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       # taz.de -- Menschen mit Behinderung: „Wer AfD wählt, wählt gegen uns“
       
       > Zu den Menschen, die Angst vor einer AfD-Regierung haben, zählen auch
       > Menschen mit Behinderung. Ernst genommen fühlen sie sich damit nicht.
       
   IMG Bild: Was ist für die AfD normal? Menschen mit Behinderung sorgen sich um die Antwort
       
       Berlin taz | Das erste Mal wirkliche Angst bekam Sarah Baumgart im Jahr
       2018 bei einer Kleinen Anfrage der AfD im Bundestag. Darin ging es um die
       Zahl von behinderten Menschen in Deutschland und den vermeintlichen
       Zusammenhang von Behinderung mit Inzucht und Migration. „Da wurde mir klar,
       die hören beim Thema Migration nicht auf“, sagt Sarah Baumgart.
       
       Sechs Jahre später, im Mai 2024, sitzt sie auf einer Bühne in Freiburg und
       spricht über ihre Ängste. „Als behinderter Mensch bin ich wie kaum jemand
       anderes in dieser Gesellschaft abhängig von staatlichen Strukturen“, sagt
       die 39-Jährige. Man müsse sie nicht verschleppen und umbringen, um sie zu
       töten. „Wenn eine Partei rechtskonservativ ist, dann kann man davon
       ausgehen, dass es auch behinderte Menschen betrifft, das zeigt uns die
       Vergangenheit.“
       
       Bei der Veranstaltung geht es um den Zusammenhang von Demokratie und
       Inklusion. Sarah Baumgart, die in Freiburg als Beauftragte für die Belange
       von Menschen mit Behinderungen arbeitet, sieht beides in Gefahr: „Mehr als
       einmal sind in den letzten Jahren Gesetze und Verordnungen erlassen worden,
       die mein Leben deutlich einschränken und mich behindern.
       Rechtskonservative, ableistische Politik ist eine Gefahr für mein Leben.“
       
       Diese Politik hat nicht nur Auswirkungen auf das Leben von Sarah Baumgart,
       sondern auch auf ein gesellschaftliches Klima. So mehren sich seit einigen
       Jahren ableistische Gewalttaten. Ableismus wird häufig als
       Behindertenfeindlichkeit beschrieben, ist aber mehr. Es geht dabei um ein
       System von vermeintlicher Normalität, die nicht behindert ist. Menschen,
       die behindert oder chronisch krank sind, sind in diesem System nicht
       vorgesehen und werden diskriminiert.
       
       ## Ableismus tötet
       
       Ableismus ist nicht nur ein unfreundlicher Blick oder ein Schimpfwort.
       Ableismus kann töten. Zum Beispiel am 28. April 2021: An diesem Tag
       [1][ermordete eine Pflegehelferin] im Potsdamer Oberlinhaus vier Menschen
       mit Behinderungen und verletzte eine weitere Person schwer. Im Juli 2021
       [2][ertranken zwölf Menschen mit Behinderungen] in einer Wohneinrichtung
       durch das Hochwasser im rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler. Trotz
       der Vorwarnung wurde den Menschen nicht geholfen.
       
       Am 27. Mai 2024 wurde in Mönchengladbach eine Wohneinrichtung für
       behinderte Menschen mit einem Stein beschädigt, auf dem stand:
       [3][„Euthanasie ist die Lösung“]. Unter diesem Begriff wurden im
       Nationalsozialismus viele schwerstkranke, behinderte und chronisch kranke
       Menschen, darunter auch Kinder und alte Menschen, auf staatlichen Befehl
       hin getötet.
       
       Das System der vermeintlichen Normalität spielt auch bei der Partei
       Alternative für Deutschland (AfD) eine Rolle. So stand das Parteiprogramm
       zum Bundestagswahlkampf 2021 unter dem Motto: „Deutschland. Aber normal“.
       Welche vermeintliche Normalität die AfD meinte, war auf den Wahlplakaten zu
       sehen: Weiße, nicht sichtbar behinderte Menschen. Was nicht sichtbar war:
       gleichgeschlechtliche Beziehungen, gendersensible Sprache, menschliche
       Vielfalt.
       
       Was aus der Perspektive der AfD nicht normal ist, wird als verrückt
       geframt. So bezeichnete Maximilian Krah die „Tagesschau in Einfacher
       Sprache“ als „Nachrichten für Idioten“. Schon allein dieser Begriff ist
       ableistisch, da es ein abschätziger Begriff aus der NS-Zeit ist. In einer
       Erklärung bezeichneten rund 30 Sozialverbände die Rhetorik des
       EU-Abgeordneten als „verletzend und gefährlich“. Sie warnten vor
       Ausgrenzung von Menschen mit und ohne Behinderung, die nicht in das
       „völkisch-nationalistische Weltbild“ der AfD passten.
       
       ## Feindbild Inklusion
       
       Michael Zander ist Professor für Disability Studies, Inklusion und
       Psychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und beschäftigt sich mit
       der AfD und ihrer Behindertenpolitik. Er beschreibt die Strategie der
       Partei so: „Das, was die AfD für normal hält, soll Priorität bekommen. Was
       dem nicht entspricht, wie das Recht auf inklusive Beschulung, soll bekämpft
       werden. Für die AfD ist Inklusion nicht normal.“ Zu sagen, die AfD sei
       pauschal gegen behinderte Menschen, hält Michael Zander aber für zu
       einfach.
       
       Behinderte Menschen würden von der Partei auch instrumentalisiert. So habe
       es beispielsweise im Jahr 2016 eine Presseerklärung der AfD Sachsen-Anhalt
       gegeben, in der behinderte Menschen gegen Geflüchtete ausgespielt wurden.
       Die Forderung darin lautete, nicht Geflüchtete, sondern die Integration
       behinderter Menschen finanziell zu unterstützen.
       
       Gegeneinander ausgespielt werden von der AfD auch behinderte gegen nicht
       behinderte Kinder. Im Sommerinterview 2023 beschreibt Björn Höcke,
       Vorsitzender der AfD in Thüringen, [4][schulische Inklusion als eines der
       „Ideologieprojekte“], von dem man das Bildungssystem „befreien“ müsse. Seit
       2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und
       sich damit für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne
       Behinderung ausgesprochen. Höcke beschreibt Inklusion als ein Projekt, das
       „unsere Schüler nicht weiterbringen“ und „nicht leistungsfähiger machen“
       werde.
       
       ## Nicht ernst genommen
       
       „Ich finde das ganz gruselig, sowas zu hören“, sagt Christin Jung. Ihre
       Tochter Ida ist zehn Jahre alt und soll laut Höcke so ein Kind sein, das
       andere Schüler nicht weiterbringt. Christin Jung sieht das ganz anders.
       „Bisher habe ich immer nur mitbekommen, dass alle davon profitieren, wenn
       Kinder mit und ohne Behinderung zusammen beschult werden“, sagt die
       37-Jährige.
       
       Zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Mann lebt Christin Jung in Chemnitz.
       Sie erzählt von Zukunftsängsten, die viele Menschen nicht sehen würden.
       „Sie fangen Stimmen, indem sie gegen Ausländer wettern, aber wer die AfD
       wählt, der wählt gegen unsere Familie und für die Ausgrenzung von Menschen
       mit Behinderung“. Christine Jung hat Angst, wie es mit Ida weitergeht,
       „wenn wir mal nicht mehr da sind“. Die Hoffnung hat sie nicht aufgegeben,
       doch sie sieht auch Warnzeichen: „Wir brauchen Unterstützung, und wenn wir
       die nicht bekommen, wird es hart“.
       
       Aktuell wartet Familie Jung auf die Bewilligung eines neuen Rollstuhls für
       Ida. Wenn sie Freunden von ihren Ängsten erzählt, dass sie den Ausschluss
       ihrer Tochter befürchtet, wenn die AfD an die Macht kommen würde, „dann
       bekommen viele ganz große Augen“. Das wird nicht wieder wie zur Nazizeit,
       so reagierten einige Bekannte. Die Argumentation kennt Sarah Baumgart auch.
       „Sie werden euch schon nicht vergasen“, musste sie sich anhören.
       
       Auf den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart macht auch René Schaar
       aufmerksam. Beim Norddeutschen Rundfunk arbeitet er als Diversity Manager,
       er ist verantwortlich für Elin, [5][die erste Sesamstraßen-Puppe mit
       sichtbarer Behinderung]. Am 2. Juni 2024, einige Tage vor der Europawahl,
       postet René Schaar ein Video auf seinem Instagram-Account. Zu sehen ist er
       darin auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. Er
       berichtet von einem Ausflug mit seiner Schulklasse, mit der er als Kind
       dort war.
       
       ## Stimmung kippt
       
       Der Guide erklärte der Klasse, wer dort durch Arbeit vernichtet wurde. „Es
       waren auch die Kranken, die ‚Verrückten‘, die Ausgesonderten, die
       behinderten Menschen“, erklärt Schaar. Er lebt selbst mit einer Behinderung
       und reagierte damals aus Überforderung, wie er sagt, mit einem Scherz: Er
       könne ja dann direkt dort bleiben. „In diesem Moment habe ich realisiert,
       obwohl ich aus einer Täterfamilie komme, ich hätte genauso gut Opfer sein
       können“, so Schaar, „und es ist fraglich, ob es mich überhaupt gegeben
       hätte und, wenn ja, wie lange.“ In seiner Videobeschreibung steht:
       „Menschen mit Behinderungen und anderen marginalisierten Gruppen heute
       Teilhabe zu verwehren, ist der Anfang vom Ende.“
       
       Dass diese Zeit naht, bemerkt auch Sarah Baumgart. Sie berichtet von einer
       großen Offenheit für Inklusion in den 2010er Jahren. Es gab Projektmittel
       für inklusive Projekte, das Bundesteilhabegesetz wurde angestoßen. Mit der
       Corona-Pandemie sei in diesem Bereich viel weggefallen. „Menschen mit
       Behinderungen wurden unsichtbar, auch ich“, sagt Baumgart. Als sie nach
       längerer Isolation mal wieder durch die Stadt ging, spürte sie
       Unsicherheit: „Die Leute standen mir im Weg, kamen gar nicht mehr zurecht
       mit meinem Elektrorollstuhl, quetschten sich noch schnell vor mir in den
       Aufzug“. Vor allem das Verhalten im ÖPNV sei viel weniger mitdenkend als
       zuvor, das habe sich auch bis heute gehalten.
       
       Wenn Sarah Baumgart über die Entwicklung rund um die AfD und andere
       Parteien, die rechtskonservative Politik betreiben, nachdenkt, macht ihr
       eine Sache besonders Angst: dass nichtbehinderte Menschen über ihre
       Warnungen und Ängste lachen und denken würden, Menschen mit Behinderungen
       wollten sich bloß wichtig machen. Vielleicht sei die AfD nicht pauschal
       gegen behinderte Menschen, so Baumgart. Aber sie sei ganz klar gegen
       Inklusion und vertrete eine Vorstellung von Behinderung, die
       Gleichbehandlung und Selbstbestimmung ausschließe.
       
       Auf dem Podium in Freiburg beschreibt Sarah Baumgart den möglichen Anfang
       vom Ende so: „Man kann mein Leben schleichend einschränken, bis es nicht
       mehr erträglich ist. Man kann Gesetze ändern, Leistungen streichen, meine
       Versorgung minimieren. Mir Selbstbestimmung, Assistenz, Hilfsmittel und
       notwendige Medikamente und Güter reduzieren, bis ich sterbe.“
       
       18 Aug 2024
       
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