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       # taz.de -- Letzter EU-Gipfel der Kanzlerin: Merkel hinterlässt geschwächte EU
       
       > Lange hat die Bundeskanzlerin der EU ihren Stempel aufgedrückt. Doch die
       > Gemeinschaft hat viele Risse bekommen, die es zu kitten gilt.
       
   IMG Bild: Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag bei der Regierungserklärung zum EU-Gipfel
       
       Brüssel taz | Wilde EU-Gipfel hat Angela Merkel schon viele erlebt. Mal
       galt es den Euro zu retten, mal wollte sie Griechenland rauswerfen. Oft
       dauerten die Gipfelrunden bis tief in die Nacht. Beim Corona-Krisentreffen
       im Juli 2020 hängte die Kanzlerin sogar ein paar Tage dran, um eine
       Einigung zu erzwingen.
       
       Doch der vermutlich letzte EU-Gipfel ihrer Amtszeit – er hat am Donnerstag
       in Brüssel begonnen – setzt noch einmal einen schrillen Akzent: Merkel
       bekennt sich zu den LGBT-Rechten! Gemeinsam mit 15 weiteren Staats- und
       Regierungschefs hat sie einen Brief geschrieben, in dem sie für Toleranz
       wirbt und Ungarn maßregelt.
       
       „Anlässlich der Feier des International Lesbian Gay Bisexual and
       Transgender Pride Day am 28. Juni“, hebt das ungewöhnliche Schreiben an.
       Und es endet mit einem Bekenntnis zum Schutz der Persönlichkeit „einer
       jeder Bürgerin und eines jedes Bürgers, [1][einschließlich ihrer sexuellen
       Orientierung und Geschlechtsidentität“].
       
       So politisch korrekt und sexuell aufgeschlossen hat sich Merkel noch nie
       präsentiert – schon gar nicht im Kreise der EU-Granden, die sich sonst nur
       mit hoher Diplomatie befassen und staubtrocken reden. Fast wirkt es, als
       wolle die CDU-Politikerin ihrer EU-Bilanz zum Schluss noch einen bunten
       Regenbogen aufsetzen. Doch wie ernst ist dieses späte Bekennerschreiben für
       sexuelle Vielfalt wirklich gemeint? Was können sich LGBT und andere
       Minderheiten in Ungarn von dem Appell kaufen – denn bis zuletzt hat Merkel
       ihre schützende Hand über Regierungschef Viktor Orbán gehalten?
       
       ## Merkel und das „deutsche Europa“
       
       Was bleibt von Merkels Europapolitik – außer schönen Worten? „Ich bin
       überzeugt, dass wir nur zusammen als Staatengemeinschaft erfolgreich die
       Herausforderungen der Pandemie wie auch der anderen großen Aufgaben
       meistern können“, hat die Kanzlerin im Bundestag erklärt.
       
       In der Praxis hat Merkel jedoch oft völlig anders agiert – nicht gemeinsam
       mit EU-Partnern, [2][sondern im deutschen Alleingang]. Das fing mit der
       Weltfinanzkrise 2008 an, setzte sich in der Eurokrise fort – und mündete im
       Vorwurf des Soziologen Ulrich Beck, mit ihrer machiavellistischen Politik
       habe sie das „deutsche Europa“ errichtet, mit dem Kanzleramt als
       EU-Regierung.
       
       In Berlin streitet man das ab, Merkel wohlgesonnene Denker, wie der
       Politikwissenschaftler Herfried Münkler, sehen Deutschland als
       ausgleichende „Macht in der Mitte“. Fest steht, dass sich Merkel in der
       Eurokrise den Ruf einer eisernen Zuchtmeisterin erworben hat, die erst dann
       nachgibt, wenn sie ihren Willen bekommen hat.
       
       Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron wollte das zunächst nicht glauben.
       Er umwarb die Kanzlerin mit Elogen auf die deutsch-französische
       Freundschaft und mit Visionen für eine europäische „Renaissance“. Doch
       Merkel schlug erst ein, als es gar nicht mehr anders ging und die EU in der
       Coronakrise zusammenzubrechen drohte.
       
       ## Der Corona-Aufbaufonds – gut, aber sehr teuer
       
       Immerhin: Der [3][mit Macron ersonnene Corona-Aufbaufonds] gilt heute als
       Merkels Meisterwerk. Manch einer spricht – in Anspielung auf Alexander
       Hamilton, einen Gründervater der USA, – sogar von einem Hamilton-Moment,
       der den Weg zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ ebnen könne. Erstmals
       darf die EU hohe Schulden aufnehmen.
       
       Doch die „Next Generation EU“ ist nicht solide gegenfinanziert. Die
       Rückzahlung der Schulden (bis zu 800 Milliarden Euro) könne künftige
       Generationen belasten, kritisiert der CSU-Finanzpolitiker Markus Ferber.
       Zudem bringen viele nationale Programme, die aus dem EU-Topf bezahlt
       werden, kaum europäischen Mehrwert, wie die Grünen monieren. Auch der
       deutsche Plan sei misslungen.
       
       Merkel habe die Chance verpasst, die EU neu aufzustellen, beklagt die
       europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner.
       Tatsächlich ließ der deutsche EU-Vorsitz im zweiten Halbjahr 2020 klare
       Perspektiven missen. Merkel erwies sich einmal mehr als erfolgreiche
       Krisenmanagerin, aber nicht als Visionärin.
       
       Wenn sie im Herbst das Kanzleramt verlässt, wird die EU schwächer und
       gespaltener sein denn je. Die Briten sind ausgestiegen, Ungarn und Polen
       haben die innere Kündigung vollzogen, das gemeinsame Wertefundament
       bröckelt. Wird das späte Bekenntnis zu LGBT-Rechten daran etwas ändern? Man
       kann es nur hoffen.
       
       24 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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