URI: 
       # taz.de -- Leonid Wolkow über Russland und Nawalny: „Ich bin zur Hoffnung verpflichtet“
       
       > Wie stark ist die russische Opposition? Dissident Leonid Wolkow über
       > Kriegsmüdigkeit und den in Isolationshaft sitzenden Kremlkritiker Alexei
       > Nawalny.
       
   IMG Bild: Leonid Wolkow bei einer Solidaritätsaktion für Alexei Nawalny Ende Januar in Berlin
       
       taz: Herr Wolkow, wie geht es [1][Alexei Nawalny]? 
       
       Leonid Wolkow: Nicht gut. Nachdem er [2][den Giftanschlag] knapp überlebt
       hat, sitzt er seit Januar 2021 wieder in Haft. Er befindet sich derzeit im
       Straflager Nr. 6 in Melechowo, etwa 200 Kilometer östlich von Moskau. Seit
       Mitte August 2022 ist er dort isoliert und in eine winzige Strafzelle
       gesperrt. Sie ist 2,5 mal 3 Meter groß, ein Zwinger. Wir haben ihn
       nachgebaut und Ende Januar hier vor der russischen Botschaft in Berlin
       aufgestellt. Damit man sehen kann, welchen Folterbedingungen Alexei in Haft
       ausgesetzt ist.
       
       Wie oft darf er den Zwinger verlassen, sieht er andere Menschen? 
       
       Einmal am Tag, um sich in einen Mini-Innenhof mit Mauern zu begeben, kaum
       größer als die Zelle. Aber dort sieht er wenigstens den Himmel.
       
       Bei dem Giftanschlag wäre Nawalny 2020 fast gestorben. Wie ist sein Zustand
       heute? 
       
       Er spürt die Folgen des Anschlags. Er müsste sich viel bewegen, gut
       ernähren, Übungen machen, eine Physiotherapie bekommen. Doch er hat keine
       medizinische Betreuung, die Zustände in russischen Gefängnissen sind
       katastrophal.
       
       Mit welcher Begründung hält man ihn seit Monaten in Isolation? 
       
       Nach ihren eigenen Vorgaben dürften sie ihn nicht so lange isolieren. Jetzt
       sind es bald sechs Monate. Er soll irgendwelche Regeln verletzt haben. Ein
       Knopf am Hemd war nicht zu. Oder sonst irgendetwas.
       
       Sie sind ein enger Mitarbeiter Nawalnys. [3][Ihre Bewegung legte die
       unfassbare Korruption] des russischen Oligarchensystems offen. Es geht um
       Summen und Besitz in Milliardenhöhe. Wie schutzlos ist Nawalny nun in
       russischer Haft? 
       
       Alexei ist der prominenteste politische Gegenspieler Putins. Der
       prominenteste politische Gefangene in Russland. Sie wollen ihn in Haft so
       lange wie möglich leiden lassen. Er soll bedauern, dass er den Giftanschlag
       überlebt hat.
       
       Sie sprachen [4][mit Irina Scherbakowa] kürzlich [5][auf der Frankfurter
       Buchmesse.] Sie alle sind inzwischen im Exil und rufen als russische Bürger
       dazu auf, die Ukraine zu unterstützen. Glauben Sie, man kann das
       Putin-Regime dort militärisch stoppen? 
       
       Davon bin ich fest überzeugt. Russlands Armee ist nicht so stark. Putin
       wollte die Ukraine in einem Blitzkrieg unterwerfen. Aber die Ukraine hält
       stand. Die Moral in der russischen Armee ist sehr schlecht. Die Motivation
       zu kämpfen gering. Tausende [6][verweigern den Kriegsdienst].
       
       Haben Sie dazu genauere Information? 
       
       Teilweise meutern ganze Einheiten. Auch die Stimmung in der Gesellschaft
       ist schlecht. In den Städten waren viele von Anfang an gegen den Krieg.
       Viele kennen die Wahrheit über den Krieg, schauen unsere Nachrichten und
       Videos.
       
       Die Sie vom Ausland aus verbreiten? 
       
       Ja. Wir bleiben mit der Bevölkerung in Kontakt, widerlegen die Propaganda
       Putins. Millionen Menschen schauen monatlich [7][über Youtube unsere
       Videosendungen auf Russisch]. Sie kennen die Wahrheit. Youtube ist in
       Russland nicht gesperrt. Putin lässt einen unberechtigten Angriffskrieg
       gegen die Ukraine führen. Wir haben mehr als 15 Millionen Zuschauer
       monatlich.
       
       Dennoch scheint die russische Armee unaufhörlich neue Kräfte an die Front
       gegen die Ukraine zu schicken. 
       
       Der Militärapparat erhält freiwillig keine Unterstützung aus der
       Gesellschaft. Die Armee ist ineffektiv, hat hohe Verluste. Ihre
       Waffensysteme sind brutal. Aber was haben sie erreicht? Zehntausende Tote,
       ein zerstörtes, entvölkertes und besetztes Gebiet im Osten von geringer
       strategischer Bedeutung. Dafür wurden unglaublich große Ressourcen
       verwendet.
       
       Wäre es nun an der Zeit, mit Putin und seinem Machtapparat einen
       gesichtswahrenden Frieden auszuhandeln? 
       
       Ich möchte dies hier so klar wie möglich sagen: Nein. Das ist eine
       Illusion. Es wäre ein katastrophaler Fehler und würde weitaus mehr Opfer
       kosten als derzeit schon in der Ukraine. Putin und keiner der jetzigen
       Anführer ist ein glaubwürdiger Verhandlungspartner. Putin würde nur
       verhandeln, um zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt erneut anzugreifen.
       Er hat getroffene Vereinbarungen und Verträge nie respektiert.
       
       Woran machen Sie das fest? 
       
       Putin hat [8][das Memorandum von Budapest] gebrochen. Damit hatte Russland
       1994 die territoriale Integrität der Ukraine anerkannt. Im Gegenzug übergab
       die Ukraine Russland die Atomwaffen. Russland hat die Konvention gegen
       chemischen Waffen unterzeichnet. Und produziert und verwendet doch
       Kampfstoffe wie Nowitschok. [9][Minsk I und II], beide Abkommen hat Putin
       gebrochen. Dann der Überfall auf die Ukraine. Er ist ein notorischer
       Rechtsbrecher.
       
       Wie interpretieren Sie das monatelange Zögern von Kanzler Scholz vor den
       Panzerlieferungen an die Ukraine? 
       
       Ich verstehe das deutsche Zögern im Hinblick auf die Geschichte. Wegen der
       Vergangenheit und des Zweiten Weltkriegs. Es berührt das deutsche
       Selbstverständnis. Aber wir leben nicht in der Vergangenheit. Der Krieg ist
       da. [10][Putin muss in der Ukraine gestoppt werden.]
       
       Historiker wie Timothy Snyder berichten von Deportationen der ukrainischen
       Bevölkerung aus den von Russland besetzten Gebieten. 
       
       Die besetzten Gebiete sind zerstört, sie wiederaufzubauen wäre teuer. Für
       die Russifizierung fehlen Putin derzeit Menschen und Mittel. Also verteilt
       er Ukrainer von dort nach Russland.
       
       Sie sprechen in Ihrem aktuellen Buch „Putinland“ von imperialem Wahn des
       russischen Führers. Worauf gründet er? 
       
       Putin ist Opfer seiner eigenen Propaganda. Er glaubt, was er sieht und
       glauben will. Er hätte schon Probleme, selbstständig im Internet etwas zu
       recherchieren. Er bekommt seine Informationen gefiltert in roten Mappen.
       Sie enthalten nur das, was er hören mag und was man sich ihm zuzumuten
       traut. So kam er auch auf die Idee, die Ukraine würde auf ihn und seine
       russische Armee warten und die alte Sowjetunion wiederhaben wollen. Aus
       einem gefährlichen Nostalgiker wurde ein von nationalem Wahn getriebener
       Imperialist.
       
       Der Überfall auf die Ukraine hat Zehntausende russische Soldaten das Leben
       gekostet. Wie lange werden ihm die Russen noch folgen? 
       
       Die Unterstützung nimmt ab. Öffentliche Proteste sind in Russland aber
       derzeit fast unmöglich. [11][Es ist ein totalitärer Staat]. Wer gegen den
       Krieg protestiert, riskiert, jahrelang im Gefängnis zu verschwinden.
       
       Wie hoch sind die Renten für Kämpfer, die als Invaliden aus dem Krieg
       zurückkehren? 
       
       In den ersten Monaten des Kriegs hat Putin versucht, Loyalität mit Geld zu
       kaufen. Für einen Gefallenen im Krieg bekamen Hinterbliebene sieben bis
       zwölf Millionen Rubel Kompensation. Enorm viel! Sieben Millionen Rubel
       waren umgerechnet etwa 100.000 Euro. Genug, um ein Auto oder kleines Haus
       zu kaufen. Damit ist es vorbei. Das Geld wird knapp. Stattdessen
       rekrutieren sie Gefangene, darunter Drogensüchtige.
       
       Was ist mit Paramilitärs wie [12][den Wagner-Söldnern]? 
       
       Deren Verbände wurden auch mit Kriminellen aufgefüllt. Als Kanonenfutter.
       Oben führen ein paar Offiziere die Wagner-Gruppe an, unten krepieren diese
       vielen Namenlosen. Sie finden kaum mehr reguläre Freiwillige.
       
       Wie trifft der Krieg Russlands Wirtschaft, die Oligarchen? 
       
       Für die Oligarchen ist es wirklich eine Tragödie. Sie haben Milliarden
       verloren wegen der Sanktionen. Auch mit ihrem Lebensstil ist es vorbei. Mit
       Privatjets nach London oder Paris oder auf der Jacht an der französischen
       Mittelmeerküste, das geht nicht mehr. Die durchschnittliche Bevölkerung
       trifft es natürlich härter. Wer vorher schon arm war, kann sich jetzt erst
       recht keinen Luxus leisten.
       
       Käme so manchen Oligarchen ein Putsch gegen Putin gelegen, um mit dem
       Westen wieder zusammenarbeiten zu können? 
       
       Es wäre zu hoffen. Viele von ihnen, auch viele Generäle, sind sehr
       unzufrieden. [13][Je länger der Krieg dauert, desto größer ihre Verluste.]
       
       Sie schreiben in Ihrem Buch: „Ich wehre mich gegen den Gedanken, die
       russischen Bürger seien nicht fähig zur Demokratie.“ Woher nehmen Sie
       Zuversicht? 
       
       Als russischer Politiker bin ich zur Hoffnung verpflichtet. Ich lebe ja
       jetzt in Litauen. Es war auch Teil der Sowjetunion. Sie haben dasselbe
       Trauma durchlebt wie wir. Mussten [14][die Sowjetherrschaft überwinden.]
       Wie in anderen Ländern des früheren Ostblocks haben sie heute eine
       funktionierende Demokratie. Die Menschen hier sind nicht so viel anders als
       in Russland. Die Mehrheit akzeptiert die Regeln der Demokratie,
       Rechtsstaat, freie Presse, faire Wahlen. Damit das auch in Russland
       gelingen kann, muss der jetzige Gewaltapparat zerstört werden.
       
       11 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Alexei-Nawalny/!t5473156
   DIR [2] /Opposition-in-Russland/!5739404
   DIR [3] /Alexej-Nawalny-gruendet-Stiftung/!5866789
   DIR [4] /Irina-Scherbakowa-ueber-Putin/!5835133
   DIR [5] /Frankfurter-Buchmesse-und-die-Ukraine/!5887457
   DIR [6] /Asyl-fuer-russische-Kriegsverweigerer/!5895804
   DIR [7] https://www.youtube.com/channel/UCsAw3WynQJMm7tMy093y37A
   DIR [8] /Internationale-Vertraege-der-Ukraine/!5047465
   DIR [9] /Ein-Jahr-Minsk-II-in-der-Ostukraine/!5273569
   DIR [10] /Friedenspreis-fuer-Ukrainer-Serhij-Zhadan/!5886920
   DIR [11] /Krieg-in-der-Ukraine/!5907226
   DIR [12] /Wagner-Soeldnertruppe-in-der-Ukraine/!5908629
   DIR [13] /Krieg-in-der-Ukraine/!5905348
   DIR [14] /Autor-Andrej-Kurkow-im-Gespraech/!5882776
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Wladimir Putin
   DIR Russland
   DIR Gulag
   DIR Sowjetunion
   DIR Demokratie
   DIR wochentaz
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Russland
   DIR Sowjetunion
   DIR Nordstream
   DIR Robert Habeck
   DIR Buch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Prozess gegen Alexei Nawalny: Der Preis für Veränderung
       
       Dem Kremlkritiker drohen weitere 30 Jahre Lagerhaft. Wer in Russland für
       Freiheit kämpft, ist bereit, selbst in Unfreiheit zu leben.
       
   DIR Koenen-Buch „Im Widerschein des Krieges“: Blackbox deutsch-russische Beziehung
       
       Gerd Koenen war Aktivist im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, heute
       ist er Russlandexperte. Über den Analytiker des Totalitären.
       
   DIR Repression gegen Dissidenten in Russland: Bestenfalls drei Jahre
       
       In Russland sind Oppositionelle der Willkür von Justizbeamten ausgesetzt.
       Sascha Skotschilenko und Dmitri Skurichin protestierten gegen den Krieg in
       der Ukraine – und werden auf unbestimmte Zeit inhaftiert.
       
   DIR Russische Propaganda in Wochenzeitung: Kampf der Patrioten
       
       Wer russische Medien liest, erlebt ein Feuerwerk von Lügen und
       Verdrehungen. Die Berliner Stadtbibliothek legt eines dieser Medien aus.
       
   DIR Opposition in Russland: 25 Jahre für einen „Feind des Volkes“
       
       Der Politiker Wladimir Kara-Mursa war unter anderem wegen Staatsverrats
       angeklagt. Am Montag ist das Urteil in Moskau gefallen: 25 Jahre Haft.
       
   DIR Inhaftierter Kreml-Kritiker Nawalny: Sie könnten ihn vergiften
       
       Alexei Nawalny muss in Russland erneut in Isolationshaft. Für den Kreml
       wäre der Zeitpunkt günstig, um sich des unliebsamen Häftlings zu
       entledigen.
       
   DIR Russischer Dissident Warlam Schalamow: Kontakt mit der Vergangenheit
       
       Schriftsteller Warlam Schalamow überlebte den sowjetischen Gulag. Seine
       Briefe sowie seine Biografie geben Einblicke in eine Poetik des Schreckens.
       
   DIR Seymour Hersh zur Nord-Stream-Sprengung: Pulitzerpreisträger auf Abwegen
       
       Wer sprengte die Nord-Stream-Pipelines? Seymour Hersh glaubt darauf eine
       Antwort gefunden zu haben. Leider missachtet er journalistische Standards.
       
   DIR Robert Habeck über Klimapolitik und Krieg: „Lassen wir das Rumnölen!“
       
       Die Räumung von Lützerath sei richtig gewesen. Warum er der Klimabewegung
       trotzdem dankbar ist, sagt Vizekanzler Robert Habeck im taz-Gespräch.
       
   DIR Frankfurter Buchmesse und die Ukraine: Hoffen auf den Sturz Putins
       
       Wie geht Literatur in Zeiten des Krieges? Russische Dissidenten und
       ukrainische Schriftsteller sprechen auf der Frankfurter Buchmesse.