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       # taz.de -- Mit dem Fahrrad am Mittelmeer entlang: Flamingos und Asphalt
       
       > Auf dem Fernradweg Eurovelo 8 kann man von Athen bis Cádiz die
       > Mittelmeerküste erkunden. Unsere Autorin hat dabei Skurriles und
       > Köstliches entdeckt.
       
   IMG Bild: Der Radweg führt auch an der Lagune Étang de Thau nahe der südfranzösischen Stadt Sète vorbei
       
       Unter mir ein Fahrrad, links und rechts Wasser soweit das Auge reicht.
       Zwischen Sumpflandschaften und ehemaligen Salinen überquere ich eine Insel
       mit mediterranem Buschwerk und Kiefern, die der Wind in die Knie gezwungen
       hat. Ein einmaliges Naturschutzgebiet – und noch immer Heimat vieler wilder
       Flamingos, die sich jetzt in der Abendsonne tummeln.
       
       So fühlt es sich an, auf dem Eurovelo 8 unterwegs zu sein. Vor mehr als
       einem Jahrzehnt ins Leben gerufen, schlängelt sich der Fernradweg auf 7.350
       Kilometern entlang der europäischen Mittelmeerküste und durch Norditalien,
       beinahe nonstop von Cádiz bis Athen. Hinzu kommen Abschnitte in der Türkei
       und Zypern. Theoretisch eine tolle Idee. Und praktisch?
       
       Das will ich auf dem französischen Abschnitt testen, der auch den Namen La
       Méditerranée à vélo trägt. [1][Auf der Website] wird die 850 Kilometer
       lange Strecke genau beschrieben, mit Angaben zur Beschaffenheit der Wege
       und GPS-Tracks zum Herunterladen. Insgesamt fünfzehn Etappen sind es, mit
       30 bis 105 Kilometern, die zu 90 Prozent ausgeschildert sein sollen. Hört
       sich soweit gut an.
       
       Die Umsetzung hat allerdings ihre Tücken, und das beginnt schon mit dem
       Transport des Fahrrads. In den meisten französischen
       Hochgeschwindigkeitszügen müsste ich es auseinandernehmen. „Sie sollten
       sich besser [2][vor Ort eins leihen]“, rät man mir beim Französischen
       Tourismusverband. Aber zwei Wochen ein E-Bike leihen? Das geht [3][ins
       Geld]. Und vor allem: Wie kommt es am Ende wieder zurück?
       
       Ich begnüge mich also [4][mit einer Teilstrecke]. Und zwar mit einer, die
       möglichst nah am Meer verläuft. Mitunter schlägt der Eurovelo 8 nämlich
       weite Bögen durchs Hinterland, klettert in den Alpen der Haute Provence
       fast bis auf 1.000 Meter hinauf. Neben dem Abschnitt zwischen Nizza und
       Cannes, wo man ganz bequem an der Küste entlangradeln kann, finden sich
       mittelmeernahe Etappen vor allem in der Occitanie, also unmittelbar
       nördlich der spanischen Grenze.
       
       Dort starte ich Anfang Oktober. In Sète, einem sympathischen Hafenstädtchen
       südwestlich von Montpellier, das gut mit dem Zug erreichbar ist. Das Meer
       ist hier überall präsent: In Form von Kanälen schwappt es mitten durch die
       Stadt. Lokale am Wasser laden zu Austern, Muscheln und Goldbrassen ein.
       Davor Fischkutter und Ausflugsdampfer, im Hintergrund altehrwürdige
       Wohnpaläste, an denen die Zeit gekratzt hat. Schön anzusehen, aber kein
       Bling-Bling wie an der Côte d’Azur.
       
       ## Viele aus dem Norden Frankreichs ziehen in die Occitanie
       
       Im Fahrradverleih macht Monsieur schnell den Vertrag fertig, übergibt mir
       mein E-Bike, ein Ladegerät, zwei schwere Schlösser – oder wollen Sie noch
       ein drittes? – und Flickzeug einschließlich zweier Schläuche. Dann rolle
       ich los, raus aus Sète, hinein in eine Dünenlandschaft. Rechts von mir
       zieht sich hinter den spärlich bewachsenen Sandhügeln die 18 Kilometer
       lange Lagune des Bassin des Thau, links liegt bleischwer das Meer,
       bedrohlich wie der dunkelgraue Himmel. Als könnte sich jederzeit
       tiefsitzender Groll in Form eines Wolkenbruchs entladen. Ich bekomme zum
       Glück nur ein paar Tropfen ab.
       
       Nach eineinhalb Stunden erreiche ich Agde. Mitten durch das Städtchen
       fließt der breite, träge Hérault, an seinem Ufer reihen sich schwimmende
       Restaurants aneinander – im Mare Nostrum bekomme ich eine köstliche
       Fischsuppe mit viel Rouille, geriebenem Käse und Croutons. Ebenfalls im
       Zentrum steht die quadratische, düstere Kathedrale aus dem frühen
       Mittelalter, und gleich daneben hat man versucht, das historische Zentrum
       mit Galerien zu beleben.
       
       Eine von ihnen gehört der Schmuckkünstlerin Géraldine Luttenbacher. Ihre
       Ringe, Ketten und Armbänder sind tatsächlich filigrane Kunstwerke, die weit
       über das Dekorative hinausgehen, sie hat bereits in Paris ausgestellt und
       diverse Preise gewonnen. Was hat sie ausgerechnet nach Agde verschlagen?
       „Hier wurde mir das Atelier angeboten. Außerdem hat mich der Charme des
       Städtchens überzeugt“, erzählt Luttenbacher. „Doch leider ist es abends ein
       bisschen tot.“ Deshalb wohnt sie lieber in Sète und pendelt mit dem Zug.
       Die Betreiber meines Hotels fühlen sich dagegen sehr wohl in Agde. Wie
       viele andere sind sie aus dem Norden Frankreichs in die Occitanie gezogen
       und dankbar für das angenehme Klima im Süden.
       
       Bevor es am folgenden Tag weitergeht, sehe ich mir noch das Château Laurens
       auf der anderen Seite des Flusses an. Nie würde man in dieser
       bodenständigen Gegend etwas so Verrücktes vermuten: Inmitten gepflegter
       Parklandschaft hat im Jahr 1900 ein reicher Spinner versucht, seine
       Reiseeindrücke aus vielen Ländern in einer Mischung aus ägyptischen und
       römischen Tempeln mit Jugendstilelementen einzufangen. Die skurrilen Bilder
       wirken noch eine ganze Weile nach, als ich wieder auf dem Rad sitze.
       
       Richtung Béziers ist die Piste plötzlich wegen Straßenarbeiten abgesperrt.
       Die Umleitung auf stark befahrener Straße wäre ein Albtraum, doch einer der
       Arbeiter hat Mitleid und öffnet mir die Absperrungen, und so radele ich
       durch Feuchtwiesen und hohe Schilfgürtel zum Canal du Midi, der fortan mein
       Begleiter ist. Das visionäre Projekt aus dem 17. Jahrhundert verbindet
       Toulouse mit dem Mittelmeer, heute ist es ein Lieblingsziel der
       Hausbootfahrer. Unzählige Freizeitkapitäne schippern gemächlich auf dem
       Wasser und grüßen mich vom Deck ihrer stolzen Kähne.
       
       ## Weinreben, Wiesen und kleine Pinienhaine
       
       Nach einer Kaffeepause erreiche ich Béziers, das sich schon von Weitem mit
       seiner festungsartigen, auf einem Hügel gelegenen Kathedrale ankündigt. Das
       Zentrum ist ganz lebendig und ich frage mich, wie es wäre, im Hotel La
       Prison im ehemaligen Stadtgefängnis zu übernachten? Aber meine Energie
       reicht noch locker für weitere 15 Kilometer. Vorbei am touristischen
       Highlight der Region – der Schleusentreppe von Fonséranes, auf der Boote
       auf bis zu neun Stufen um 21 Meter angehoben werden – geht es weiter durch
       unscheinbare Dörfer. Colombiers, Poilhes, Capestang – eins archaischer als
       das andere.
       
       Im letztgenannten suche ich mir schließlich ein Nachtquartier und finde ein
       kleines, gemütliches Zimmer im Coté Nuit. Der freundliche Besitzer stellt
       mein Fahrrad im Hausflur unter und auch für seine Restaurantempfehlung bin
       ich dankbar. Im Vauban esse ich ein raffiniertes Seeteufelcurry auf
       Lauchrisotto.
       
       Am nächsten Morgen begrüßt mich strahlender Sonnenschein. Das Wasser des
       Canal du Midi glitzert wie Tausende Silbertaler, mein Blick schweift über
       Weinreben, Wiesen und kleine Pinienhaine. Alles sehr beschaulich,
       allerdings begleitet von heftigem Wind. Ich muss ordentlich strampeln und
       mehrmals nach dem Weg suchen, bis ich mittags einigermaßen erschöpft in
       Narbonne ankomme. Gerade herrscht buntes Markttreiben, ein paar Tomaten
       kullern mir fast unter die Räder.
       
       Narbonne ist wieder eine Stadt an einem Kanal, dem Canal de la Robine. Und
       wieder begegnet mir mittelalterliche Architektur: die Kathedrale und der
       Bischofspalast, monumentale Bastionen des Glaubens, die einen noch heute
       einschüchtern. Wie müssen sie erst auf Menschen früherer Jahrhunderte
       gewirkt haben, frage ich mich, während ich im Blue Café eine Portion Moules
       frites – Miesmuscheln mit hausgemachten Pommes – zu mir nehme.
       
       ## Mit dem Zug vorbei an den zurückgelegten Etappen
       
       Danach wird es erneut einsam, in der riesigen Seenregion des Étang de
       Bages-Sigean. Bald bewege ich mich nur noch auf einem schmalen Streifen,
       durch die eingangs beschriebene Landschaft. Die Salinen, die Kiefern, die
       Flamingos – ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus.
       
       Dann der Kontrast. Am Horizont tauchen hässliche Fabriktürme und die Reste
       einer Ölraffinerie auf. Auch wenn sich das Hafendorf Port-a-Nouvelle mit
       seinen 13 Kilometer langen Stränden als familienfreundlicher Badeort
       verkauft, wirkt er auf mich wie von allen guten Geistern verlassen. Zumal
       die meisten Läden und Lokale jetzt in der Nebensaison geschlossen sind.
       
       Immerhin sehe ich zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder das Meer – und
       komme noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit im kleinen Hôtel du Port
       unter. Einfache Zimmer, das Restaurant eine Mischung aus Fake-Marmor und
       maritimen Dekoobjekten an der Grenze zum Kitsch. Aber der Wirt schließt
       mein Rad fürsorglich in seiner Garage ein und am Tagesmenü mit
       fantastischer Dorade könnte sich so manches gehobene Restaurant ein
       Beispiel nehmen.
       
       Der Weg nach Leucate ist, wie ich höre, kaum befahrbar, also starte ich für
       meine letzte Etappe mit einer kurzen Bahnfahrt – in französischen
       Regionalbahnen ist die Fahrradmitnahme anders als im TGV völlig
       unkompliziert und kostenlos. Nach Port-la-Nouvelle ist Leucate geradezu ein
       Bilderbuchdorf. Pastellfarbene Häuser, Cafés, und an der zentralen Place de
       la République huldigt die Statue einer Frau mit wehendem Mantel und
       triumphaler Geste der couragierten Françoise de Cezelli, die 1590 bei einem
       Angriff der Spanier ihren gefangengehaltenen Mann opferte, um die Stadt zu
       retten.
       
       Unten am Meer geht es weniger heroisch zu. Von nun an reihen sich am Radweg
       moderne, mehr oder weniger gesichtslose Feriensiedlungen aneinander.
       Leucate Plage, Le Barcarès, Saint Cyprien – im Hochsommer tobt hier der
       Massentourismus, doch jetzt wirkt alles nur noch überdimensioniert.
       Immerhin rollt es sich vorzüglich auf dem weitgehend asphaltierten, gut
       ausgeschilderten Eurovelo 8. Viel eher als gedacht erreiche ich
       Argelès-sur-Mer, die letzte Station, bevor der Weg hinauf in die Pyrenäen
       und nach Spanien geht.
       
       So habe ich noch genug Zeit, um bei Café au lait und Brioche den Blick auf
       weite, menschenleere Sandstrände, das Meer und die Berge im Hintergrund zu
       genießen. Auf der zweistündigen Zugfahrt nach Sète, wo ich mein Fahrrad
       wieder abgebe, lasse ich die zurückgelegten Etappen an mir vorbeiziehen. Es
       hätten ruhig ein paar mehr sein können, denke ich. Und beschließe,
       irgendwann wiederzukommen und auf dem Mittelmeerradweg weiterzuradeln.
       
       Losradeln? Alle Infos gibt es auf der offiziellen Webseite des Méditerranée
       à vélo: [5][www.lamediterraneeavelo.com], das gesamte Eurovelo-Streckennetz
       findet sich auf [6][de.eurovelo.com].
       
       26 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.lamediterraneeavelo.com
   DIR [2] /Elektroraeder-boomen/!6020047
   DIR [3] /Auto-trotz-E-Bike/!6020815
   DIR [4] /Mit-dem-Rad-um-die-Ostsee/!5763129
   DIR [5] https://www.lamediterraneeavelo.com
   DIR [6] https://de.eurovelo.com
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Wiebrecht
       
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