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       # taz.de -- Linke gegen Linke in Großbritannien: „Corbyn hat keine Fehler gemacht“
       
       > Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn tritt bei Großbritanniens Neuwahlen
       > erneut an – gegen seine alte Partei. Ein Ortsbesuch bei seinen
       > Stammwählern.
       
   IMG Bild: Jeremy Corbyn mit Fans nach dem Einreichen seiner Kandidatur für Islington North als „Unabhängiger“, 5. Juni
       
       London taz | Eigentlich wird Fondhill Road in der Nähe des Nordlondoner
       Bahnhofs Finsbury Park von Menschen aufgesucht, die nach Hochzeitskleidern
       suchen. Die Läden heißen „New Girl“, „Cinderella“ und „Bridal Originals“
       und die Glitzerware stammt aus Bangladesch, Indien oder der Türkei.
       
       Doch dieser Tage tragen die Besucher des „London Fashion Centre“
       Sweatshirts, Jeans und Second-Hand-Klamotten, manche auch eine Kefiyah. Sie
       wollen gar keine Kleider kaufen. Sie gehen in den ersten Stock, wo ein
       freundlicher Mann im Gewerkschafts-T-Shirt die Besucher begrüßt. Das Büro
       gehört einer Stiftung zur Unterstützung britischer Strafgefangener, doch
       bis zum 4. Juli befindet sich hier das Wahlkampfbüro von [1][Jeremy
       Corbyn].
       
       Der inzwischen 75-Jährige, Galionsfigur der Labour-Linken und bei den
       beiden letzten britischen Wahlen 2017 und 2019 als Labour-Parteichef
       Anwärter auf das Amt des Premierministers, kandidiert bei Großbritanniens
       Neuwahlen am 4. Juli erneut in seinem Wahlkreis [2][Islington North], den
       er seit 1983 im Unterhaus vertritt. Aber er kandidiert nicht mehr für
       Labour, sondern gegen Labour.
       
       Nachdem sein Nachfolger Keir Stamer ihn erst aus der Parlamentsfraktion
       ausschloss, nachdem die britische Menschenrechtskommission 2020 [3][einen
       vernichtenden Untersuchungsbericht] über die Duldung von Antisemitismus bei
       Labour unter Corbyns Führung veröffentlichte und ihn dann nicht mehr zur
       Wiederwahl aufstellte, kündigte Corbyn seine Kandidatur als Unabhängiger im
       eigenen Namen an. Das beendete automatisch seine lebenslange Mitgliedschaft
       bei der Labour Party.
       
       ## 33jähriger Labour-Kandidat gegen den 75jährigen Corbyn
       
       Für Labour tritt jetzt in Islington North der junge Unternehmer [4][Praful
       Nargund] an. Er ist 33, so alt wie Corbyn bei seiner ersten Wahl ins
       Parlament 1983. Er ist bereits Labour-Gemeinderat und betreibt mit seiner
       Mutter Kliniken zur künstlichen Befruchtung. Auf seiner Internetseite
       beschreibt er sich als eine Person, die sich für sozial gerechten Zugang
       zur IVF-Behandlung einsetze. Bisher scheint er größere Interviews vermieden
       zu haben. Sein Name ist auf der Straße kaum bekannt. Spricht man mit
       Wähler*innen, geht es immer nur darum, ob man wieder Corbyn wählen soll
       oder nicht.
       
       Beim unangemeldeten Besuch in Corbyns Wahlkampfbüro ist Corbyn selber
       gerade nicht da. Eine junge Frau, die dort aushilft, ist bereit, mit der
       taz zu sprechen – aber nur draußen und anonym. Sie ist eine Studentin und
       schwärmt von Corbyn. Er habe sich immer für Dinge vor Ort eingesetzt,
       beginnt sie und nennt als Beispiel das örtliche Krankenhaus. Corbyn stehe
       außerdem für grüne Investitionen. „Eine Stimme für Corbyn ist eine Stimme
       für uns alle, anders als eine Stimme für Labour oder die Konservativen.“
       Sie ist sauer auf die Labour-Führung, weil Starmer den Kreisverbänden nicht
       erlaube, Kandidat:innen selber zu bestimmen. „Damit ignoriert Labour
       riesige Bevölkerungsschichten“, behauptet sie.
       
       Glaubt sie denn nicht, dass Corbyn selber etwas falsch gemacht habe? Sie
       versteht, worauf die Frage gerichtet ist, und antwortet, dass Corbyn ein
       Antirassist sei. Es sei wegen seines Einsatzes für Palästina und gegen
       Zionismus „unter die Räder gekommen“, wie sie es ausdrückt. Israel ist für
       die Corbyn-Enthusiastin ein Kolonialstaat ohne Existenzberechtigung, weil
       er nur Jüdinnen und Juden vertrete.
       
       ## Gewohnt große Worte- auch ohne Partei
       
       In einem Wahlkampfvideo nennt Corbyn einige seiner Errungenschaften: die
       Verhinderung einer Autobahn durch Islington, Schaffung eines Parks, Bau von
       Sozialwohnungen. Sein Ausschluss aus der Labour-Kandidatur habe die gesamte
       Community entmachtet. „Wir müssen aufstehen und sagen, dass wir das nicht
       mehr akzeptieren, und auf unseren Rechte beharren“, erklärt er zu seiner
       Kandidatur als Unabhängiger. Dann spricht er, als ob er noch Labourchef
       wäre, von großen Plänen: Umverteilung des Reichtums, Verstaatlichung von
       Wasser, Post und Strom, Kontrollen des privaten Mietsektors.
       
       Überschätzt er sich da nicht als Kandidat ohne Partei? Corbyn sagt zu
       solchen Fragen immer in gewohnt großen Worten, seine Stimme solle den
       Premierminister zur Verantwortung ziehen, egal wer das ist. Es gehe
       schließlich um fundamentale Menschlichkeit und den Kampf für Frieden,
       Demokratie und soziale Gleichberechtigung.
       
       Dem vollbärtigen Labourmitglied Ahmed (Name geändert), 74, gefallen solche
       Worte. Er wird Corbyn wählen, auch wenn er damit gegen seine Parteiregeln
       verstößt, sagt er. Der Mann im weißen Gewand bezeichnet sich als einstiger
       bangladeschischer Freiheitskämpfer und vor seiner Haustür in der
       viktorianischen Reihenhaussiedlung in einer Straße, die auch noch Corbyn
       Street heißt, leiert er gestikulierend eine ganze Liste von Eigenschaften
       Corbyns herunter: hervorragend, prinzipientreu, glaubwürdig, ernst,
       ehrlich.
       
       ## Eine Frage der Definition
       
       „Es ist eine Schande, was Labour mit Corbyn machte“, findet er. „Es ist
       nicht wegen dem Antisemitismus gewesen, sondern weil er vom linken Flügel
       der Partei ist.“ Er sei zwar weiter für Labour, aber diesmal nehme er eben
       das Risiko in Kauf, Corbyn zu wählen, in der Hoffnung, dass selbst wenn
       Corbyn in Islington North gewinnt, Labour trotzdem landesweit genug Stimmen
       hat.
       
       Ein etwa 60 Jahre alter schwarzer Mann mit langen Dreadlocks will ebenfalls
       Corbyn wählen. An seinem Fenster hängt das Wahlplakat „Wählt Corbyn, eine
       unabhängige Simme für uns alle“ auf Labour-rotem Hintergrund. „Corbyn
       spricht vom Elend der Palästinenser“, erklärt er. „Nein, Corbyn hat keine
       Fehler gemacht. Es hängt doch alles davon ab, wie man Antisemitismus
       überhaupt definiert. Und überhaupt, Juden dienten unter den Nazis im
       Zweiten Weltkrieg und waren sogar im Ku-Klux-Klan“, verkündet er weiter.
       Als die taz diese Bemerkungen hinterfragt, will er seinen Namen nicht mehr
       nennen.
       
       Im Café der Grünanlage Elthorne Park erzählen Thomas und Jane, beide über
       70 Jahre alt, dass Corbyn sich einsetze, im Wahlkreis hart arbeite und
       dafür einen gute Rufe habe. „Man begegnet ihm hier oft auf der Straße“,
       sagt er.
       
       Auch andere nennen die Sichtbarkeit des Politikers als positives Attribut.
       Der 50-jährige Finanz-Tech-Experte Terry hebt Corbyns nicht so gepflegtes
       Aussehen als Zeichen höherer Glaubwürdigkeit hervor, gegenüber
       geschniegelten Politikern in Anzügen. Seine Weltsicht teile er nicht, aber
       er werde ihn wieder wählen, wegen seiner Arbeit für die Menschen.
       
       ## „Hängen gebliebener Altkommunist“
       
       Auf der anderen Seite der mehrspurigen Hauptstraße, die den Wahlkreis in
       zwei Hälften teilt, stößt man auf mehr Labour-Wähler:innen.
       Tech-Assistentin Zoe Rouen, 38, auf Gassitour mit Hund, sowie Denise
       Sengal, 49, mit Kind auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten, sprechen
       unabhängig voneinander von der Notwendigkeit einer Labour-Regierung für
       eine ausgeglichenere Gesellschaft. Corbyn sei nicht Labour und Labour müsse
       gewinnen, damit die Tories geschlagen werden können, sagen sie.
       
       Janet, pensionierte Lehrerin, sagt vor ihrer Haustür mit gelben
       Gummihandschuhen, dass sie kommunal grün wählt, für das Parlament aber zu
       Labour hält. Und Corbyn? „Er hat einige gute Ideen, aber er ist ein
       eigensinniger Mann, der nicht in der Lage ist, mit anderen
       zusammenzuarbeiten, weil er keine Kompromisse eingehen will“, sagt sie.
       Nicht mal beim Brexit-Referendum sei er bereit gewesen, sich der
       Pro-EU-Mehrheit der Labourmitglieder anzuschließen.
       
       Auch die 61 Jahre alte Künstlerin Nicole und ihr Nachbar Alan Sutton, der
       sich als Sozialist beschreibt, werden Corbyn nicht wählen. „In den 1980er
       Jahren, als ich jung war, fand ich sein Gegendenken noch interessant, doch
       seine spätere Parteiführung war katastrophal“, erinnert sich Nicole. „Er
       vertrat immer nur einzig seine Ansichten und jetzt als unabhängiger
       Kandidat erst recht.“ Sie kritisiert seine Sicht auf den Nahostkonflikt:
       „Hamas griff am 7. Oktober friedensbereite linke Kibbuze und junge Menschen
       auf einem utopischen Musikfest an. Corbyn beschrieb Hamas einst als
       Freunde.“
       
       Sutton findet, Corbyn sei ein in den 1960er Jahren hängen gebliebener
       Altkommunist. „Er will Russland nicht einmal für den Angriff auf die
       Ukraine verurteilen und sagt immer noch Nein zur Nato, selbst jetzt, wo
       Finnland und Schweden für die Mitgliedschaft stimmten.“
       
       ## „Ich werde auch diesmal konservativ wählen“
       
       Es gibt auch Menschen, die weder Corbyn noch Labour wählen wollen. Beim
       Gießen seiner Gartenpflanzen erklärt der 78-jährige Rentner Oliver Martin,
       78, er wähle die Konservativen. Früher ein Labour-Unterstützer, wählte er
       2019 Boris Johnson. „Ich werde auch diesmal konservativ wählen“, sagt er.
       „Starmer spricht mich nicht an, und Rishi Sunak hat doch inzwischen
       gezeigt, dass er Versprechen halten kann.“
       
       Er versteht auch nicht, dass Jeremy Corbyn nicht für Labour antreten darf,
       seine Parteifreundin [5][Diane Abbott] im benachbarten Wahlkreis
       [6][Hackney North] aber doch, obwohl sie Corbyns Ansichten teilt.
       
       2019 gewann Corbyn, damals noch als Labourkandidat, den Wahlkreis Islington
       North mit 64 Prozent der Stimmen, 2017 waren es sogar 73 Prozent. Diese
       Wahl wird das ultimative Urteil linksorientierter Londoner:innen über
       den ehemaligen Labourchef.
       
       16 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://jeremycorbyn.org.uk/
   DIR [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Islington_North_(UK_Parliament_constituency)
   DIR [3] https://www.equalityhumanrights.com/sites/default/files/investigation-into-antisemitism-in-the-labour-party.pdf
   DIR [4] https://www.prafulnargund.co.uk/
   DIR [5] https://en.wikipedia.org/wiki/Diane_Abbott
   DIR [6] https://en.wikipedia.org/wiki/Hackney_North_and_Stoke_Newington_(UK_Parliament_constituency)
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
       ## TAGS
       
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