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       # taz.de -- Mülheimer Theatertage: Kritik ist Liebe
       
       > Ihre Heimat ist der Widerspruch: Sivan Ben Yishai oszilliert zwischen
       > Drastik und Präzision. Ihre Stücke sind auf den Mülheimer Theatertagen zu
       > sehen.
       
   IMG Bild: Hoffnung, dass die Leute wirklich hören, was man ihnen sagt: Sivan Ben Yishai
       
       Provokant, poetisch, drastisch – viele Adjektive liest man derzeit über
       [1][Sivan Ben Yishai] in der internationalen Presse. Adjektive, die sie
       nicht mag. Treffender wäre ohnehin: präzise. Ihre Sprache besticht durch
       sezierende Präzision. Mannheim – wo sie Hausautorin war – nennt sie
       „Frauheim“. Israel ist für sie „Israel-Palästina“.
       
       Als Theaterautorin stellt Ben Yishai Fragen neu, die nie beantwortet
       wurden, nur leiser geworden sind. „Es ist nicht immer einfach, die
       difficult bitch zu sein, die immer etwas zu sagen hat, immer die Sprache
       korrigiert und immer darauf hinweist, dass manche Begriffe für mich nicht
       funktionieren. Trotzdem ist das eine Wahl“, sagt sie.
       
       „Wenn deine Haut aber dunkler ist und du in Deutschland lebst – dann ist es
       keine Wahl. Wenn du als Frau unter Männern agierst, als Transfrau in einer
       heterosexistischen, patriarchalischen, durch Cis-Männer geprägten
       Gesellschaft lebst, hast du keine Wahl.“
       
       [2][Sivan Ben Yishai] ist in der Welt solcher Gegensätze zu Hause. 1978
       wird sie in Jerusalem geboren, studiert Theaterregie an der Universität Tel
       Aviv und lebt seit 2012 in Neukölln.
       
       ## Mülheimer Dramatikpreis
       
       In ihrem Stück „Wounds are forever – Selbstportrait als Nationaldichterin“,
       das jetzt für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert ist, thematisiert sie
       ihr Leben als Israelin in Deutschland. In Begleitung einer Schäferhündin
       reist eine Superwoman – „mehr Helden brauchen wir nicht“ – durch die Zeit
       vom Holocaust bis ins heutige Israel.
       
       Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine bekommt ihr Ritt durch die
       Jahrzehnte eine brennende Aktualität, gerade für sie, die mit
       Bombeneinschlägen „nur 60 Kilometer Luftlinie vom Zentrum von Tel Aviv oder
       Jerusalem entfernt“ aufgewachsen ist: „Narben, Schmerzen und Traumata
       werden in den Körpern von mehreren Generationen überdauern – und von einer
       Generation zur nächsten weitergegeben werden.“
       
       Noch ist ihr zufolge keine eigene Sprache für die „neue Weltordnung, in der
       wir jetzt leben“, gefunden. Auch nicht für die Erschütterung der Menschen,
       die in der vermeintlich sicheren Mitte Deutschlands wohnen: „Sie verstehen,
       dass ein Ort, der nur 1.500 Kilometer entfernt ist, sich irreversibel
       verändert.“
       
       ## Alternatives Hausprojekt in Berlin
       
       Berlin lernt Sivan Ben Yishai in ihren Zwanzigern kennen, als sie Freunde
       in einem alternativen Hausprojekt besucht. Im Keller hatten sie ein Theater
       mit Emporen und einem Zuschauerraum gebaut. „Alles war so liebevoll
       gestaltet. Aber als ich zurückkam, war das Haus verkauft und ein normales,
       nobles Anwesen geworden. Die Mainzer Straße von damals gibt es nicht mehr.“
       
       Der kreative Sehnsuchtsort war vergangen. Mit ihrem Umzug nach Deutschland
       wechselt die damals 33-Jährige nicht nur den Wohnort, sondern auch das
       Medium: „Ich habe begonnen, auf Englisch zu schreiben, um mich von der
       starken Bindung an meine Muttersprache zu befreien – und da begann eine
       völlig neue Reise.“
       
       Umbruch und Sehnsucht, dieses Wort, das sich nicht in ihre Arbeitssprache
       Englisch übersetzen lässt, treibt Sivan Ben Yishais Schaffen an. Wenn sie
       eine Diskussion auf die Bühne hebt, glaubt sie daran, eine Veränderung
       anstoßen zu können. „Alle meine bisherigen Stücke sind ausnahmslos
       Liebesbriefe. Manchmal sind es Liebes- und zugleich Abschiedsbriefe.“
       
       Indem sie die Gesellschaft anprangert, zieht sie das Publikum ganz nah zu
       sich, denn „Kritik ist Liebe“, sagt sie. Dann verschmelzen Sehnsucht und
       Radikalität auf der Bühne zu einer Botschaft. „Meine größte Angst ist, dass
       ich die Hoffnung verliere, dass die Leute wirklich zuhören, was man ihnen
       sagt. Dass eine Diskussion die nächste Revolution auslösen könnte.“
       
       Drastik – etwa, wenn sie die Masturbationsfantasien einer Zwölfjährigen
       oder die inneren Konflikte überforderter Cis-Männer beschreibt, die sich in
       Gewalt entladen – ist ihr Vehikel für die bedingungslose, aber kritische
       Hinwendung zur Gegenwart.
       
       ## Arbeit im verbundenen Dreieck
       
       „Meine Arbeit bewegt sich immer in einem Dreieck: Die erste Ecke bildet das
       weiße, suprematistische, kapitalistische Patriarchat, die zweite
       Israel-Palästina-Deutschland und die Art, wie der Kriegsdiskurs in
       Deutschland stattfindet, und die dritte Institutionen, Machtmissbrauch und
       institutionelle Kritik“, sagt Ben Yishai. Die Ecken sieht sie als
       miteinander verbunden an.
       
       Die Titel ihrer Stücke lesen sich wie Punkband-Alben. 2015 bringt sie „I
       know I’m ugly but I glitter in the dark“ auf die Bühne des Radialsystems.
       Bei den Berliner Autorentheatertagen 2017 führt sie mit „Your very own
       crisis club“ den ersten Teil der Tetralogie „Let the blood come out to show
       them“ auf.
       
       Zwei weitere Teile entstehen als Auftragsarbeiten am Maxim Gorki Theater,
       der letzte „Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight soldiers moonsick)“ dann
       Ende 2018. Im selben Jahr schreibt sie auch das Stück „Die tonight, live
       forever oder Das Prinzip Nosferatu“ für das Theater Lübeck.
       
       Die Reinszenierung von „Liebe. Eine argumentative Übung“ begründet
       schließlich ab 2020 die ständige Zusammenarbeit mit den Münchner
       Kammerspielen unter der Intendanz von Barbara Mundel. Das Stück folgt
       Olivia Öl – der Freundin der Comicfigur Popeye – ab der Pubertät.
       
       ## Olivia und Popeye
       
       Aus Angst vor dem Alleinsein akzeptiert Olivia ein gemeinsames Heim, ein
       geteiltes Konto und die sexuelle Abhängigkeit vom brutalen Begleiter.
       „Olivia und Popeye waren eine großartige Kulisse, die alles ein bisschen
       weniger pathetisch macht, ein bisschen leichter – und die ich für meinen
       nächsten Angriff nutzen konnte“, sagt Ben Yishai.
       
       Auch [3][„Like Lovers do: Memoiren der Medusa“] folgt dieser Logik des
       selbstsicheren Spiels mit menschlichen Qualen. Es wird ebenfalls in München
       uraufgeführt. Im Mai zeigt sie das Stück beim Berliner Theatertreffen –
       dessen Jury beschreibt es vorab als „finster-poetisches Lied“ über
       Sexismus und sexuelle Gewalt.
       
       Derzeit schreibt Sivan Ben Yishai an einem Text für eine Inszenierung von
       Ibsens „Nora“, die ab kommendem September auf dem Spielplan der
       Kammerspiele stehen wird. Den etwa 20-seitigen Prolog gibt es bereits.
       
       Dass sie mit Schreiben ihr Leben verdient – also im Sinne Virgina Woolfs
       einen Raum, Zeit und ausreichend Geld dafür gefunden hat –, sieht Ben
       Yishai als Privileg an: „Ein Teil meines Morgenrituals ist ein Moment, in
       dem ich mir sage: ‚Sivan, guten Morgen. Wie toll ist das, dass du heute
       schreiben kannst. Das ist nicht selbstverständlich, denk daran.‘“
       
       ## Manuskript im Fitnessstudio
       
       Ihr Tag beginnt mit Radionachrichten, und bis in den Nachmittag widmet sie
       sich dann dem Schreiben – als „Termin mit mir selbst, zu dem ich auch
       komme“. Manchmal heißt das, ein Manuskript im Fitnessstudio zu bearbeiten.
       Manchmal muss sie vom Schreibtisch aufstehen, an einem Berliner Kanal
       entlangschlendern, einen Podcast anhören, kochen – „und dann setze ich mich
       wieder an meinen Computer und erledige die Arbeit von fünf Stunden oder
       Tagen in 30 Minuten“.
       
       Täglich steht sie auch via Facebook mit ihrer 94-jährigen Großmutter in
       Austausch, die im nördlichen Israel – „Israel-Palästina“, betont Ben Yishai
       – in einem Kibbuz lebt. „Eine Generation zwischen uns zu haben, ermöglicht
       meiner Großmutter und mir mehr Offenheit und eine radikale Begegnung, einen
       wirklichen Austausch. Wir können anders über die Welt nachdenken.“
       
       Ihre Großmutter hat ihr früher die Unabhängigkeit von klassischen
       weiblichen Rollenbildern vorgelebt und sie konsequent in ihren
       Lebensentscheidungen ermutigt – als „eine andere Vorstellung davon, was es
       bedeutet, eine Frau zu sein“. Heute allerdings mache sie sich manchmal
       Sorgen um den Lebensstil ihrer Enkelin. Sivan Ben Yishai lacht. Aber: „Sie
       gab mir eine Wahl.“
       
       7 May 2022
       
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