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       # taz.de -- Luftalarm in Kiew: Das Geräusch der Sirenen
       
       > In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gibt es fast alle zwei Stunden
       > Luftalarm. Sobald die Sirene heult, verspürt unsere Autorin Angst.
       
   IMG Bild: Bombenentschärfer untersuchen den Ort einer Explosion nach einem Einschlag in Kiew
       
       Man kann sich schwer vorstellen, dass ein Geräusch einen Brechreiz
       hervorrufen kann. Und doch ist es möglich. Für mich ist es das Geräusch der
       Sirenen bei Luftalarm. Seit vier Wochen höre ich es mindestens zehn Mal pro
       Tag.
       
       Die Sirene beginnt mit so einem fiesen Geräusch zu heulen, im Kopf dreht
       sich alles, und dann hast du das Gefühl, als ob dir irgendeine eiskalte
       Hand die Gurgel zudrückt. In dem Moment begreifst du, dass die Rakete schon
       abgefeuert wurde und in deine Richtung fliegt. Es ist nie klar, wo sie
       einschlagen wird, aber es besteht immer die Gefahr, dass es ganz in deiner
       Nähe passiert. [1][Dann hörst du eine Explosion oder zwei.] Entweder wurde
       die Rakete von der Flugabwehr zerstört. Oder sie ist irgendwo
       eingeschlagen. Schlimm ist es in beiden Fällen. Auch eine zerstörte Rakete
       ist gefährlich wegen ihrer Splitter. Auch die zerstören und töten.
       
       ## Raketen töten in Sekunden Leben
       
       Erst kürzlich war ich an so einem Ort, an dem eine Rakete herunterkam. Sie
       fiel in den Hof einer Wohnsiedlung. [2][Mit einem Schlag waren sechs Häuser
       zerstört]: vier fünfstöckige Wohnhäuser, eine Schule und ein Kindergarten.
       Innerhalb einer Sekunde war damit das alte Leben von Hunderten Menschen
       einfach weg. In eine dieser Wohnungen bin ich hineingegangen.
       
       Die Druckwelle der Explosion hatte alles zerstört, was in der Wohnung
       gewesen war, so, als sei es durch einen Fleischwolf gedreht worden. Töpfe,
       Gläser, Schuhe, Bücher, Schränke, Kleidung, Lebensmittel aus dem
       Kühlschrank. Die Splitter der Fensterrahmen waren in der ganzen Wohnung
       verteilt. Aber am meisten erstaunt hat mich das Omelett auf dem Herd,
       übersät von Glassplittern der kaputten Fensterscheiben. Nach dem, was mir
       der Wohnungsinhaber erzählte, konnte ich die Abfolge der Ereignisse
       rekonstruieren.
       
       Die junge Mutter kam morgens aus der Dusche, und bevor sie sich auf den Weg
       zur Arbeit machte, bereitete sie noch das Frühstück vor. Während sie ihren
       Morgenkaffee trank, sah sie aus dem Fenster, weil schon seit Sonnenaufgang
       Schüsse zu hören waren. In diesem Moment schlug eine Rakete direkt neben
       ihrem Haus ein.
       
       Tausende von winzig kleinen Glassplittern durchbohrten ihr Gesicht und
       ihren Körper, und auf ihrem weißen Frotteebademantel waren schnell überall
       rote Flecken zu sehen. Ihr Blut lief in die Küche, in die wenige Minuten
       später ihr Sohn und ihr Mann zum Frühstück kommen sollten. Die Frau hatte,
       anders als die Leute aus den Nachbarwohnungen, Glück. Sie hat überlebt.
       Solche Tragödien ereignen sich täglich in der Hauptstadt der Ukraine.
       
       Genau wie alle anderen Ukrainer bin auch ich sehr erschöpft von dem
       permanenten Gefühl der Angst und Gefahr. Aber jetzt ist nicht die Zeit für
       Selbstmitleid. Jeder in der Ukraine tut gerade alles, damit dieser Krieg
       bald beendet ist. Aber nur mit einem Ergebnis: [3][dem Sieg des Lichtes
       über die Dunkelheit] und die für immer zum Schweigen gebrachten Sirenen.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       Finanziert wird das Projekt durch die [5][taz Panter Stiftung]
       
       1 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Magasowa
       
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