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       # taz.de -- Londoner Stadtplaner über Gentrifizierung: „Alles ist außer Kontrolle“
       
       > Die Mietpreise in London steigen ein Jahr nach den Olympischen Spielen
       > ins Unermessliche. Die Zustände des hässlichen 19. Jahrhunderts kehren
       > zurück.
       
   IMG Bild: Das Gesicht von Stratford hat sich durch Olympia verändert.
       
       taz: Herr Edwards, Londons konservativer Bürgermeister Boris Johnson hat
       Berlin kürzlich für seine niedrigen Mieten gelobt. Ist der Chef der Stadt
       mit den höchsten Immobilienpreisen in der EU zum Vorkämpfer der Mieter
       geworden? 
       
       Michael Edwards: Boris Johnson redet viel, wenn der Tag lang ist. Und das
       meiste davon hat nicht viel mit dem zu tun, was er macht. In London hat er
       jedenfalls nichts getan, um die Mietpreise zu senken.
       
       Vor einem Jahr begannen die Olympischen Spiele in London. Der frühere linke
       Bürgermeister Ken Livingstone hatte sie dem IOC als Möglichkeit verkauft,
       etwas für den Londoner Osten, das letzte große arme Gebiet der Innenstadt,
       zu tun. Immer wieder war von der „Legacy“, dem Vermächtnis der Spiele, die
       Rede. Was ist denn nun davon geblieben? 
       
       Heute werden eine Reihe von Dingen als Folge der Spiele verkauft, die damit
       gar nichts zu tun haben, die besseren öffentlichen Verkehrsmittel im Osten
       der Stadt etwa oder das Einkaufszentrum in Stratford. Das war alles längst
       geplant, bevor London den Zuschlag bekam. Originäres Ergebnis ist der
       Olympische Park, der aber erst diese Woche öffnet.
       
       Viele haben statt einer Verbesserung der Verhältnisse die Vertreibung der
       Armen aus dem East End befürchtet, also Gentrifizierung. 
       
       Die Gegend ist in der Tat unter starkem Gentrifizierungsdruck. Die
       Häuserpreise und die Höhen der Mieten sind vor und nach den Olympischen
       Spielen stark gestiegen. Dazu kommt die Politik von Newham, dem Bezirk, in
       dem das Olympiagelände liegt. Obwohl dort Labour regiert, konzentriert man
       sich im Rathaus darauf, immer mehr Menschen mit höherem Einkommen in den
       Bezirk zu locken.
       
       Ist das eine Besonderheit von Newham oder typisch für Labour-Politik? 
       
       Es ist ein extremer Fall, aber die Tendenz geht in anderen Labour-regierten
       Bezirken in dieselbe Richtung, etwa im benachbarten Hackney oder in
       Greenwich. Der Labour-Stadtrat von Tower Hamlets, ebenfalls im East End,
       versucht dagegen den Bau von Sozialwohnungen voranzutreiben.
       
       Wir müssen an dieser Stelle über das britische Mietrecht reden. Ist es
       richtig, dass es keine Mietpreiskontrolle gibt und die einzige Chance für
       Ärmere ist, eine Sozialwohnung zu bekommen? 
       
       Ja, das ist so, seit in den 1980er Jahren Margaret Thatcher sämtliche
       staatliche Mietpreisregeln aufgehoben hat. Noch dazu gibt es wenig
       Sicherheit. Die meisten Mietverträge mit privaten Vermietern laufen über
       sechs Monate. Wenn der Vermieter die Mieter danach draußen haben will,
       müssen sie sich etwas Neues suchen. Ein großer Teil der unteren und
       mittleren Einkommensgruppen würde gern städtische oder
       Genossenschaftswohnungen mieten, aber dafür gibt es lange Wartelisten. Es
       kann durchaus zehn oder fünfzehn Jahre dauern, bis man drankommt.
       
       Die andere Möglichkeit wäre zu kaufen. 
       
       Wenn man das Geld dazu hat. In Großbritannien liegt der Durchschnittspreis
       für Immobilien fünfmal so hoch wie das jährliche Familieneinkommen. Das
       kann man sich als Normalverdiener nicht leisten. Und in London ist das
       Problem noch größer. Der Anteil der Briten, die Wohneigentum besitzen, ist
       daher seit Ausbruch der Finanzkrise deutlich gesunken.
       
       Wohin zieht denn der ärmere Teil der Bevölkerung, wenn er sich das East End
       nicht mehr leisten kann – einfach weiter nach Osten, nach Barking und
       Dagenham? 
       
       Zum Teil. Manche verlassen London auch ganz. Andere leben in überfüllten
       Wohnungen. Es gibt sogar vereinzelte Fälle, wo sich Bewohner die Betten
       teilen: Der eine schläft nachts, der andere tagsüber …
       
       … wie die sogenannten Schlafburschen in Berlin zu Zeiten der
       Industrialisierung … 
       
       … ja, die Scheußlichkeiten des 19. Jahrhunderts kehren zurück. Dann dann
       haben wir im Osten und anderen Teilen Londons illegale Bautätigkeiten.
       Viele Häuser haben hier einen Garten. Dort werden dann kleine Gebäude
       errichtet – oder aber Garagen zu Wohnraum umgebaut und meist an Immigranten
       vermietet.
       
       Sie haben noch bei Ruth Glass studiert … 
       
       Ich hatte das Glück, bei ihr Soziologie zu lernen. Sie kam ja aus Berlin,
       war als Jüdin vor den Nazis nach London geflohen.
       
       Glass hat 1963 den Begriff „Gentrification“ erfunden, um die Umwandlung von
       Londoner Arbeitervierteln zu Mittelschichtsquartieren zu beschreiben. Jetzt
       gibt es zwar seit 50 Jahren Diskussionen über dieses Phänomen, dennoch ist
       in London ein Stadtviertel nach dem anderen gentrifiziert worden. Gibt es
       irgendwelche Grenzen? 
       
       Es gab zumindest eine kurze Zeit in den 1970er Jahren, als einige Londoner
       Bezirksverwaltungen Häuser, die auf dem Wohnungsmarkt angeboten wurden,
       aufgekauft und dort Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt haben, besonders
       in Camden und Islington – also den Vierteln, die Ruth Glass untersucht hat.
       Das hat Gentrifizierungsprozesse gebremst oder sogar umgekehrt. Bis heute
       sind in einigen Straßenzügen die positiven Effekte der damaligen Politik zu
       spüren. Aber dann kam Thatcher, seitdem schreitet die Gentrifizierung
       Londons unaufhaltsam voran. Gerade jetzt wird sie wegen der Spekulation auf
       dem Immobilienmarkt immer extremer. Besonders Häuser im Luxussegment werden
       von internationalen Investoren vermehrt aufgekauft, als seien sie
       Goldbarren, also als reine Vermögensanlage. Oft sind die Käufer nicht
       einmal daran interessiert, die Wohnungen zu vermieten. Die Gentrifizierung
       ist völlig außer Kontrolle geraten.
       
       In London hat nur eine Handvoll gegen die Spiele protestiert, in Brasilien
       gab es jetzt große Demonstrationen gegen die Fußball-WM und Olympia. Haben
       Sie mit Neid nach Rio de Janeiro geschaut? 
       
       Viele Londoner Bewohner sind von der Wohnungssituation extrem genervt;
       derzeit organisieren sich immer mehr Mieter, um längere Verträge oder
       niedrigere Mieten zu fordern. Es gibt Demonstrationen und andere Aktionen.
       Das wird zwar nicht wie in Brasilien – obwohl, man weiß ja nie. Zumindest
       möchte ich nicht, dass Sie den Eindruck gewinnen, hier gäbe es überhaupt
       keinen Widerstand gegen die Wohnungspolitik.
       
       31 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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