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       # taz.de -- Minderjährige Flüchtlinge: Ein Traum vom besseren Leben
       
       > Über tausend minderjährige Flüchtlinge kamen 2014 ohne ihre Familie in
       > Hamburg an – ein kleiner Teil von ihnen macht Probleme. Die Jugendlichen
       > sind unter Beschaffungsdruck.
       
   IMG Bild: Haben es doppelt und dreifach schwer: Minderjährige Flüchtlinge ohne Familie.
       
       Die selbstgedrehte Zigarette ist nur noch ein Stummel. Tamer* nimmt noch
       einen kleinen Zug und gibt sie weiter. Acht Jungen stehen am Rande eines
       Parkplatzes im Kreis, plaudern auf arabisch, rauchen, lachen. Es ist kalt.
       Der 17-jährige Ägypter tritt von einem Bein aufs andere, bleibt in
       Bewegung, um sich warm zu halten. Er trägt eine dicke Winterjacke, aber
       seine Füße stecken nur in Socken und Badelatschen aus Plastik. Schuhe habe
       er keine mehr, sagt Tamer: „Geklaut“ – in der Einrichtung des Kinder- und
       Jugendnotdienstes in der Feuerbergstraße.
       
       Dort lebt Tamer mit 129 anderen minderjährigen Flüchtlingen, die ohne ihre
       Familie nach Hamburg gekommen sind. Die Unterkunft ist überfüllt – regulär
       gibt es nur 90 Plätze. Auch in der Mehrzweckhalle stehen Betten. Im August
       schickte der Betreiber, Landesbetrieb für Erziehung und Beratung, sogar 15
       minderjährige Flüchtlinge ohne einen Schlafplatz wieder weg – und wurde
       wegen dieses Verstoßes gegen den Schutzauftrag von politischen Parteien und
       Verbänden heftig kritisiert.
       
       Tamer sagt, er lebe seit vier Monaten in der Feuerbergstraße, könne seitdem
       nicht zur Schule oder zu einem Deutschkurs gehen. Er sagt das auf Arabisch
       – Abdi*, ein Flüchtling aus Somalia übersetzt. Eigentlich sollten die
       Ankömmlinge in den zehn Erstaufnahmeeinrichtungen in Hamburg nur für drei
       Monate bleiben und dann in eine Folgeeinrichtung umziehen – etwa in
       Wohngruppen. Aber auch dort fehlen Plätze.
       
       Tamer, sagt sein Dolmetscher Abdi, wolle unbedingt Deutsch lernen. Ein Wort
       spricht der Ägypter bereits ohne jeden Akzent: „später“. Das höre er von
       seinen Betreuern, wenn er nach dem Schulplatz frage – oder nach neuen
       Schuhen. „Später, später, später“, sagt er.
       
       In seltenen Einzelfällen könne es schon einmal sein, dass die Jugendlichen
       mehrere Wochen auf ihren Platz im Deutschkurs warten müssten, sagt der
       Sprecher der Sozialbehörde, Marcel Schweitzer. Ähnlich sieht es bei den
       Schulen aus. Das läge am „extrem hohen Zuzug in den Sommermonaten“.
       Mittlerweile gebe es aber für fast alle Jugendlichen einen Platz – neun
       stünden für den Deutschkurs noch auf der Warteliste.
       
       ## "Genügend Kapazitäten"
       
       „Es sind nicht genügend Kapazitäten da, um die minderjährigen,
       unbegleiteten Flüchtlinge zu beschulen“, kritisiert der stellvertretende
       Fraktionsvorsitzende der FDP in der Bürgerschaft, Finn Ole Ritter. „Man
       darf die Jugendlichen aber nicht warten lassen, es ist ihr Recht, zur
       Schule zu gehen.“
       
       Ritter sitzt an einem großen Konferenztisch, vor ihm liegen ausgedruckt
       einige Anträge aus den vergangenen drei Jahren. „Es ärgert mich, dass der
       SPD-Senat die Opferrolle einnimmt und so tut, als sei er überrannt worden.“
       Schon seit 2008 steige die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge, die ohne
       Verwandte nach Hamburg kommen. 2011 waren es 614 Jugendliche, 2014 schon
       1.902. Aber nur 813 davon wurden tatsächlich vom Kinder- und
       Jugendnotdienst aufgenommen. Die anderen schätzten die Sozialarbeiter vor
       Ort auf über 18 Jahre – und wenn es Zweifel am Alter gab, tat dies ein Arzt
       am Universitätsklinikum Eppendorf.
       
       Viele der Flüchtlinge stammten aus Somalia, Eritrea, Afghanistan oder
       Ägypten, sie fliehen vor Krieg und Gewalt, Zwangsverheiratung oder
       Beschneidung, sagt Anne Harms von der kirchlichen Hilfestelle Fluchtpunkt.
       Oft helfen Verwandte bei der Flucht, wollen die Kinder in Sicherheit
       bringen. „Gerade bei afrikanischen Flüchtlingen legt manchmal auch das
       ganze Dorf zusammen“, sagt Harms – damit die Jugendlichen Geld aus Europa
       schicken. Manche hätten auch noch Schulden bei ihren Schleppern für die
       Überfahrt. „Dann stehen sie hier unter einem enormen Beschaffungsdruck“,
       sagt Harms. Um das Geld aufzutreiben, verkauften einige Drogen, leisteten
       Sexarbeit oder arbeiteten für wenig Geld schwarz in Küchen oder im Hafen.
       
       Der Fall einer Gruppe marokkanischer Flüchtlinge, die Freier auf dem Kiez
       beklauten und darum von den Luden verprügelt wurden, wurde vor ein paar
       Wochen bekannt. 28 der 115 bekannten jugendlichen Intensivtäter in Hamburg
       seien minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge, sagt Polizeisprecher Andreas
       Schöpflin – 28 von rund 1.000 minderjährigen Flüchtlingen, die ohne Eltern
       in Hamburg leben. In der Regel begingen Jugendliche mit dieser
       Fluchtgeschichte keine Straftaten. „Sie sind nicht krimineller als andere
       Minderjährige“, sagt Schöpflin.
       
       ## Ein anderes Bild
       
       Einige Hamburger Medien zeichneten nach den Vorfällen auf dem Kiez ein
       anderes Bild. „Polizei kapituliert vor kriminellen Flüchtlingskindern“,
       titelte das Hamburger Abendblatt und zitierte den Landesvorsitzenden der
       Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, mit dem sorgenschweren
       Satz: „Wir brauchen dringend Maßnahmen, die diesem Phänomen gerecht werden
       und den Tätern Einhalt gebieten.“
       
       „Das ist eine regelrechte Kampagne“, findet Fluchtpunkt-Leiterin Harms.
       Conni Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg spricht von „Hetze“. Aus ihrem
       grünen Rucksack zieht sie den Artikel zwischen Dutzenden anderen Papieren
       hervor und zeigt mit dem Finger auf den Text. Klar gebe es Jungen, die sich
       etwa in Marokko oder Spanien auf der Straße durchgeschlagen haben und es
       hier genauso machen. „Aber es gibt nicht die guten und die bösen
       Flüchtlinge.“ Die Jugendlichen, die hier kriminell würden, seien oft
       traumatisiert, sie würden nur Gewalt kennen, und einige von ihnen nähmen
       Drogen – davon stehe nichts in den Artikeln.
       
       Für kriminelle Jugendliche hat Tamer wenig Verständnis, er ist selbst Opfer
       geworden: Seine Schuhe wurden ihm von anderen Flüchtlingen abgezogen. „Die
       machen hier, was sie wollen“, übersetzt Abdi. Dann zieht er selbst eine
       Bescheinigung vom Arzt aus der Tasche. „Diagnose: Pfefferspray“ steht
       darauf. Das sprühte ihm ein anderer Flüchtling nachts ins Gesicht. „Sie
       trinken zu viel, nehmen Drogen und machen Stress“, sagt Abdi auf Englisch.
       
       Der 17-Jährige lebt erst seit einer Woche in der Feuerbergstraße. In der
       Unterkunft will er endlich zur Ruhe kommen und etwas lernen. Abdi will
       Anwalt werden, seine Familie nachholen, eine Freundin finden: „Ich möchte
       ein Stück Leben.“
       
       *Namen von der Redaktion geändert
       
       19 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Scharpen
       
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