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       # taz.de -- Miniserie „Bonn“: Alaaf statt Heil
       
       > Die neue ARD-Serie „Bonn“ schickt eine junge Frau in die Vergangenheit.
       > Sie soll den Verfassungsschützer Otto John rehabilitieren.
       
   IMG Bild: Wie kann man damit leben, dass Millionen Menschen ins Gas geschickt wurden“, fragt Toni Schmidt (Mercedes Müller)
       
       Es gab da vor ein paar Jahren auf Arte diese herrlich charmante
       französische Agentenserie „Au service de la France“ – „Frankreich gegen den
       Rest der Welt“, der deutsche Titel klang schon gleich eine Nuance weniger
       charmant. Der Krieg liegt gerade erst ein paar Jahre zurück, ein blutjunger
       Rekrut lernt vor realem historischem Hintergrund den Geheimdienst von innen
       kennen, wird mit Familiengeheimnissen konfrontiert und muss rechten
       Umstürzlern das Handwerk legen. Die Lässigkeit kommt ihm wie der Serie
       dabei nie abhanden, das Titelthema hat der Air-Musiker Nicolas Godin
       komponiert … Herrlich!
       
       Wie es aussieht, wenn deutsche Fernsehleute (Regisseurin/Headautorin:
       Claudia Garde; Musik: Florian Tessloff) ein hiesiges Pendant vor die im
       Grunde gleichen Aufgaben stellen, zeigt der ARD-Sechsteiler „Bonn“. Eine
       düstere Szene vom Jahreswechsel 1944/45 setzt den Ton, die folgende springt
       genau neun Jahre vor und führt die beiden Heldenfiguren ein, die bei einer
       Silvesterparty in London erstmals aufeinandertreffen: die fiktive Toni
       Schmidt (Mercedes Müller) und der reale Otto John (Sebastian Blomberg),
       über den in der anschließenden „Doku zur Serie“ (21.50 Uhr) der Historiker
       Michael Wala sagt: „Nach allem, was wir wissen, ist er kein Verräter
       gewesen, und er gehört rehabilitiert.“ Die Aufarbeitung der Vergangenheit
       ist ein immerwährender (Programm-)Auftrag. Das ist selbstverständlich kein
       Fehler – nur jegliche Lässigkeit damit eben auch perdu.
       
       Der vormalige Widerstandskämpfer Otto John war der erste Chef des 1950 neu
       gegründeten Bundesamtes für Verfassungsschutz und wurde nach einem
       mysteriösen Aufenthalt in Ostberlin später in der BRD zu einer vierjährigen
       Zuchthausstrafe wegen Landesverrats verurteilt. Sein Gegenspieler, der
       Leiter des nach ihm benannten BND-Vorläufers „Organisation Gehlen“, hat in
       Anspielung auf dessen Rolle im Widerstand über John gesagt: „Einmal
       Verräter, immer Verräter!“ Reinhard Gehlen wiederum war als ehemaliger Chef
       der Wehrmachts-Abteilung Fremde Heere Ost nichts weniger als ein
       Widerstandskämpfer gegen die Nazis und steht nach heutiger Lesart, ebenso
       wie der Adenauer-Staatssekretär Hans Globke, exemplarisch für die
       tiefbraunen Kontinuitäten in der frühen Bundesrepublik. Kontinuitäten, die
       es schlimmsten Kriegsverbrechern, wie dem Eichmann-Vertrauten Alois
       Brunner, ermöglichten, sich ins Ausland abzusetzen und dort unbehelligt
       ihren Lebensabend im Greisenalter zu beschließen.
       
       Es handelt sich bei „Bonn“ um eine Zeitreiseserie, nur dass man sich den
       Hokuspokus mit der Zeitmaschine heute einfach spart. Wie in derzeit
       etlichen Produktionen der „Event“-Liga – man denke nur an sämtliche neuen
       „Sis(s)i“-Adaptionen – ist eine weibliche Hauptfigur ihren biederen
       Zeitgenossen weit voraus, will sich nicht in die ihr von diesen zugedachte
       Geschlechterrolle fügen. Und welche Etappe der jüngeren deutschen
       Vergangenheit wäre biederer als die bleierne Zeit der 1950er Jahre, in der
       die Biedermänner nicht einfach nur harmlose Langweiler, sondern durch eine
       einschlägige braune Vergangenheit qualifiziert sind?
       
       Wie all die Globkes, Gehlens, Brunners und (der fiktive) Gerd Schmidt
       (Juergen Maurer), der also seine Tochter Toni im Büro des alten Kameraden
       Gehlen (Martin Wuttke) unterbringt. Otto John muss die von ihm gleich bei
       jener ersten Begegnung in London erkannte „kluge junge Frau“ gar nicht erst
       rekrutieren. „Wie kann man eigentlich damit leben, dass Millionen Menschen
       ins Gas geschickt wurden“, stellt sie die aus heutiger Sicht richtige
       Frage. Klärt en passant den vom Vater manipulierten Verbleib ihres nicht
       aus dem Krieg zurückgekehrten Bruders. Wehrt einen biederen Verlobten ab.
       Versucht, Gehlens Fluchthilfe für Brunner (André Eisermann) zu vereiteln.
       Versteckt sich in TKKG-Manier im Schrank, wenn der Geheimdienstler Gehlen
       den Zahlencode für seinen Safe unter dem Lampenfuß nachsehen muss. Das Geld
       braucht er, um zusammen mit Tonis Vater eine paramilitärische rechte
       Schattenarmee auszurüsten. „Das Ziel von damals ist unser Weg von heute!“,
       schwört Gerd Schmidt die alten Kameraden in den alten Uniformen ein.
       
       Nur selten hat dieses übermäßig korrekte, überhaupt nicht charmante
       TV-Produkt die simple Wucht der Szene, in der am Ende einer
       Karnevalssitzung die Narren den rechten Arm heben, wie sie es von früheren
       Massenveranstaltungen gewohnt sind. „Alaaf!“ statt „Heil Hitler!“, nur wer
       sich ändert, bleibt sich treu.
       
       16 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
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