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       # taz.de -- „Marburger Modell“ für die Verkehrswende: „Das Geld hilft, Carsharing mal auszuprobieren“
       
       > Die Stadt Marburg bezahlt Menschen, die ihre Autos abmelden. Jeder
       > unbenötigte Parkplatz entlaste den Haushalt, erklärt Baustadtrat Michael
       > Kopatz.
       
   IMG Bild: Fürs Klima, für den Haushalt, für Straßenbäume: Die Stadt Marburg in Hessen will weniger Autos
       
       taz: Herr Kopatz, wer in Marburg sein Auto abmeldet, bekommt Geld dafür.
       Wofür denn das? 
       
       Michael Kopatz: Es gibt zunächst bis zu 800 Euro für das Carsharing. Gerade
       im innerstädtischen Raum besitzen viele Menschen ein Stehzeug – kein
       Fahrzeug: Die meiste Zeit steht das nur rum. Das Geld hilft, [1][Carsharing
       mal auszuprobieren].
       
       taz: Dazu gibt es Einkaufsgutscheine im Wert von bis zu 400 Euro. 
       
       Kopatz: Die können in mehr als 400 verschiedenen Läden in Marburg eingelöst
       werden. Der Umsatz verbleibt in der Stadt, die Gutscheine sind ein
       Instrument der Wirtschaftsförderung. Wer möchte, bekommt auch noch bis zu
       600 Euro für das Deutschlandticket. Insgesamt können Gutscheine im Wert von
       bis zu 1.200 Euro ausgewählt werden.
       
       taz: Und 50 Euro Klimabonus gibt es auch noch. Im Sommer lief das Programm
       an, wie ist die Resonanz? 
       
       Kopatz: Ausgezeichnet! Die ersten 50 Prämien waren im Nu beantragt, obwohl
       wir dafür nicht sehr große Werbung gemacht haben. Deshalb haben wir 50
       weitere ausgelobt.
       
       taz: Was sind das für Menschen, die mitmachen? 
       
       Kopatz: Ganz unterschiedliche. Da sind Leute aus den umliegenden Dörfern,
       die das Zweitauto abmelden, oder Jüngere, die in der Stadt gut an den
       öffentlichen Nahverkehr angebunden sind, sowie Ältere, die sowieso schon
       mit dem Gedanken gespielt haben, ihr Auto abzugeben.
       
       taz: Was hat die Stadt Marburg davon? 
       
       Kopatz: Vor allem Kostenersparnisse. Bei uns werden Quartiersgaragen
       gefördert. Hier kostet uns ein Parkplatz mindestens 30.000 Euro. Jeder
       Parkplatz, den wir nicht mehr benötigen, entlastet also den Finanzhaushalt.
       Zudem kostet uns die Unterhaltung eines öffentlichen Parkplatzes jährlich
       mehr als 300 Euro. Dazu kommen die externen Kosten für die Volkswirtschaft.
       
       taz: Welche sind das? 
       
       Kopatz: Beispielsweise die Kosten für das Gesundheitssystem:
       Schadstoffbelastung oder [2][Lärm machen krank]. Betrachten Sie die
       Landschaftszerschneidung oder die Klimaeffekte: Einerseits sinkt der Wert
       einer Immobilie, wenn eine Straße in ihrer Nähe gebaut wird, andererseits
       summieren sich die Schäden der jährlichen Katastrophen mittlerweile auf
       Hunderte Milliarden – wenn Sie nur ans Ahrtal oder die Hurrikansaison in
       Amerika denken.
       
       taz: Gibt es andere Vorteile als die monetären? 
       
       Kopatz: Natürlich! Wir bekommen beispielsweise viel mehr Möglichkeiten bei
       der Klimaanpassung. Wenn Anwohner um Parkplätze kämpfen müssen, werden sie
       wenig begeistert sein, wenn wir dort einen neuen Baum pflanzen wollen.
       Sinkt der Druck, wächst die Akzeptanz für mehr grün.
       
       taz: Wie sind Sie denn auf die Idee für dieses „Marburger Modell“ gekommen? 
       
       Kopatz: Tatsächlich über einen Experten aus der Autowirtschaft. Der konnte
       ein Jahr lang nicht Auto fahren und hat sich dafür eine Bahncard 100
       gekauft. Ich habe ihn im Zug getroffen und er sagte mir: völlig verrückt,
       wie ich mit Auto gelebt habe. Wenn ich heute von meinem Arbeitsweg nach
       Hause komme, sind die Berichte bereits geschrieben. Früher musste ich mich
       dafür erst noch hinsetzen, wenn ich angekommen war.
       
       taz: Positive Erfahrungen ändern unser Verhalten? 
       
       Kopatz: Genau! Wir leben mit automobilen Routinen. Dabei sind [3][andere
       Mobilitätsformen unserem Leben oft viel angemessener]. Es muss darum gehen,
       neue Routinen zu entwickeln.
       
       taz: Wie lief denn die Debatte im Stadtrat zu Ihrem Plan? 
       
       Kopatz: In Marburg regiert die SPD mit den Grünen und der Klimaliste – eine
       Abspaltung der Grünen, die mehr Klimaschutz will. Es gab große Zustimmung
       bei allen Fraktionen – außer bei der CDU. Die argumentierte, dass die Pläne
       Marburg teuer zu stehen kommen. Und dass wir nicht ausschließen können,
       dass Prämien erschlichen werden.
       
       taz: Können Sie das denn ausschließen? 
       
       Kopatz: Wir haben Prüfmechanismen eingeführt. Die Mehrheit der Teilnehmer
       hat ihr Auto nicht nur abgemeldet, sondern gleich ganz abgeschafft.
       Trotzdem kann es natürlich sein, dass es Betrüger gibt: Wenn Sie das
       ausschließen wollen, müssen Sie das System so komplex gestalten, dass es
       viel zu bürokratisch ist.
       
       taz: Wie geht es jetzt weiter? Kommen im nächsten Jahr wieder 100 neue
       Prämien dazu? 
       
       Kopatz: Ich arbeite daran. Schließlich ist das Modell so erfolgreich, dass
       bereits andere Kommunen aufmerksam geworden sind. Frankfurt am Main zahlt
       beispielsweise allen, die ihr Auto abmelden, 600 Euro für den Nahverkehr.
       
       taz: Ein Modell für ganz Deutschland? 
       
       Kopatz: Ich hoffe, dass Länder und Bund darauf aufmerksam werden. Denn es
       ist ein exzellentes Mittel für die Verkehrswende. Anstatt jedes Jahr mehr
       als 10 Milliarden für Dienstwagen und Dieselautos zu verschenken, sollten
       wir den Menschen lieber Geld geben, wenn sie etwas zum Klimaschutz
       beitragen und die Städte entlasten.
       
       29 Dec 2024
       
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