URI: 
       # taz.de -- Letzte Ausgabe der Zeitschrift Transit: Die liberale Weltordnung löst sich auf
       
       > Mit der 50. Ausgabe stellt die Zeitschrift „Transit“ ihr Erscheinen ein.
       > Zum Ende stellen die AutorInnen eine erschreckende Diagnose.
       
   IMG Bild: Krastev nennt die Migrationskrise „die Revolution unserer Zeit“
       
       „Ein Zeitalter wird besichtigt. 1989 revisited“ – so lautet der Titel der
       aktuellen Ausgabe der europäischen Revue Transit. Das Besondere daran ist,
       dass der historische Rückblick mit dem Rückblick auf die eigene Geschichte
       zusammenfällt. Denn diese 50. Ausgabe ist die letzte Ausgabe dieser
       Zeitschrift, die 1990 zum ersten Mal erschien. Transit ist – oder wie man
       nunmehr sagen muss: war – die Zeitschrift des „Instituts für die
       Wissenschaften vom Menschen“, das in Wien angesiedelt ist. Wien ist kein
       zufälliger Ort für das Institut. Denn 1982, zur Zeit seiner Gründung, war
       Wien das Tor zum Westen beziehungsweise das Tor zum Osten – je nach
       Perspektive.
       
       Das Institut mit seiner strikt antikommunistischen Agenda trat durch dieses
       Tor in den Westen – und eröffnete damit zugleich einen Blick in jenen Teil
       des Kontinents, der damals hinter dem Eisernen Vorhang lag. In diesem Sinne
       verstand sich Transit als europäische Revue in einem emphatischen,
       programmatischen Sinn: als Medium einer „europäischen Selbstverständigung“,
       wie der Herausgeber Klaus Nellen in dieser letzten Ausgabe noch einmal in
       Erinnerung ruft.
       
       Transit – das war aber nicht nur ein geografisch-politischer, sondern
       ebenso ein gesellschaftlicher Transmissionsriemen. Hier publizierten
       hochrangige Spezialisten, Professoren, die hier aus dem rein akademischen
       Diskurs hinaus- und in eine breitere öffentliche Auseinandersetzung
       eintraten. So versammelt auch diese letzte Ausgabe ein Who-is-who von Ivan
       Krastev, Karl Schlögel, Claus Leggewie, Claus Offe über Timothy Garton Ash
       bis hin zu weniger bekannten, aber nicht weniger kompetenten „Ost“-Autoren
       wie etwa Jiří Přibáň.
       
       Es ist erstaunlich, dass die erste und letzte Ausgabe dieser europäischen
       Revue so viele Eckpfeiler markieren: jene der Zeitschrift, jene des
       Instituts – das nach dem Tod seines Gründers Krzysztof Michalski mit
       Shalini Randeria nicht nur eine neue Leiterin, sondern auch eine neue
       Ausrichtung erfahren hat – und jene einer historischen Epoche.
       
       ## „Postutopische politische Normalität“
       
       So fiel die erste Ausgabe 1990, unmittelbar nach der „Wende“, mit dem
       Beginn der „liberalen Weltordnung“ zusammen. Mit jenem „Ende der
       Geschichte“ Fukuyamas, das laut Ivan Krastev nichts anderes besagte als
       eine „postutopische politische Normalität“, die sich ab nun etablieren
       sollte.
       
       In dieser 50. Ausgabe konstatieren nun alle Autoren unisono, dass die
       „politische Normalität“ der liberalen Weltordnung dabei sei, sich
       aufzulösen. Damals schien es ausgemacht, dass der Aufbruch, die
       Transformation, der Transit des ehemaligen Ostblocks die Imitation des
       Westens bedeuteten. Stattdessen aber seien diese Länder, so Krastev, zu
       „politischen Mutanten“ geworden. Die Zeit sei aus den Fugen – das ist der
       Tenor und die Stimmungslage.
       
       Schon damals, am Beginn, begegnete Transit dem hoffnungsvollen, offenen
       historischen Moment mit einem Fragezeichen: „Osteuropa – Übergänge zur
       Demokratie?“ lautete der erste Transit-Titel. Denn schon damals war klar,
       dass es zwei 1989 gibt – jenes von Václav Havel und jenes der
       Kaczyński-Brüder. Nach 25 Jahren der „Great Transformation“ (Ash) sehen wir
       heute den Gegenschlag, den Backlash: Das andere 1989 schlägt zurück – im
       Gewand des Illiberalismus. Was wir heute erleben, ist die Rückkehr der
       „alten ethnischen, religiösen, tribalistischen Identitäten“ (Krastev).
       
       Im Heft werden verschiedenste Erklärungen für diese Entwicklung genannt:
       der brutale Neoliberalismus, der ohne soziales Netz einen „hohen
       menschlichen Preis“ (Ash) gefordert habe. Ebenso genannt wird die
       europäische Integration, die durch den Transfer von ökonomischen
       Entscheidungen nach Brüssel eine Art nationale Souveränitätslücke eröffnet
       hat, zu deren Füllung einzig noch Identitätspolitik bereitsteht. Was all
       dies aber so drastisch beschleunigt hat, ist das, was Krastev „die
       Revolution unserer Zeit“ nennt: die Migrationskrise.
       
       Die Flüchtlingsfrage ist nicht nur ein zentraler Bezugspunkt fürs
       europäische Selbstverständnis, wie Nellen schreibt. Sie ist nicht nur das,
       was die EU spaltet – gerade entlang der Linie, entlang der Gräben des
       Kalten Krieges. Die Flüchtlingsfrage ist auch das, was gerade im Osten
       (aber zunehmend auch im Westen) die soziale Frage durch populistische
       Identitätspolitik ersetzen lässt.
       
       ## Ein transatlantisches Phänomen
       
       Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass viele Autoren die Haltung der
       ehemaligen Ostblockländer in dieser Frage aus der speziellen Geschichte,
       aus den speziellen Erfahrungen mit multikulturell gemischten Gesellschaften
       erklären – und zugleich die westlichen Gesellschaften mit ihrer so anderen
       Geschichte, mit ihren so anderen Erfahrungen ein sehr ähnliches Resultat
       hervorbringen: den Populismus – der heute nicht nur ein transeuropäisches,
       sondern sogar ein transatlantisches Phänomen ist.
       
       In diesem Sinne muss man nachdrücklich feststellen, dass das, was Transit
       hier eröffnet, nicht irgendwo in der Peripherie des Kontinents, sondern
       mitten in Europa, mitten in der EU stattfindet. Und es könnte drohen, dass
       heute der Westen zum Imitator dieses Ostens wird – ein Gedanke, der gerade
       in Wien, angesichts der neuen österreichischen Regierung, durchaus
       plausibel erscheint.
       
       Die Autoren öffnen den Blick dafür, dass Veränderung möglich ist – gerade
       jene der Demokratie, die nie vor der totalitären Versuchung gefeit ist. Was
       sich hier abzeichnet, ist die Entkoppelung von Demokratie und Liberalismus.
       Entgegen der „postutopischen Normalität“ ist diese keine unauflösliche
       Verbindung. Was uns aus dem Osten entgegentritt, ist das Bild einer
       illiberalen Demokratie. Es könnte unser aller Zukunft sein.
       
       In dieser Zukunft wird die Zeitschrift Transit fehlen. Es ist ein Jammer.
       
       20 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
       ## TAGS
       
   DIR Zeitschriften
   DIR Transit
   DIR Kalter Krieg
   DIR Transformation
   DIR Politisches Buch
   DIR Oskar Lafontaine
   DIR Lesestück Interview
   DIR Populismus
   DIR Fortschritt
   DIR Claude Lanzmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wiederauflage von britischem Essayband: Aquarium oder Fischsuppe
       
       Der Essayband des britischen Historikers Timothy Ash über die Wende in
       Mittel- und Osteuropa war 1990 ein Erfolg. Er wurde noch einmal aufgelegt.
       
   DIR 30 Jahre Mauerfall: Geistiges Kleingärtnertum
       
       Die westdeutsche Linke träumte von Revolutionen. Doch als 1989 eine vor
       ihrer Haustür geschah, war sie überfordert.
       
   DIR Aleida Assmann über Europa: „Etwas Großartiges geschafft“
       
       Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann plädiert für ein polyphones
       Erzählen in Europa. In der EU brauche es jetzt den Willen zu einer
       gemeinsamen Erinnerung.
       
   DIR Kolumne Knapp überm Boulevard: Die homogene Gesellschaft – ein Fake
       
       Der Populismus wird immer wieder neue Nicht-Zugehörigkeiten ausmachen.
       Viktor Orbán hat das bereits vorgemacht​.
       
   DIR Debatte Gesellschaftlicher Fortschritt: Nach dem Ende der Erlösungsutopien
       
       Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts sind Geschichte. Nach dem
       Konkurs der Erlösungsfantasien sind wir auf uns selbst zurückgeworfen.
       
   DIR Kolumne Bestellen und Versenden: Genozidal, am genozidalsten
       
       Das neue Buch von Timothy Snyder stellt die Singularität des Holocausts in
       Frage. Dem kann man nur begegnen, indem man auf der Unvergleichlichkeit
       beharrt.
       
   DIR Schriften zu Zeitschriften: Die Flucht ins Private
       
       Die aktuelle Ausgabe der Kulturzeitschrift "Transit" wirft vor der
       Präsidentenwahl ein analytisches Licht auf den Wandel in Russland: Die
       Aussichten sind deprimierend.