. Der
       Vorwurf vieler Referendar:innen: Ihre Betreuer:innen hätten sie
       degradiert, nach dem Motto: „Das geht anders. Das kannst du noch nicht.“
       
       Mit dem Druck bleiben die Lehramtsanwärter:innen oft allein. Ein
       Grund dafür steht in Paragraf 9 des Beamtenstatusgesetzes. Er sieht vor,
       dass alle Personen im öffentlichen Dienst vor der Verbeamtung ihre
       gesundheitliche Eignung nachweisen müssen. Das gilt für Lehrkräfte genauso
       wie für Richter:innen. Sie alle müssen sich amtsärztlich prüfen lassen.
       
       Eine psychotherapeutische Behandlung im Studium oder während des
       Referendariats kann ein Ablehnungsgrund sein. Laut den Ministerien kommt
       das zwar so gut wie nie zur Anwendung. Aber das Risiko bleibt, vom Amtsarzt
       ausgemustert zu werden. Auch, weil es keine klaren Richtlinien gibt, wann
       eine psychische Erkrankung, wann eine entsprechende Therapie okay sind –
       und wann ein Grund für die Ablehnung. Wegen dieser Unsicherheit verzichten
       viele Referendar:innen und Lehramtsstudierende lieber auf
       professionelle Hilfe.
       
       Auch Richard Le Déon hat keinen Arzt aufgesucht, als er einen Zusammenbruch
       während seines Referendariats erlitt. Die ersten Symptome treten im März
       2021 auf. Zu dem Zeitpunkt hat er fast die Hälfte seines Referendariats
       hinter sich. Erst ein paar Tage zuvor attestieren ihm seine
       Ausbilder:innen, dass er seine Sache schon ganz gut macht. Sowohl in der 7.
       Klasse, in der er Französisch unterrichtet, als auch in der 9. Klasse, wo
       er Mathe gibt.
       
       Sie loben, wie gut er mit den Jugendlichen umgeht. Doch wie angespannt und
       überarbeitet er ist, bemerken sie nicht. Sie fragen auch nicht danach –
       dafür ist im Ausbildungsalltag keine Zeit. Nur einmal wird das Thema
       Arbeitsumfang und Zeitmanagement im Seminar angesprochen, das war es.
       
       Die Erziehungswissenschaftlerin Julia Košinár hat viel zur
       Betreuungssituation deutscher Referendar:innen geforscht, sie ist
       Leiterin des Forschungszentrums Lehrberufe und pädagogische
       Professionalität an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Im Jahr 2014 hat
       sie die Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlicht. Ein Punkt: Wer
       unsicher oder unerfahren ist, passt sich den Erwartungen der
       Ausbilder:innen an oder versucht Fehler zu vermeiden. Je erfahrener und
       selbstsicherer sie sind, desto besser können sie mit Kritik und Druck
       umgehen. Košinár glaubt, dass eine bessere individuelle Begleitung vor
       Überlastung schützen kann – und vor dem Abbruch.
       
       Normalerweise werden Referendar:innen schrittweise an das selbständige
       Unterrichten herangeführt. Manche Seminarleiter:innen empfehlen, mit
       vier Schulstunden die Woche zu starten und erst im zweiten Halbjahr zu
       steigern. Le Déons Ausbildungsschule, ein Gymnasium in Osterode am Harz,
       teilt ihm in Rücksprache mit seinem Seminar 7 Stunden zu. Nicht
       ungewöhnlich – aber mit mehr Aufwand verbunden. Referendar:innen
       müssen jede Schulstunde akribisch vorbereiten.
       
       In einem „Verlaufsplan“ muss jeder Unterrichtsschritt schriftlich
       ausformuliert werden: Welcher Stoff ist an der Reihe? Was lernen die
       Schüler:innen in dem Moment? Welche Methodik kommt zum Einsatz? Welche
       Materialien und Medien? In der „Unterrichtsskizze“ müssen das Stundenziel,
       die geförderten Kompetenzen und weitere Aspekte festgehalten werden. Im
       Schnitt braucht Le Déon allein für diese Dokumentation 3 Stunden – pro
       Unterrichtsstunde. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass Deutsch nicht
       seine Muttersprache ist, sondern Französisch.
       
       Doch die Arbeitsbelastung allein ist es nicht, die Le Déon zusetzt. In
       seiner 7. Klasse sitzen 30 Teenager. Keine einfache Aufgabe für einen
       Referendar mit wenig Unterrichtserfahrung. Als er sich daran gewöhnt,
       schlägt die Pandemie zu. Der zweite Lockdown. Wieder schließen die Schulen.
       Le Déon hängt sich rein, jede Schulstunde unterrichtet er nun digital. „Das
       ist einfach alles zu viel gewesen“, sagt Le Déon heute. „Wenn man zu
       Perfektionismus neigt wie ich, ist das tödlich“.
       
       An einem Abend im März stürzt Le Déon beinahe vom Rad. Er fühlt sich
       kraftlos – und schafft es an jenem Abend kaum mehr nach Hause. Der Hausarzt
       stellt Erschöpfungssymptome fest, schreibt ihn für ein paar Tage krank. Le
       Déon kommt kaum aus dem Bett. Als der Zustand anhält, macht Le Déon mehrere
       Bluttests, doch die liefern keine Erklärung. Nach drei Wochen sucht er die
       psychiatrische Notaufnahme der Uniklinik auf.
       
       Burn-out. Eine Therapeutin verschreibt ihm Sertralin, ein Antidepressivum
       mit schweren Nebenwirkungen. Le Déon bekommt Panikattacken, kann nicht mehr
       schlafen. Und fühlt sich schlecht, weil er ausfällt und andere seine
       Stunden vertreten müssen. Als dann noch das Ministerium einen Brief schickt
       und wissen will, was mit ihm los ist, setzt sich Le Déon noch weiter unter
       Druck: „Ich will diese Ausbildung zu Ende bringen. Ich muss schnell wieder
       zu Kräften kommen!“, denkt er. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht mehr.
       
       Ende April unterschreibt er einen Antrag auf Entlassung aus dem
       Vorbereitungsdienst, adressiert an das Regionale Landesamt für Schule und
       Bildung in Braunschweig. Aufgrund einer Krankheit sehe er sich „nicht mehr
       in der Lage, den Anforderungen des Vorbereitungsdienstes nachzukommen. Mit
       freundlichen Grüßen“ – viel konkreter soll es der Dienstherr aus
       Datenschutzgründen nicht wissen. Le Déon vermutet, dass es im
       niedersächsischen Bildungsministerium aber ohnehin keinen so genau
       interessiert.
       
       Doch das sollte es. Denn gut ausgebildete Lehrkräfte werden immer knapper.
       Vor zehn Jahren standen den Schulen bundesweit 30.206 neue voll
       ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung – im vergangenen Jahr nur 27.350.
       Allein in Niedersachsen ist die Zahl der fertigen Referendar:innen
       zwischen 2012 und 2022 von 3.151 auf 2.372 zusammengeschmolzen. Die Lücke
       füllen seither vor allem Quereinsteiger:innen auf.
       
       Mittlerweile hat rund jeder zehnte neu eingestellte Lehrer kein Lehramt
       mehr studiert, in Sachsen-Anhalt und Brandenburg ist es fast jeder zweite.
       Trotzdem sind rund 50.000 Stellen zu Beginn des auslaufenden Schuljahres
       unbesetzt geblieben, schätzt der Verband Bildung und Erziehung (VBE).
       
       Le Déon ärgert dieser Trend: „Überall werden Lehrkräfte dringend gebraucht
       und dann verheizt man uns schon im Referendariat?“ Vor allem von der
       Seminarleiterin ist er enttäuscht. Als er das erste Mal nach dem Burn-out
       das Gespräch sucht, um über Teilzeitmöglichkeiten oder Stundenreduzierungen
       zu sprechen, geht sie darauf nicht ein – er werde schon wieder gesund. Als
       er zwei Wochen später wiederkommt, um zu kündigen, druckt sie ihm
       anstandslos den Antrag aus. Hilfe bietet sie nicht an.
       
       Auch kein Abschlussgespräch, um die Entscheidung ihres gescheiterten
       Referendars besser nachvollziehen zu können. Dabei wäre Le Déon gerne
       losgeworden, was ihn am Referendariat so frustriert hat: wie fixiert alles
       sei auf modellhafte Unterrichtsstunden. Aus seiner Sicht dreht sich zu viel
       darum, in superaufwendigen Stunden „den perfekten Unterricht zu
       simulieren“. Mit dem Schulalltag habe das wenig zu tun.
       
       Auch der Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel sieht beim
       Referendariat Handlungsbedarf. Idel leitet das Institut für Pädagogik an
       der Uni Oldenburg. Seit fast 20 Jahren bildet er angehende Lehrer:innen
       aus. Dabei beobachtet er, dass diejenigen, die die Studierenden und
       Referendar:innen betreuen sollen, dafür oft nicht systematisch
       ausgebildet sind. Weder die Mentor:innen an der Schule noch die
       Leiter:innen in den Fachseminaren. „Es ist ein Problem, wenn die
       Professionalisierer nicht selbst professionell ausgebildet sind“. Bis vor
       wenigen Monaten habe es noch nicht mal ein Lehrbuch für Seminardidaktik
       gegeben – also eine Anleitung für die Schulung von Referendar:innen.
       
       Idel plädiert dafür, die Zahl der Unterrichtsbegutachtungen zu senken und
       Coaching-Angebote auszubauen. Da lohne ein Blick ins Ausland. In der
       Schweiz etwa werden Lehrkräfte gut für die Arbeit als Mentor:in
       qualifiziert.
       
       Drei Viertel der OECD-Staaten verzichten zumindest bei einen Teil ihrer
       Lehrkräfte auf das Referendariat. Sie legen theoretische und praktische
       Ausbildung zusammen. Dadurch stehen Finnland, Dänemark, Schweden oder Polen
       fertige Lehrer:innen schon nach 4 bis 5 Jahren zur Verfügung – statt
       nach frühestens 6,5 Jahren wie hierzulande. Bildungsforscher:innen
       kritisieren schon lang, dass das Lehramtsstudium in Deutschland sehr lange
       dauert – und die praktischen Anteile erst sehr spät kommen. Aus diesem
       Grund haben einige Bundesländer duale Studiengänge auf den Weg gebracht.
       
       Beim Referendariat hingegen sehen die Ministerien aktuell wenig
       Handlungsbedarf. Einige verweisen auf Anpassungen in den vergangenen
       Jahren. So haben beispielsweise Brandenburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen
       Coaching-Angebote eingeführt und Bewertungselemente reduziert – so wie es
       Ausbilder Idel für ganz Deutschland fordert. Hessen schreibt seit
       vergangenem Jahr zudem vor, dass bei einem Teil der Unterrichtsstunden
       immer zwei Mentor:innen mit dabei sein müssen. Sachsen hat das Thema
       Gesundheit in der Ausbildung gestärkt. Und Schleswig-Holstein teilt mit,
       bestehende Beratungsangebote für Referendar:innen noch weiter ausbauen
       zu wollen. Aber reichen diese Maßnahmen?
       
       Eine im Mai veröffentlichte Langzeitstudie des Leibniz-Instituts für
       Bildungsverläufe und des Deutschen Zentrums für Hochschul- und
       Wissenschaftsforschung belegt, dass ein Viertel der Referendar:innen
       von Burn-out bedroht ist. Die Bildungsministerien schätzen die Lage weniger
       dramatisch ein. Nordrhein-Westfalen, das ein Viertel aller Lehrkräfte
       bundesweit ausbildet, sieht „keine Anzeichen einer systematischen
       Überlastung“ bei Referendar:innen. Ähnlich äußern sich die übrigen Länder.
       Der Tenor: Wir wissen, dass das Referendariat stressig sein kann. Aber die
       allermeisten bestehen am Ende ja doch.
       
       Vielleicht hätte auch Paul Messall bestanden und wäre heute
       Grundschullehrer. Stattdessen ist er PR-Berater. Monatelang hat er
       versucht, sein Referendariat an einer Grundschule machen zu dürfen.
       Vergebens. Dabei kann der 25-Jährige ein abgeschlossenes Lehramtsstudium
       vorweisen. Nur: Aus Sicht der Behörden ist es das falsche.
       
       Messalls berufliche Odyssee beginnt nach dem Abitur. Er möchte in Hessen
       Grundschullehramt studieren, dafür aber reichen seine Noten nicht aus – bis
       heute sind Lehramtsstudiengänge vielerorts zulassungsbeschränkt, weil es
       mehr Bewerber:innen als Plätze gibt. Dann bestimmt der Numerus clausus,
       wer studieren darf. Beim Lehramt trifft das vor allem auf die Studiengänge
       Grundschule und Sonderpädagogik zu.
       
       Messall schreibt sich deshalb für Haupt- und Realschullehramt für die
       Fächer Deutsch und Geschichte ein. Er hofft, nach dem Studium an die
       Grundschule wechseln zu können. Schließlich liest er ständig, dass dort
       händeringend Personal gesucht wird. Zum Beispiel in Berlin. Im Juni 2022
       besteht Messall in Hessen sein Staatsexamen – und bewirbt sich für das
       Referendariat für Grundschule in Berlin.
       
       Doch sein Antrag wird abgelehnt. Sein Abschluss sei dem Berliner Lehramt an
       Integrierten Gesamtschulen und Gymnasien gleichzusetzen. An diesen
       Schularten könne er gerne anfangen – nicht aber an einer Grundschule. Für
       Messall ergibt das keinen Sinn. Auch Quereinsteiger:innen, die gar kein
       Lehramt studiert haben, können ihr Referendariat an der Grundschule machen.
       
       So schnell gibt er nicht auf. Er schickt E-Mails an viele Stellen, von der
       KMK bis zur Berliner SPD, um auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen.
       Vor allem glaubt Messall, eine stichhaltige Begründung für seinen Wunsch
       nachreichen zu können. Messall leidet an der Augenkrankheit Keratokonos,
       bei der sich die Hornhaut ausdünnt und nach außen wölbt. Dadurch sieht er
       alles sehr stark verschwommen.
       
       Schon bei seinen Schulpraktika hat er gemerkt: Was hinter ihm an der Tafel
       steht, kann er nur mit Mühe entziffern. Auch kleingedruckte Bücher zu lesen
       fällt ihm schwer. Deutsch in einem Gymnasium zu unterrichten kann er sich
       deshalb nicht vorstellen. „Wie soll das gehen, wenn ich die Schulbücher
       schwer lesen kann?“ Als Grundschullehrer könne er im Unterricht viel freier
       arbeiten, die Schriftgrößen sind deutlich angenehmer. Messall bewirbt sich
       ein zweites Mal – und verweist auf seine Sehbehinderung. Er bietet auch an,
       im Brennpunktviertel zu arbeiten.
       
       Doch wieder kassiert er eine Absage: Erstens habe er seine
       Schwerbehinderung nicht durch die Agentur für Arbeit anerkennen lassen.
       Zweitens könne diese „Regelung für Nachteilsausgleich“ ohnehin nicht auf
       seinen Fall angewendet werden. Schließlich werde er „mit allen anderen
       Bewerbern mit gleichem oder ähnlichem Studienabschluss … gleichbehandelt“.
       Aus diesem Grund sei „die Absolvierung des Vorbereitungsdienstes für das
       Lehramt an Grundschulen für Sie ausgeschlossen“.
       
       Die Sachbearbeiterin empfiehlt Messall, die Ausbildung in Hessen
       abzuschließen. Doch dort darf er mit seinem Abschluss auch nicht an die
       Grundschule. Ebenso wenig in anderen Bundesländern. Aus Frust wendet er
       sich schließlich ganz vom Lehrerberuf ab. Heute arbeitet Paul Messall in
       der PR-Abteilung eines Berliner Start-up-Unternehmens.
       
       Ausbilder Till-Sebastian Idel von der Universität Oldenburg sieht darin ein
       gutes Beispiel für die „Verwerfungen“ bei der Lehrkräftegewinnung. „Da
       trifft ein seit Jahrzehnten starres Ausbildungssystem auf unter großem
       Druck getroffene Ad-hoc-Maßnahmen.“ Dies führe dann – Stichwort
       Quereinstieg – zu parallelen Strukturen und offensichtlicher
       Ungleichbehandlung. Ein anderes Beispiel dafür sei die erschwerte
       Anerkennung ausländischer Lehrkräfte, weil die in der Regel nur ein Fach
       studiert haben und deshalb in Deutschland vielfach zurück an die Uni
       müssten.
       
       Auch bei den dualen Studiengängen, die viele Ministerien jetzt auflegen
       wollen, um Lehrkräfte schneller und praxisnäher auszubilden, gebe es noch
       offene Fragen – etwa ob die Absolvent:innen dann noch das Referendariat
       machen müssen oder nicht. Idels Eindruck: Viele der Ad-hoc-Maßnahmen sind
       nicht konsequent zu Ende gedacht.
       
       Unstrittig ist: Die Ministerien müssen kreativ werden, um genügend
       Lehrkräfte zur Verfügung zu haben. Jede dritte Lehrkraft ist über 50, die
       Schulen müssen in den kommenden 10 bis 15 Jahren also rund 230.000 Stellen
       nachbesetzen. Wie schwer das wird, zeigt eine andere Entwicklung: Seit 2014
       ist die Zahl der Lehramts-Absolvent:innen um 14 Prozent gesunken – trotzt
       massiven Ausbaus der Studienplätze.
       
       Eine aktuelle Studie der Universitäten Rostock und Greifswald zeigt, dass
       je nach Studiengang zwischen 55 und 85 Prozent der Lehramtsstudierenden vor
       Ende des Studiums abspringen. Offenbar schreckt die praxisferne Ausbildung
       viele davon ab, bis zum Ende durchzuhalten. Und die, die bereits im System
       sind, vergrault die Politik mit Maßnahmen wie verpflichtende Mehrarbeit in
       Sachsen-Anhalt oder Zwangsversetzungen in Nordrhein-Westfalen.
       
       Auch in Berlin erzeugte ein – mittlerweile zurückgenommener – Plan des
       Senats schlechte Stimmung. Um zu verhindern, dass Schulen in
       Brennpunktvierteln nur Quereinsteiger:innen abbekommen, schränkte die
       damals SPD-geführte Bildungsverwaltung die Autonomie der Schulen ein. Das
       Ziel: die voll qualifizierten Lehrkräfte in der Stadt gerechter verteilen.
       
       Unter Gesichtspunkten der Chancengerechtigkeit eine legitime, vielleicht
       sogar notwendige Maßnahme. Doch wie die Verwaltung die Steuerung anging,
       sorgte für Frust. Zum Beispiel bei Theresa Rahn. Mehrere Monate verzweifelt
       sie an der Bürokratie. Die Auseinandersetzung setzt ihr zu, irgendwann ist
       sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Das war das Schlimmste, was ich je
       erlebt habe“, sagt sie.
       
       Es ist Februar, Rahn steht am Ende ihres Referendariats. In drei Monaten
       hat sie ihre alles entscheidende Examensprüfung. Die Fristen für die
       Neueinstellungen liegen in Berlin aber so, dass sich Referendar:innen
       schon vor ihrer Prüfung um eine Stelle für das neue Schuljahr kümmern
       müssen. Und da fängt Rahns Ärger an. Denn die Senatsverwaltung fordert sie
       in einem Schreiben auf, „unverzüglich“ Kontakt zu einer Grundschule in
       Neukölln aufzunehmen. Dort sei eine Stelle frei.
       
       Rahn ist irritiert: Sie hat Lehramt für Integrierte
       Sekundarschule/Gymnasium studiert, also für alles ab der 7. Klasse. An die
       Grundschule möchte sie nicht. „Für die Grundschule und die Arbeit mit
       kleinen Kindern bin ich gar nicht ausgebildet.“ Rahn antwortet der
       Verwaltung, dass sie sich dort nicht bewerben möchte, und kümmert sich
       selbst um einen Schulplatz.
       
       Ein paar Wochen später findet sie tatsächlich eine Schule, die sie
       anstellen möchte – an der sie auch gerne arbeiten will. Eine Integrierte
       Sekundarschule. In zwei Gesprächen lernt sie die Schulleitung kennen und
       hospitiert einige Stunden, um einen Eindruck von der
       Schüler:innenschaft zu gewinnen. Außerdem liegt die Schule in dem
       Bezirk, in dem sie lebt. „Ein perfektes Match“, findet Rahn. Die
       Schulleitung sieht das genauso, Rahn erhält die Zusage für eine Stelle.
       
       Doch der Senat möchte, dass Rahn in einem anderen Bezirk arbeitet. Damit
       kann ihre Wunschschule sie nicht einstellen. Alle Einwände, auch vonseiten
       der Schulleitung, laufen ins Leere. Letztlich besetzt die Schule ihre drei
       offenen Stellen mit Lehrkräften, die die Schule nicht kennt. Und Rahn weiß
       immer noch nicht, wie es für sie nach dem Examen weitergeht.
       
       Als sie dann im Nachrückverfahren kein Jobangebot erhält, wird Rahn langsam
       nervös. Es ist Ende April, sie hat immer noch keine Stelle – und muss sich
       voll auf das Examen konzentrieren. Rahn wendet sich an die Schulaufsicht.
       Dort setzt sich eine Sachbearbeiterin für eine pragmatische Lösung ein:
       Eine offen gebliebene Stelle an Rahns Wunschschule für das Fach Chemie wird
       so getauscht, dass Rahn noch die Stelle erhält, die ihr die Schule schon
       zwei Monate vorher geben wollte.
       
       Inzwischen steht sie kurz vor der Verbeamtung. Studium und Referendariat
       haben sie ernüchtert. Als Referendarin habe sie vor allem gelernt, genau
       das zu erfüllen, was der jeweilige Fachseminarleiter hören möchte – auch
       wenn das genau das Gegenteil von dem ist, was ein anderer sagt.
       
       Aus Rahns Sicht fehlt dringend eine verbindliche Supervision, und zwar für
       Referendar:innen und für Ausbilder:innen. Sie hofft zudem auf eine
       Enttabuisierung psychischer Selfcare. Wer sich mit seiner psychischen
       Gesundheit auseinandersetze, werde als potenzielles Problem behandelt. Die
       hohen Burn-out-Raten bei Lehrer:innen zeigten, dass die Ministerien das
       Problem nicht erkannt hätten. Tatsächlich geht heute jeder fünfte
       Ausfalltag auf psychische Erkrankungen zurück.
       
       Nach den Sommerferien brauchen die Ministerien wieder frisches Personal –
       nach jetzigem Stand um die 33.000 Lehrkräfte. So viel gibt der Markt nicht
       her. Richard Le Déon und Paul Messall, die gerne Lehrer geworden wären,
       stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Le Déon sagt, wenn er es noch mal
       versucht, dann in seiner Heimat Frankreich. Messall sagt, er hat sich
       zweimal beworben und wurde nicht genommen. Jetzt laufe er dem Beruf nicht
       mehr hinterher. In seinem jetzigen Job fühlt er sich willkommen.s
       
       11 Jul 2023
       
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   DIR Ralf Pauli
       
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