URI: 
       # taz.de -- „Leid und Herrlichkeit“ im Kino: Die Welt bleibt im Hals stecken
       
       > Momente, in denen es kräftig sprudelt: Pedro Almodóvars Spielfilm „Leid
       > und Herrlichkeit“ mit einem grandios verwuschelten Antonio Banderas.
       
   IMG Bild: Schön bunte Küche: Antonio Banderas als Salvador Mallo in „Leid und Herrlichkeit“
       
       Antonio Banderas ist grau geworden. In Pedro Almodóvars neuem Film „Leid
       und Herrlichkeit“ („Dolor y gloria“) wirken seine Haare länger und ein
       wenig struppig, fast muss man an den Franzosen Vincent Cassel denken. Mit
       dem hat aber Banderas wiederum nicht viel gemein. Und noch weniger Salvador
       Mallo, den er nun gibt, und das so überzeugend, dass man ihn in Cannes
       dafür mit dem Darstellerpreis würdigen wollte.
       
       Worin sich dieser Salvador auszeichnet? Zum einen schafft er es nicht mehr,
       seine Knie ohne Kissen auf den Boden zu bringen. Die Gelenke sind
       verschlissen, alles muss abgedämpft werden. Außerdem leidet er unter
       zahlreichen weiteren chronischen Übeln, einige davon exotischer als andere.
       
       Aktuell vermiest ihm zum Beispiel eine ganz besondere Gemeinheit den
       ohnehin schon beschwerlichen Alltag: eine Art verknöcherte Geschwulst, die
       ihn dazu bringt, potenziell jeden Bissen zu verschlucken. Salvador befindet
       sich demnach in ständiger Todesgefahr. Und wie es manchmal ist, wenn das
       Ende naht, rückt einem das Leben noch einmal richtig auf die Pelle. So muss
       es jedenfalls Salvador empfinden, dem Pedro Almodóvar einige Geister aus
       der Vergangenheit schickt.
       
       Mallo ist, wie der, der ihn erschuf, Filmregisseur. Eine Nähe zwischen
       Almodóvar und Mallo liegt also auf der Hand. Tatsächlich beschäftigt sich
       auch Mallo, ganz ähnlich Almodóvar, mit Mutterfiguren, in diesem Fall
       seiner eigenen, Jacinta, deren jüngere Version in der Gestalt von Penélope
       Cruz auftritt. Die führt den Geschundenen dann auch gleich an einige
       Ursprungsorte.
       
       ## Heroin auf Folie rauchen
       
       Da wäre etwa ein Fluss, an dem die Frauen des Dorfes ihre Wäsche zu
       reinigen pfelgten. Im Film besteht diese ausschließlich aus riesigen weißen
       Laken, die nach der Prozedur geschickt wie elegant über umstehende Pflanzen
       gelegt und damit der Sonne zum Trocknen preisgegeben werden. Der junge
       Salvador beobachtet die magische, wunderschöne (und manchmal auch recht
       zünftige) Zusammenkunft aus dem Gebüsch, lauscht den Gesängen und ist
       angetan.
       
       Salvador ist ein Junge, dem es in der Nähe von Frauen nicht gerade schlecht
       gefällt. Und auch der Ältere leistet sich noch eine Art Mutterersatz,
       Mercedes (Nora Navas), die ihm ein bisschen den künstlerischen (und
       unfreiwilligen) Ruhestand organisiert. In Salvadors Fall bedeutet das:
       Einladungen zu Vernissagen verlesen (sie werden fast alle von ihm
       ausgeschlagen), aktuelle Kinovorführungen seiner Filme und so weiter.
       
       Mercedes wird gewissermaßen zur Mittlerin. Sie trägt die Welt in Salvadors
       bunte Designerwohnung, in der orangene und blaue Salz- und Pfeffermühlen
       von Le Creuset stehen und genauso der opulent-monumentale
       Dolce-&-Gabbana-Toaster von Smeg. Und die Welt, sie wartet offenbar auf
       Salvador Mallo. Auch er interessiert sich noch für sie, scheint aber, ganz
       wie sein neuestes Symptom, verhärtet: Es ist nie ganz klar, ob das, was von
       außen kommt, im Hals stecken bleibt oder doch wohltuend wirken könnte.
       
       Vielleicht lässt sich eine solche Entscheidung auch nicht immer eindeutig
       fällen. Wie in der Angelegenheit um Alberto (Asier Etxeandia), einen
       abgehalfterten Rockstar-Schauspieler, den Salvador für eine Aufführung
       seines Hauptwerks treffen soll. Zwei Männer, die vor Dekaden nicht gut
       auseinandergegangen sind, aber jetzt zueinanderfinden, indem sie gemeinsam
       an der „Friedenspfeife“ ziehen, was heißt: Heroin auf Folie rauchen.
       
       Alberto pflegt diese Praxis des Drogenkonsums, Salvador indes beschert sie
       Linderung von seiner physischen Pein. Zusätzlich verschwinden einige
       emotionale Blockaden – Salvador betritt endlich wieder das Reich seines
       kreativen Schaffens und findet, wie der „Zufall“ es will, ein
       autofiktionales Dokument auf seinem Computer.
       
       „Im Kino meiner Kindheit riecht es immer nach Pisse“, steht unter anderem
       darin. Wohl ist auch vom schönen Eduardo (César Vincente) die Rede, der im
       kindlichen Salvador die ersten Begehrlichkeiten weckte, nachdem er sich im
       Anschluss an das Streichen von Wänden vor den (imaginären?) Augen des
       Jungen in einem Wasserbottich wusch, was bei diesem zu einem Fieberanfall
       führte. Auch ist von Frederico (Leonardo Sbaraglia), seiner großen Liebe
       aus den achtziger Jahren, die Rede.
       
       ## Wahres Rauschen
       
       Beide treten über unwahrscheinliche und doch selbstverständliche Wege
       zurück in Salvadors Existenz. Es sind die Momente, in denen „Leid und
       Herrlichkeit“ aufsprudelt, in denen die verschlungenen Pfade, die sich der
       Film großzügig sucht, hin zu Quellen führen, an denen wahres Rauschen zu
       hören ist, das noch immer stetig und heftig klingt.
       
       Almodóvar und Mallo kommen zusammen, um gemeinsam an der Friedenspfeife zu
       ziehen. Dieser Schritt, der möglicherweise auch eine Annäherung ist,
       erfordert Geduld. Aber sie wird reich belohnt. Am Ende jedenfalls mag
       Salvador Mallo ein entscheidendes Leuchten Pedro Almodóvars inhaliert haben
       – dessen Frisur jedenfalls erstrahlt so weiß wie frischer Schnee.
       
       24 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
       ## TAGS
       
   DIR Pedro Almodóvar
   DIR Antonio Banderas
   DIR Neu im Kino
   DIR Spielfilm
   DIR Spielfilm
   DIR Spanien
   DIR Drama
   DIR Filmbranche
   DIR Spielfilm
   DIR politische Gefangene
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kinokomödie „Der beste Film aller Zeiten“: Spielfeld der Eitelkeiten
       
       Dem Größenwahn beim Platzen zuzusehen, stiftet Schadenfreude. Davon gibt es
       reichlich in der Komödie „Der beste Film aller Zeiten“.
       
   DIR Almodóvar-Film „Parallele Mütter“: Frauen mit schwerem Gepäck
       
       In „Parallele Mütter“ erzählt Pedro Almodóvar von privaten Lügen und
       politischen Irrungen. Mit dabei: Penélope Cruz, die mit gehetzer Eleganz
       spielt.
       
   DIR Krise bei der spanischen Gema: Profitable Piraterie mit Beethoven
       
       Massenaustritte bei der spanischen Gema: Stars wie Pedro Almodóvar haben
       genug. Das Tantiemensystem bevorzugt unbekannte Hintergrundmusik.
       
   DIR Filmdrama um das Thema Nähe: Das Projekt der Pilotin
       
       İlker Çatak seziert in „Es gilt das gesprochene Wort“ facettenreich das
       Thema Nähe. Der Filmtitel sendet auch eine Botschaft an die
       Protagonist*innen.
       
   DIR Filmfestspiele in Cannes: Goldene Palme geht an Südkoreaner
       
       Der diesjährige Filmfest-Gewinner, die Tragikomödie „Parasite“, ist ein
       vielschichtiges Werk. Der Regisseur Quentin Tarantino ging leer aus.
       
   DIR Regisseur über queeres Kino: „Das Autorenkino nervt alle“
       
       Der Regisseur Christophe Honoré spricht über die Verklärung von schwulem
       Aktivismus und die Figuren seines Films „Sorry Angel“.
       
   DIR Regisseur Oleg Senzow im Hungerstreik: Der Unnachgiebige
       
       Der in Russland inhaftierte ukrainische Regisseur Oleg Senzow verweigert
       seit 14 Tagen die Nahrungsaufnahme. Er fordert, Gefangene freizulassen.