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       # taz.de -- Magazin "Lettre" wird 20: Publizistischer Wahnsinn
       
       > "Deng, ich will die 'Lettre' auf dem Platz verkaufen!", hatte der Maler
       > Immendorff 1989 nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens
       > geschrieben. Jetzt wird das Blatt 20 Jahre alt.
       
   IMG Bild: Kosmopolitisches mit europäischem Akzent: Lettre-Macher mit neuer Ausgabe am Boden.
       
       BERLIN taz Die Lettre liegt am Boden: Auf dem Flur der Kreuzberger
       Fabriketage sind 50 ausgedruckte Heftseiten ausgebreitet - Fotografien,
       Collagen, Zeichnungen. Es sind die künstlerischen Beiträge zum Doppelheft,
       mit dem die deutsche Ausgabe der internationalen Zeitung für Kultur ihr
       20-jähriges Bestehen feiert.
       
       Frank Berberich, Gründer und Redaktionsleiter, schreitet die Reihe ab,
       zählt Namen aus aller Welt auf: Francesco Clemente, Shirin Neshat, Albert
       Oehlen, Nobuyoshi Araki. Alle fertigten zum Thema "The Way We Live Now"
       eigene Arbeiten an. "Das Heft wird ein Feuerwerk!", ruft der Mann mit dem
       grauen Schnäuzer, der Birkenstocks zum Streifenhemd trägt. Keine
       Reminiszenz an seine Vergangenheit als taz-Gründer, sondern um das Parkett
       zu schonen, wie er sagt. Und dann erst die Autorenliste! Berberich zitiert
       aus dem Gedächtnis, serviert zu den Namen Anekdoten. Wie ihm eine
       Buchmessebesucherin diesen chinesischen Straßenpoeten empfohlen hatte,
       "wunderbare Texte, müssen Sie lesen!", wie er die anonyme Birma-Buchautorin
       ausfindig machen konnte, "ein Glücksfall!"
       
       Berberichs Enthusiasmus steckt an. Schnell ist man mittendrin im Universum
       der Lettre International, dieser geradezu unglaublichen Ausnahmeerscheinung
       auf dem Zeitschriftenmarkt: sperriges Format, anspruchsvoller Inhalt, sehr
       viel Text. Ein Essay über russische Politik, eine Reportage aus Pakistan,
       Wissenschaftliches über Homer in Indien oder die Bedeutung der Melone in
       Magrittes Welt. Kosmopolitisches mit europäischem Akzent heißt das Konzept,
       alle Texte sind deutsche Erstveröffentlichungen. Rein publizistisch ein
       Wahnsinn.
       
       Und doch liegt Lettre nach 20 Jahren nicht am Boden. Fragt man Frank
       Berberich nach der finanziellen Lage, lächelt er. "Sie wollen über Ökonomie
       sprechen? Gut: Das ist ein im Kulturbereich unterschätztes Problem."
       Berberich legt los, wettert über den verbreiteten
       "Bewertungsfeuilletonismus", der die ökonomischen Bedingungen der
       Kulturproduktion schamvoll ausklammere. Lettre, sagt er, schreibe schwarze
       Zahlen, schließlich habe man immer ohne Zuschüsse wirtschaften müssen, die
       Anschubfinanzierung, die in den ersten Jahren von der Co-Eignerin taz kam,
       nicht mitgerechnet. Nach Gründung einer GmbH steht Lettre auf eigenen
       Beinen. Mit Anzeigen im Heft, bis heute nur fünf Angestellten und
       bescheidenen Honoraren. Auch für die AutorInnen und KünstlerInnen.
       
       Wie es trotzdem immer wieder gelingt, Weltstars wie Nadine Gordimer oder
       Jacques Derrida zu gewinnen? - Berberich lächelt wieder. Netzwerke, über
       Jahrzehnte gewachsene Freundschaften. Und ein gewisser Ruf: "Wer für Lettre
       schreibt, tut es nicht fürs Geld. Sondern, weil er ein Anliegen hat." In
       Lettre findet man differenzierte Berichte aus dem Irakkrieg, Alltagsszenen
       aus China - Überraschendes und Horizonterweiterndes aus vielen Sichtweisen.
       Lettre, das war stets Programm, betreibt Aufklärung für Intellektuelle in
       Zeiten der Globalisierung: "Wir müssen mehr von der Welt verstehen, wir
       wissen so wenig", sagt Berberich.
       
       Die Feuilletons lieben Lettre seit ihrem Ersterscheinen, aber sie kommt
       längst nicht überall so gut an. Stramme Linke finden sie zu elitär, Freunde
       des Populären zu vergeistigt, häppchengewöhnten Lesern sind die Texte zu
       lang. Berberich zuckt mit den Schultern: "Es gibt eine kritische Masse von
       Lesern, die sich orientieren wollen".
       
       Was die Lettre-Macher aber schmerzt, ist, auf wie viel Borniertheit ihr
       Konzept im vereinten Europa stößt: Sieben eigenständige Ausgaben auf
       Deutsch, Italienisch, Spanisch, Dänisch, Ungarisch und Rumänisch? Der
       radikal kosmopolitische Gedanke des Prager Exilpublizisten Antonin J.
       Liehm, der Lettre 1984 in Paris gründete, ist auch heute schwer
       vermittelbar. Einige Ausgaben, etwa in Russland, Mazedonien und England,
       mussten ihr Erscheinen aus Geldnot einstellen. Auch im Mutterland
       Frankreich gibt es Lettre nicht mehr. Und auch EU-Politiker schnauzten
       Berberich schon mit den Worten an: "Internationalität? Das ist doch kein
       Konzept!"
       
       Wer das sagt, hat nichts verstanden. Schließlich organisierten sich bereits
       Anfang des 20. Jahrhunderts der Kommunismus und die künstlerischen
       Avantgarde-Bewegungen international. Auf den Surrealismus beruft sich
       Lettre beim Versuch, bildende Kunst und Politik zusammenzudenken. In
       Berberichs Rücken hängt ein großes Gemälde von Jörg Immendorff. "Deng, ich
       will die Lettre auf dem Platz verkaufen!", hat der Maler geschrieben. Das
       Bild war Immendorffs Antwort auf das chinesische Massaker auf dem Platz des
       Himmlischen Friedens 1989. "Er war neugierig, er war ein Freund", sagt
       Berberich.
       
       Er lächelt nicht mehr, als er von denen erzählt, die nicht neugierig sind.
       Von 20 Jahren Missachtung durch die Berliner, die deutsche, die europäische
       Kulturpolitik. Der von Lettre initiierte erste weltweite Preis für
       Reportageliteratur, den 2003 Anna Politkowskaja gewann? - Nach vier
       erfolgreichen Jahren eingestellt, aus Mangel an Sponsoren. Eine
       Kunstausstellung mit Vortragsreihe zum Jubiläum? - Keine Förderung, kein
       Interesse. "Eine größere Missachtung als von institutioneller Seite kann
       man sich kaum vorstellen", sagt Berberich. Und geht hochmotiviert zur
       Layoutkonferenz. Für alle 18.700 LeserInnen. Für Europa.
       
       1 Jun 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Apin
   DIR Nina Apin
       
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