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       # taz.de -- Literaturpreise gehen an Frauen: Das Jahr der Autorinnen
       
       > Alle wichtigen deutschen Literaturpreise wurden in diesem Jahr von
       > Schriftstellerinnen abgeräumt. Was ist da geschehen?
       
   IMG Bild: Eine von vielen ausgezeichneten Autorinnen: Inger-Maria Mahlke (Buchpreis 2018)
       
       Berlin taz | Den Leipziger Buchpreis [1][gewann im Frühjahr die Autorin
       Esther Kinsky, für „Hain“], ihren elegischen Roadtrip durch die Trauer und
       die Erinnerungen. Der Deutsche Buchpreis ging im Herbst an Inger-Maria
       Mahlke und ihren [2][ausholenden, zeitlich rückwärts erzählten Familien-,
       Insel- und Gesellschaftsroman „Archipel“]. Den [3][Büchnerpreis erhielt
       Terézia Mora] für ihr Gesamtwerk voller ziel- und zügelloser Figuren. Der
       Wilhelm-Raabe-Preis – er hat sich zuletzt in den oberen
       Aufmerksamkeitsbereich gespielt – [4][wurde 2018 Judith Schalansky
       verliehen], für ihren Prosaband „Verzeichnis einiger Verluste“. Und, tja,
       der Bachmannpreis schließlich ging an Tanja Maljartschuk.
       
       Das sind, alles in allem, ziemlich viele Preisträgerinnen. Tatsächlich
       lässt sich sogar sagen, dass bei den Gewinnerinnen der wirkmächtigsten
       Preise des deutschen Literaturbetriebs in diesem Jahr gendern gar nicht
       nötig ist. Die Preise wurden ausschließlich von Autorinnen geholt (mit ein
       paar Ausnahmen von der Regel: [5][Arno Geiger] etwa bekam den Bremer
       Literaturpreis).
       
       Nun kann das alles im nächsten Jahr wieder ganz anders sein. Und, um es mit
       den Worten der Kanzlerin zu sagen, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
       Aber der Befund verdient festgehalten zu werden; bislang wurden
       Preisträgerinnen oft noch als Ausnahme gesehen.
       
       Bei der Analyse dessen, was da jetzt passiert ist, kommt man um [6][#MeToo]
       nicht herum. Klar war 2018 ein besonderes Jahr, auch im Literaturbetrieb.
       Die in der Regel sorgfältig quotierten Preisjurys agieren nicht im
       luftleeren Raum. Doch bei keiner einzigen der Preisträgerinnen hat man das
       Gefühl, hier solle nach all den Missbrauchsenthüllungen einfach auch mal
       ein frauensolidarisches Zeichen gesetzt werden (was sogar legitim gewesen
       wäre). Vielmehr waren das durch die Bank interessante und nachvollziehbare
       Entscheidungen. Es kann also gut sein, dass sich 2018 prinzipielle
       Verschiebungen im Literaturbetrieb zeigten, die zuvor in dieser
       Deutlichkeit nur noch nicht in den Preisen zum Ausdruck gekommen waren.
       
       ## Überholte Begriffe von Weiblichkeit
       
       Dass sich innerhalb der Literaturszene gendermäßig inzwischen einiges
       verschoben hat, zeigt sich jedenfalls, wenn man nur mal versucht, jetzt mit
       Begriffen anzukommen, die zuletzt mit weiblichen Trends in Verbindung
       gebracht wurden. Sie passen nämlich vorne und hinten nicht mehr.
       
       Gut im Gedächtnis ist noch der Slogan von einem literarischen
       Fräuleinwunder. [7][Der Spiegel hat mit ihm 1999 eine neue deutsche
       Autorinnengeneration beschrieben]. Wer versucht ist, ihn nun angesichts der
       aktuellen Preisträgerinnen aus der Mottenkiste zu holen, würde sich als
       Kritiker schlicht lächerlich machen. Esther Kinsky, Terézia Mora,
       Inger-Maria Mahlke, Judith Schalansky, das sind gestandene Autorinnen;
       Verniedlichungen aller Art prallen schlicht an ihnen ab. Das Fräuleinwunder
       war ein vor 20 Jahren bereits fragwürdiger, aber innerhalb eines hegemonial
       männlichen Betriebs immerhin Aufmerksamkeit generierender Marketingbegriff.
       Heutzutage würde er nicht einmal mehr in dieser Hinsicht funktionieren.
       Seine misogynen Untertöne würden überdeutlich.
       
       Außerdem gibt es so ein Etikett wie „weibliches Schreiben“. Viele
       Mitglieder der gegenwärtigen Preisjurys werden es noch aus ihren
       Studienzeiten der Literaturwissenschaft kennen. Auch dieser Begriff passt
       längst nicht mehr. Zum einen wird man Schwierigkeiten haben, aus den
       jeweils höchst eigenwilligen Schreibansätzen der Preisträgerinnen überhaupt
       Gemeinsamkeiten herauszuinterpretieren. Und zum anderen hat der Begriff
       zumindest eine Schlagseite in die Richtung, männliches Schreiben als Norm
       zu setzen und weibliches Schreiben als besonders zu behandelndes,
       erklärungsbedürftiges Phänomen.
       
       ## Ist das schon Normalisierung? Mal sehen
       
       Davon kann aber nicht mehr die Rede sein. Zumal in einem Umfeld, in dem vor
       allem die weiblichen internationalen Literaturstars, von [8][Chimamanda
       Ngozi Adichie] über [9][Virginie Despentes] bis zu [10][Zadie Smith],
       Coolness und Glamour in die Szene bringen; in dem der Saisonbestseller der
       Herzen, „Töchter“, von der Autorin Lucy Fricke stammt; in dem ein Großteil
       des Weihnachtsgeschäfts von [11][Dörte Hansen und ihrer „Mittagsstunde“]
       abgeräumt werden wird.; und in dem die Romane, die 2018 tatsächlich
       gesellschaftliche Debatten anstoßen konnten, von [12][Manja Präkels
       geschrieben wurden („Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“]) und von
       [13][Anke Stelling („Schäfchen im Trockenen“)].
       
       Sagen wir es so: Ein so aufgestellter Literaturbetrieb ist nicht mehr
       derselbe wie der, in dem ein Suhrkamp-Verleger zu einer prominenten Autorin
       sagen konnte, emanzipierte Frauen würden ihn impotent machen (das ist
       tatsächlich geschehen, man muss ja auch mal sehen, aus welcher
       Vergangenheit der gegenwärtige Literaturbetrieb kommt). Und in einem so
       aufgestellten Betrieb kann eine Preisträgerinnenübermacht nun also auch mal
       vorkommen. Ob das schon die berühmte Normalisierung bedeutet? Mal sehen.
       
       Aber auch jenseits der Männer- und Frauenzählerei stellen sich Fragen. In
       einem Vortrag hat die Autorin Anke Stelling neulich darüber nachgedacht,
       was sie daran hindert, selbstverständlich „ich“ zu sagen und von den
       eigenen Erfahrungen auszugehen. Sie kam, grob zusammengefasst, zu dem
       Ergebnis, dass es eben auch die feinen Unterschiede sind, die dazu führen,
       dass literarische Erkundungen von Autorinnen im sozialen Nahbereich immer
       noch als „reine Frauenliteratur“ oder gleich als „Gedöns“ abgewertet
       werden.
       
       ## Souverän künstlerischen Raum einnehmen
       
       Wenn man aus dieser Perspektive die Preisträgerinnen dieses Jahres Revue
       passieren lässt, kann man tatsächlich etwas Interessantes feststellen:
       Offenbar wurden gerade diejenigen Autorinnen ausgewählt, die solche
       Abwertungen von vornherein nicht treffen können. Preiswürdig waren
       diejenigen Bücher, die in ihren Schreibweisen ganz souverän künstlerischen
       Raum einnehmen.
       
       Immerhin. Das kann nun aber – wofür die einzelnen Autorinnen gar nichts
       können – insgesamt auch den Effekt haben, dass durch die weiblichen
       Buchpreise eine strikte literarische Hochkultur wieder eingeführt wird, die
       zuletzt durch (männliche) Preisträger mit popkulturellen Schreibweisen
       produktiv durchgeschüttelt worden war. Ein Buchpreis für zum Beispiel Anke
       Stelling würde dagegen die Frage stellen, was politisches Schreiben heute
       ausmacht, und zugleich die Grenzen zwischen literarischer E- und U-Kultur
       wieder gut hinterfragen.
       
       Eine interessante Brückenfigur könnte auch Lucy Fricke sein, die allzu
       lange im toughen Unterhaltungssegment lief, deren ernsthafter Stilwille nun
       aber auch breiteren Kritikerinnenkreisen deutlich wurde. Und die, noch eine
       Preisträgerin, 2018 den Bayerischen Buchpreis bekam.
       
       Aber vielleicht sind das jetzt Überlegungen, die nur anzeigen, dass man
       sich an so eine Situation wie 2018 erst noch gewöhnen muss.
       
       9 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Esther-Kinsky-in-Leipzig-ausgezeichnet/!5489269
   DIR [2] /Deutscher-Buchpreis/!5542098
   DIR [3] /Schriftstellerin-Terezia-Mora-ueber-Fiktion/!5536490
   DIR [4] /Buch-Verzeichnis-einiger-Verluste/!5554118
   DIR [5] /Arno-Geigers-Unter-der-Drachenwand/!5490099
   DIR [6] /!t5455381/
   DIR [7] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-10246374.html
   DIR [8] /!572458/
   DIR [9] /Teil-2-der-Vernon-Subutex-Trilogie/!5485266
   DIR [10] /Zadie-Smiths-neuer-Roman-Swing-Time/!5442382
   DIR [11] /Kolumne-Wirtschaftsweisen/!5550402
   DIR [12] /Debuetroman-von-Manja-Praekels/!5472977
   DIR [13] /!5538404/
       
       ## AUTOREN
       
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