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       # taz.de -- Linke Coronaleugner: Macht’s wieder gut, Genoss*innen!
       
       > Warum nimmt Corona bei manchen Linken einen so schweren Verlauf? Selbst
       > die gute alte internationale Solidarität hat keine Chance.
       
   IMG Bild: Auf der Intensivstation statt im Debattierzirkel: eine Krankenschwester in Bergamo
       
       Zwei alte Freunde habe ich im letzten halben Jahr an Corona verloren. Sie
       erfreuen sich zwar noch bester Gesundheit – allerdings inzwischen ohne
       mich. Mit Freund 1, den ich seit 25 Jahren kannte, teilte ich im Grunde
       meine komplette linke Sozialisation: Endlose Plena im Uni-AStA, Blockaden
       in Gorleben, ungezählte Demos und genüssliche Enteignungen von allzu
       kapitalistischen Symbolen wie Mercedessternen oder Messingschilder
       schlagender Burschenschaften mit anschließender Feedbackrunde bei viel
       Bier.
       
       Als ich zu Beginn des Lockdowns vorschlug, statt eines Treffens doch
       vorerst lieber zu telefonieren, erhielt ich von ihm folgende Nachricht:
       „das ist nur die instrumentalisierung eines normalen, alljährlichen
       virologischen geschehens, mit der alle zum mitspielen in einer gigantischen
       umstrukturierung gezwungen werden sollen. ich kann dich bei bedarf mit
       infomaterialen versorgen, falls du von deiner obrigkeitshörigkeit abfallen
       möchtest. wünsche einen milden verlauf – oder besser, daß dein hirn
       virusresistent werde!“ Ich antwortete mit einem beherzten „Fick dich“ und
       warf ihn umgehend aus meinem Leben.
       
       Freundin 2 bewegte sich seit jeher in avantgardistischen Politzirkeln und
       bezog ihre Informationen aus linkselitären Nischenpublikationen – was ich
       durchaus interessant und anregend fand. Und grundsätzlich waren wir uns
       einig in unserer Sicht auf die Welt. Doch auch bei ihr nahm Corona einen
       schweren Verlauf. Erst leugnete sie dessen Existenz, dann wähnte sie sich
       als Opfer einer Diktatur (die Belarussen hätten sicher Verständnis, dass
       ein Mundschutz eine deutlich größere Menschenrechtsverletzung darstellt als
       ein bisschen Haue von der Staatsmacht) und feierte irgendeinen
       Youtube-Schwurbel als alternative Wahrheit – weil ja „alle Medien
       selbstverständlich tendenziös und dubios“ seien. Was willste da noch sagen
       außer: Adieu?
       
       Vielleicht eint alle, die sich weit über die eigene Bequemlichkeit hinaus
       engagieren, eine bis tief an die Seele rührende Erkenntnis der Welt als
       etwas Mangelhaftes, das es an verschiedenen Stellen zu flicken gilt. Wobei
       ich um Gottes willen nicht meine, dass politisches Bewusstsein lediglich
       einer persönlichen Meise geschuldet sein muss. Der Wille, sich für ein
       Ziel, das größer ist als man selbst, für ein larger than life, in die
       Bresche zu schmeißen, ist und bleibt ehrenwert, auch wenn er meist von den
       Beibooten Eitelkeit, Helfersyndrom und Überheblichkeit flankiert wird –
       und ich nehme mich selbst da keinesfalls aus. Interessant ist aber, wie
       sich diese Anteile in der jeweiligen Persönlichkeit verteilen. Welche
       Module im jeweiligen Synapsengeflecht dafür sorgen, dass der eine so weit
       in der Spur respektive bei den Fakten bleibt, während der andere in die
       unendlichen Parallelrealitäten driftet.
       
       ## Rückzug ins Narrativ
       
       Bei meinen beiden Verlusten hatten sich irgendwann im Leben wohl mal ein
       paar unverrückbare Überzeugungen ins Bewusstsein einbetoniert: Dem Staat
       ist grundsätzlich nicht zu trauen. Wenn in meinem Leben mal was nicht rund
       läuft, folgt das natürlich einem höheren Plan. Alles Arschlöcher außer ich.
       Und ob Katholik, K-Gruppe oder Verschwörungsfreund – wer einmal in sehr
       hermetischen Denkgebäuden heimisch war, für den ist der Wechsel von einem
       Apartment ins nächste leider nur ein kurzer Weg. Fakten, Quellen und
       Stringenz fliegen in hohem Bogen aus dem Fenster, die stören nur beim
       gemütlichen Rückzug allein aufs Narrativ. Natürlich möchte niemand für sich
       in Anspruch nehmen, eine Wurst zu sein, die von den komplexen
       Zusammenhängen dieser Welt kognitiv überfordert ist. Das hält die Seele
       nicht gut aus. Das Menschlein will halt Einigkeit, verstanden werden, sich
       ins Rudel kuscheln und gerne auch mal recht haben. Das wollen wir alle. Und
       auch mal ein bisschen wichtig sein. [1][Am Rad der Weltgeschichte]
       mitdrehen oder gar zur Elite gehören, die vor allen anderen kapiert hat,
       wie’s wirklich läuft.
       
       So weit, so verständlich. Aber wenn das so weit geht, dass man, statt sich
       mit glasharten Fakten auseinanderzusetzen, sich in eine Weltverschwörung
       hineinfabuliert, in der auch der größten Abstrusität mehr Gewicht und
       Wahrheitsgehalt zugesprochen wird als einer Meldung vom RKI, dann spricht
       das zwar für einen beeindruckenden Reichtum an Fantasie, aber ganz sicher
       nicht für die Kompetenz, hier irgendwas zu reißen, was die Welt
       voranbringt. Selbsterhalt und Endorphinausschüttung sind Trumpf, wenn es
       gilt, das Gefühl der eigenen Wurstigkeit unter allen Umständen zu
       vermeiden.
       
       Das, was Hannah Arendt „das Bekenntnis zur gemeinsamen Fiktion“ genannt
       hat. Die eigene Überhöhung als Speerspitze der Avantgarde – das fühlt sich
       natürlich ungleich geiler an [2][als einfach nur ekelhaft] staatsbürgerlich
       die Maßnahmen der Regierung abzunicken. Weil es mir Schlafschaf und
       Obrigkeitsknechtin halt an Vorstellungskraft mangelt, wie man eine Seuche
       besser in den Griff bekäme, ohne dass das komplette Land wirtschaftlich und
       demokratisch vollends in die Grütze geht. Unter meinen ehemaligen Freunden
       schießt das Adrenalin also in ungeahnte Höhen – nach langer Zeit der
       politischen Küchentischabende ist auf der Straße endlich mal wieder
       richtig was los: Es gilt Feinde zu bekämpfen, Kriege zu führen,
       Landgewinne zu verzeichnen – und man selbst ist ganz vorne dabei.
       Ich-will-jetzt-so-fort-meine-Re-vo-lu-tion!, krakeelt es aus der Sandkiste,
       in der sich die ehemals linken Ehemalsfreunde inzwischen mit Nazis und
       Vollspinnern Eimerchen und Schaufel teilen.
       
       Unter Menschen, die ich bis Anfang des Jahres also noch für gestandene
       Linke mit gut abgewogenen Ideal- als auch Pragmatismus gehalten hatte, hat
       die grundsätzliche Skepsis gegenüber Staatsorganen und Exekutive (die ich
       durchaus teile), dank Corona nun endgültig klinisch-paranoides Terrain
       erobert. Natürlich kann/darf/muss man jede einzelne Maßnahme genau
       betrachten, überprüfen, gegebenenfalls kritisieren und bisweilen auch laut
       dagegen anzetern. Und das ist ja auch ohne Einschränkungen möglich. Vor
       zwei Wochen demonstrierten Zehntausende gegen die Coronamaßnahmen der
       Regierung. Und ich erfuhr mit Schrecken, dass sich dort auch ehemalige
       Freunde tummelten.
       
       ## Schwestern und Brüder in Brasilien
       
       Leute, ihr findet also nichts dabei, Seit an Seit, die Reihen fest und
       infektiös geschlossen, mit Nazis, Reichsbürgern und ausgewiesenen
       Demokratiefeinden gegen eine angebliche Diktatur auf die Straße zu gehen?
       Deren Existenz sich allein schon dadurch negiert, dass ihr diesen Irrsinn
       überhaupt betreiben könnt, ohne größere Sanktionen befürchten zu müssen.
       Nicht euer Ernst, oder? Ich erlebe, wie Genoss*innen den Schwurbel von Ken
       Jebsen mit begeisterter Leseempfehlung durch die sozialen Medien jagen und
       das immergleiche Lied von der Grippe, die weitaus schlimmer als Corona sei
       und die weitaus mehr Leben dahinraffe, chorisch mitgrölen. Und dabei neben
       frappierender Parallelrealität auch noch einen Egoismus an den Tag legen,
       dass es einer Sau graust.
       
       Wo ist sie denn geblieben, die seit Jahrzehnten auf jeder Demo laut
       skandierte, internationale Solidarität? Und wenn sie schon nicht für Oma
       Else aus Sachsen-Anhalt gilt, der man vielleicht keine potenziellen Viren
       entgegenrotzen sollte, dann doch wenigstens den unterprivilegierten
       schwarzen Schwestern und Brüdern in Brasilien, die unter dem faschistischen
       Bolsonaro-Regime zu Tausenden verrecken und sich mutmaßlicher nichts
       sehnlicher wünschen als die Maßnahmen in der „Meinungsdiktatur“ BRD?
       
       Kann man sich nicht allein schon aus diesen Gründen mal kurz einen
       Staubsaugerfilter vor die Visage schnüren, um zu signalisieren: Hier geht’s
       um mehr als nur um meine eigene Bequemlichkeit? Wo allein die bereits ein
       zutiefst neoliberaler Markenkern ist, der sich unter Linken normalerweise
       schon von selbst verböte. Und ist es nicht ungleich viel aufwändiger, sich
       all diesen Schwurbelkram einigermaßen sinnhaft zusammenzubasteln, als sich
       einfach nur an Fakten zu halten? Die ihr ja keineswegs leugnet, wenn es um
       den Klimawandel geht. Also, stellt eure Hirne gefälligst wieder auf die
       Vor-Corona-Werkseinstellungen zurück! Denn Bekloppte gab’s auch vorher
       schon mehr als genug.
       
       17 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Therapeut-ueber-Coronaproteste/!5686903
   DIR [2] /Coronaleugner-in-Berlin/!5710766
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tania Kibermanis
       
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