# taz.de -- Missbrauch im Schwimmsport: Und täglich werden es mehr
> Eine Doku in der ARD legt Missbrauch im Schwimmsport offen. Eine
> unabhängige Aufklärung solcher Fälle gibt es nach wie vor nicht. Das muss
> sich ändern.
IMG Bild: Um den Sport sicherer zu machen, braucht es eine unabhängige und genaue Aufarbeitung
Wer Kinder hat, die in Sportvereinen nach Großem streben, kennt das
vermutlich: Trainer, in der Überzahl sind es Männer, stehen außerhalb
jeglicher Kritik. Sie können noch so rüde schimpfen, brüllen, abkanzeln und
mit Sanktionen drohen, anders als Lehrer:innen werden sie dafür von den
Drangsalierten vehement verteidigt. „Das muss er so machen“, wird einem
erklärt. Und nicht wenige Eltern am Spielfeld- und Beckenrand sehen das
ähnlich. „Nur mit Freundlichkeit erreicht man nichts. Das muss man mal
aushalten können. Das ist ja nicht so gemeint.“
Spaß muss schon auch sein, aber den ein oder anderen Grenzübertritt
betrachtet manch Erwachsene:r als gute Schule fürs Leben. Und wer Profi
oder zumindest richtig gut werden will, das weiß schon jedes Kind, darf eh
nicht zimperlich sein. Trainer:innen sind die Türöffner:innen für
solche Träume. Alles in allem also kein Wunder, dass sie von vielen Eltern
und Kindern einen Vertrauensblankoscheck ausgestellt bekommen. Daraus
erwächst eine Macht, die in den schlimmsten Fällen monströse Ausmaße
annehmen kann. Der Sockel, auf den Trainer:innen gehoben werden, ist mit
reichlich Zement ausgekleidet.
Wer vor gut einer Woche die [1][Dokumentation in der ARD] über sexuellen
Missbrauch im deutschen Schwimmsport gesehen hat, mag sich gewundert haben,
weshalb sich der Weltklasse-[2][Wasserspringer Jan Hempel] noch im Alter
von 25 Jahren seinem vergewaltigenden Trainer Werner Lange nicht verweigern
konnte. Vierzehn Jahre hatten die Übergriffe da schon angedauert. Die Frage
wurde in der Doku nicht gestellt. Vielleicht, weil sie den intimsten
Schambereich berührt hätte: das Gefühl der Mitverantwortung für dieses
eigenartige Zwangsbündnis, das viele Betroffene haben, weshalb so lange wie
möglich bloß niemand etwas mitbekommen soll.
Im Fall Hempel stand zudem noch die berufliche Existenz auf dem Spiel. Als
Medaillengewinner war er im Sportsystem in der schwächeren Position als der
Medaillenmacher. So vergewaltigte der Medaillenmacher den möglichen
Gewinner noch in der Pause des olympischen Wettkampfes bei den Spielen 1992
in Barcelona.
Die Erzählung von Jan Hempel könnte kaum extremer und grausamer sein. In
der öffentlichen Nachbetrachtung der Doku, deren Urheber:innen es
gerade auch ein Anliegen ist, mit der Erzählung weniger extremer Übergriffe
die Normalität von sexueller Gewalt im deutschen Sport zu illustrieren,
bleibt sie zentral.
Die Hinwendung zum Extremen wirkt wie ein gesellschaftlicher
Selbstberuhigungsreflex, kann man doch sagen: Das ist wirklich nicht mehr
normal. Die anderen Geschichten werden in diesem Sog zu bloßen Nummern.
„Immer noch kommen täglich Fälle dazu“, berichtete Christian Hansmann, der
Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) bereits
[3][vier Tage nach der Veröffentlichung der Doku.]
## Erschreckend alltäglich
Die Zahlen, die gerade die [4][Alltäglichkeit sexualisierter Gewalt] im
deutschen Sport belegen, wird der DSV bald offenlegen müssen. Als der
einstige englische Fußballprofi Andy Woodward seine monströse
Missbrauchsgeschichte 2016 erzählte, gingen über 500 Anzeigen von ebenfalls
Betroffenen sexualisierter Gewalt im Fußball bei den Polizeidienststellen
im Lande ein.
Die Geschichten hinter den Zahlen sind mannigfaltig. In der ARD-Doku
berichtet der ehemalige Leistungsschwimmer Till Michalak, wie ein Betreuer
unter der Vortäuschung einer falschen Identität seine sexuellen Fantasien
über Kurznachrichten an ihm auslebte. Michalak glaubte anfangs, im
Austausch mit einer von ihm verehrten Schwimmerin zu sein. Dass dieser Mann
noch heute im Schwimmsport tätig ist, weil die Gerichte sein Verhalten
nicht für justiziabel hielten, zeigt die Notwendigkeit, sich mit jeder Form
von Grenzverschiebung zu befassen. Auch Fälle von physischer und
psychischer Gewalt sollten mit in den Blick genommen werden.
Um den Sport sicherer zu machen, braucht es eine unabhängige und genaue
Aufarbeitung all dieser Geschichten, bei der vermeintlich unverzichtbare
Leistungsträger dieses Systems nicht geschont werden. Der DSV legte diese
Woche einen Offenbarungseid ab, der zeigte, dass die vom Verband zunächst
bevorzugte interne Klärung all der Vorwürfe zum Scheitern verurteilt ist:
In einer Pressemitteilung zur ARD-Doku wies man darauf hin, schon die
„umfangreiche Aufklärung“ im Fall des wegen sexuellen Missbrauchs
verurteilten ehemaligen Schwimm-Bundestrainers Stefan Lurz habe den Verband
an rechtliche und auch finanzielle Grenzen gebracht.
Es gebe im DSV und den Landesverbänden ausschließlich ehrenamtlich tätige
Ansprechpersonen für den Bereich Prävention sexualisierter Gewalt. Deshalb
unterstütze man die Forderung nach einer unabhängigen Anlaufstelle und
deren Finanzierung durch die öffentliche Hand.
Ohnmachtseingeständnisse dieser Art sind neu. Bislang hat der organisierte
Sport sich eher bemüht, Forderungen der Interessenvertretung Athleten
Deutschland e. V. nach einer solchen Anlaufstelle auszubremsen, alles unter
eigener Kontrolle zu behalten.
Mittlerweile ist jedoch die Schaffung eines unabhängigen Zentrums für Safe
Sport im Koalitionsvertrag verankert. Um die finanzielle Mitverantwortung
drückt sich der organisierte Sport noch. Für die Bundes- und
Länderregierungen wäre es allerdings ein Leichtes, [5][Sportfördergelder
mit einer Pflichtabgabe für diesen Bereich zu verknüpfen]. Sport und
sexualisierte Gewalt müssen zusammengedacht werden. Die in einer
Machbarkeitsstudie des Bundesinnenministeriums veranschlagten 340.000 Euro,
mit der das Zentrum Safe Sport jährlich ausgestattet werden soll, sind
ohnehin ein schlechter Witz. Der Deutsche Schwimm-Verband wird das nun
bestätigen können.
27 Aug 2022
## LINKS
DIR [1] https://www.ardmediathek.de/video/sportschau/missbraucht-sexualisierte-gewalt-im-deutschen-schwimmsport/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3Nwb3J0c2NoYXUvYzg4NDRkYTUtOTJlOC00ZDA5LTk2YWUtNjU1YWRlZTdlNGUz
DIR [2] /Systemische-Gewalt-im-Sport/!5872111
DIR [3] /Missbrauchsskandal-im-Schwimmen/!5873487
DIR [4] /Sexueller-Missbrauch-im-Sport/!5872162
DIR [5] /Debatte-um-Gewalt-im-Sport/!5872979
## AUTOREN
DIR Johannes Kopp
## TAGS
DIR Missbrauch
DIR sexueller Missbrauch
DIR Sport
DIR Gewalt im Sport
DIR Sexualisierte Gewalt
DIR Schwimmen
DIR Sexualisierte Gewalt
DIR Schwerpunkt Fußball-EM 2024
DIR Kolumne Frühsport
DIR sexueller Missbrauch
DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
DIR Leistungssport
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Missbrauch im Sport: Sicher schwimmen
Eine Untersuchung stellt dem Deutschen Schwimm-Verband ein miserables
Zeugnis im Umgang mit sexualisierter Gewalt aus. Neue Regeln sollen es nun
richten.
DIR Jérôme Boateng wieder vor Gericht: Verprügelt, verletzt, verstummt
Häusliche Gewalt im Profifußball bleibt zu oft ungeahndet. Es braucht mehr
Einblick in die verantwortlichen Machtstrukturen.
DIR Übergriffiger Coach im deutschen Handball: Lizenz zum Ekligsein
Der deutsche Handball trägt Verantwortung für den übergriffigen Trainer
André Fuhr. Das Betroffenheitsgequatsche ist scheinheilig.
DIR Missbrauchsskandal im Schwimmen: Kein Neustart, aber eine Zäsur
Immer mehr Betroffene melden sich beim Deutschen Schwimmverband. Der
Missbrauchsskandal könnte für den deutschen Sport ein Einschnitt werden.
DIR Sexueller Missbrauch im Sport: Gewalt als Normalität
Details über sexualisierte Gewalt im Schwimmverband verstören. Sie sind
Teil eines Systems, das auf Drill, Gehorsam und Rücksichtslosigkeit beruht.
DIR Systemische Gewalt im Sport: Missbrauch für Medaillen
Der Ex-Wasserspringer Jan Hempel wirft seinem ehemaligen Trainer
Vergewaltigung vor. Es ist dies nur einer von vielen Gewaltskandalen im
Sport.