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       # taz.de -- Menschenrechtler über Estemirowa-Mord: "Rassismus heißt hier Patriotismus"
       
       > Oleg Orlow, Vorsitzender der Organisation Memorial, erklärt, weshalb
       > Tschetscheniens Präsident Kadyrow ein Problem ist, wie der Kreml
       > Rassismus schürt und warum Wladimir Putin plötzlich Schakale mag.
       
   IMG Bild: "Die Täter besaßen Dienstausweise": Beerdigung von Natalja Estemirowa am 16. Juli in Grosny.
       
       taz: Herr Orlow, Präsident Dmitri Medwedjew zeigte sich über den Mord an
       der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa "bestürzt" und würdigte sogar die
       Arbeit russischer Menschenrechtler. Dergleichen hat man zuvor von der
       russischen Regierung nicht gehört. Was ist passiert? 
       
       Oleg Orlow: Der Ton ist ein anderer. Für uns war jedoch es fast wichtiger,
       dass Medwedjew das Beileidstelegramm direkt an unser Büro in Grosny
       geschickt hat. Unseren Mitarbeitern dort gibt es etwas Sicherheit. Aber ich
       weiß nicht, wie lange diese freundliche Haltung anhält.
       
       Was lässt Sie zweifeln? 
       
       Die Signale sind widersprüchlich. Medwedjew hat die Version, dass für den
       Mord der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow verantwortlich ist, als
       "unannehmbar" zurückgewiesen. Damit erteilte er dem staatlichen
       Untersuchungskomitee einen deutlichen Auftrag, nicht in diese Richtung zu
       ermitteln. Juristisch ist diese Formulierung natürlich unhaltbar.
       
       Vor kurzem galten Wladimir Putin Menschenrechtler als "Schakale, die um
       ausländische Botschaften herumschleichen". Jetzt verbreitet sein
       Pressesprecher, der Premierminister hege für sie "tiefen Respekt".
       Staatliche Fernsehsender halten plötzlich Elogen. 
       
       Der feige Mord hat weltweit Aufsehen erregt. Unsere Amtsinhaber mussten
       reagieren, um vom Image Russlands zu retten, was noch zu retten ist. Aber
       dieses Verbrechen kam unerwartet und war selbst für die sonst teilnahmslose
       Obrigkeit zu viel. Mit seinem Auftritt sandte Medwedjew den
       Sicherheitsstrukturen ein Signal, dass der Kreml ein derartiges Vorgehen
       gegen Menschenrechtler nicht mehr einfach so hinnehmen werde. Eine Tragödie
       musste passieren, bis man über uns wieder ein paar positive Worte verliert.
       
       Sie haben Tschetscheniens Präsidenten Ramsan Kadyrow öffentlich mit dem
       Mord in Verbindung gebracht. Er will sie wegen Ehrabschneidung verklagen. 
       
       Ich begrüße es, wenn Kadyrow den Konflikt im juristischen Rahmen klären
       will, es gäbe ja auch andere Mittel. Ich stehe zu meiner Aussage und bin
       bereit, mich dafür zu verantworten.
       
       Wird der als "Held Russlands" dekorierte Kadyrow zum Problem? 
       
       Er wird es nicht erst, er ist es schon. Natalja wurde in Tschetschenien
       ermordet. Auch wenn Kadyrow es nicht selbst gewesen sein sollte, den Boden
       hat er bereitet und Russland dadurch kolossalen Schaden zugefügt.
       
       Memorial will die Arbeit in Grosny einstellen. Was bedeutet das für die
       Menschen in Tschetschenien? 
       
       Die Entscheidung ist uns sehr schwer gefallen, viele Mitarbeiter waren auch
       dagegen. Natürlich hat es Folgen für die Bevölkerung, wenn es keine Stelle
       mehr gibt, an die sich Opfer wenden können. Wir unterbrechen die Arbeit
       aber nur vorübergehend. Grundsätzlich müssen wir überlegen, unter welchen
       Bedingungen wir weitermachen können.
       
       Welche könnten das sein? 
       
       Dazu gebe ich keinen Kommentar. Aber laufende Fälle und Verfahren werden
       wir weiterführen, ebenso die anhängigen Klagen vor dem
       Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Außerdem arbeiten wir an der
       Datenbank weiter, die mehr als 3.000 Fälle von Vermissten und Entführten
       enthält.
       
       Wie viele Menschenrechtsaktivisten wurden in den letzten Jahren im Kaukasus
       ermordet? 
       
       Es müssen mehr als ein Dutzend gewesen sein. Darunter auch Journalisten und
       Oppositionelle. Ein Fall erinnert übrigens sehr an die Verschleppung
       Estemirowas. Magomed Massajew war entführt worden und saß in einem
       "privaten" Gefängnis. Kadyrow tauchte dort auch auf und sprach mit den
       Gefangenen. Drei ließ er schließlich frei, darunter Massajew. Der
       erstattete daraufhin Anzeige gegen Kadyrow, die von seinem Anwalt Stanislaw
       Markelow vor Gericht gebracht wurde. Im August 2008 wurde Massajew
       verschleppt und ist seither verschwunden. Markelow wurde im Januar in
       Moskau von Unbekannten erschossen.
       
       Angeblich soll die Machthaber in Grosny besonders aufgeregt haben, dass
       Estemirowa über eine öffentliche Erschießung berichtete. 
       
       Estemirowa hat eine Serie von Entführungen und Morden in den letzten
       Monaten aufgedeckt und konnte belegen, dass die Sicherheitsstrukturen
       wieder zu Sippenhaftung übergehen. Immer häufiger wurden Häuser von
       Verwandten vermeintlicher Rebellen, Fundamentalisten oder einfach Gegnern
       in Brand gesteckt.
       
       Die öffentliche Erschießung Riswan Albekows brachte das Fass vielleicht zum
       Überlaufen. Er war zusammen mit seinem Sohn entführt worden. Als sie nicht
       gestehen wollten, Kontakte zu Banden in den Bergen zu unterhalten, wurde
       der Vater auf offener Straße als Warnung erschossen. Nach dem Mord an
       Estemirowa soll der Sohn freigelassen worden sein.
       
       Worauf ist die Eskalation der Gewalt zurückzuführen? 
       
       Längere Zeit galt Tschetschenien als Erfolgsgeschichte. Grosny wurde
       wiederaufgebaut. Das Regime rühmte sich, ein Hort der Stabilität im
       Kaukasus zu sein. Nataljas Enthüllungen belegen das Gegenteil. Die Führung
       ist verunsichert, weil sie mit dem Widerstand im Untergrund nicht fertig
       wird. Anfangs klappte es noch. Sie konnten den harten Kern aber nicht
       vernichten. Und der kann mühelos junge Leute rekrutieren. Das Bild von
       Stabilität bröckelt, und deshalb kehren sie zu den alten Methoden zurück.
       
       Das Regime rechtfertigt sich damit, dass die Gegner alle militante
       Islamisten seien. 
       
       In der Tat haben Fundamentalisten die Stelle der Separatisten eingenommen.
       Zu ihnen stoßen junge Leute, die sich rächen wollen, weil ihnen Gewalt
       angetan wurde oder sie sich ungerecht behandelt fühlen. Da es keine
       Möglichkeit gibt, sich politisch oder in der Presse zu wehren, greifen sie
       zu den Waffen.
       
       Im Wesen sind sie nicht anders als die Terroristen unterm Staatsdach. Auch
       sie sind gewalttätig, auch an ihren Händen klebt Blut. Mit solchen Leuten
       kann man schon deswegen nicht verhandeln, weil sie ein utopisches Ziel
       verfolgen, die Schaffung eines islamistischen Staates. Aber die Vorwürfe,
       dass alle Terroristen seien, sind pauschal. Und wenn der Staat Terror
       verübt, leiden auch Unschuldige darunter.
       
       Mit der Präsenz in Tschetschenien unterstrich Memorial ganz im Sinne des
       Kreml, dass die Republik zu Russland gehört. Kaum eine andere russische
       Institution befindet sich noch vor Ort. Bedeutet der Abzug, dass sich die
       Republik weiter von Moskau ablöst? 
       
       Der Bruch wird sich unweigerlich vertiefen. Ich glaube nicht an eine
       staatliche Unabhängigkeit, aber die Republik wird im Rahmen der Föderation
       wegdriften. Seit der Aufhebung des Sonderregimes im Frühjahr verlassen die
       letzten Vertreter russischer Staatlichkeit die Region. Das war immer das
       Ziel der Führung in Grosny.
       
       Gibt es im Fall Estemirowa neue Erkenntnisse? 
       
       Wir wissen noch nichts. Klar ist wohl, dass die Täter Dienstausweise
       besaßen, mit denen sie Straßensperren und die Grenze zu Inguschetien
       passieren konnten.
       
       Die Trauerfeier in Grosny wurde von der Miliz überwacht. Nur wenige Bürger
       wagten es, an der Beerdigung teilzunehmen. 
       
       Die Miliz wollte verhindern, dass der Trauerzug ins Zentrum Grosnys zieht.
       Die Verwandten wollten auch keine Konfrontation. Angst und Schrecken
       herrschen, darauf fußt das Regime. Leute, die früher aktiv waren und
       Kadyrow kritisierten, sind heute nicht mehr dazu bereit. Sie fürchten
       Repressalien. Einige wurden gekauft, andere eingeschüchtert, andere
       wiederum wollen das eigene Nest nicht beschmutzen.
       
       Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja waren die Bloggs voll
       mit Hasstiraden gegen "russische Nestbeschmutzer". Die öffentliche
       Anteilnahme hielt sich in Grenzen 
       
       Viele in Russland halten uns Menschenrechtler für Verräter. In den Bloggs
       spielt sich nach Nataljas Tod das Gleiche ab wie damals. Diese Auffassung
       wurde von der Obrigkeit gefördert. Nach dem Motto: Russland erhebt sich aus
       Ruinen und die arbeiten mit Ausländern zusammen, die Russland schwächen
       wollen.
       
       Der Kreml hat sehr viel Geld in Jugendorganisationen gesteckt, die diese
       fremdenfeindliche Ansichten züchteten. Man sollte annehmen, nach dem Fall
       des Kommunismus sei die Jugend freier und könne selbständiger denken. Im
       Gegenteil, die Jugend wurde gekauft, alles ist erlaubt, auch Rassismus und
       Gewalt gegen Andersdenkende. All das firmiert als Patriotismus.
       
       24 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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