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       # taz.de -- NS-Opferverbände rufen Schlichterin an: Entscheidung mit Signalwirkung
       
       > Opferverbände sind gegen den Einzug der belasteten Firma Wintershall-Dea
       > ins Gebäude eines NS-Gedenkorts in Hamburg. Nun beginnt ein
       > Schiedsverfahren.
       
   IMG Bild: Weg in den Tod: Gleisreste des einstigen Deportationsbahnhofs in Hamburgs Hafencity
       
       Hamburg taz | Es ist ein scharfes Schwert, dessen Einsatz aber wohl nicht
       zu vermeiden war: Birgit Voßkühler, Präsidentin des Hamburger
       Verfassungsgerichts, soll nun jenen Streit schlichten, der seit Monaten
       zwischen NS-Verfolgtenverbänden und dem Eigentümer eines Bürokomplexes in
       Hamburgs Hafencity schwelt.
       
       Dort soll, wie im Januar bekannt wurde, das NS-Dokumentationszentrum
       „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ im selben Haus residieren wie Büros der
       Firma Wintershall-Dea. Das Gebäude liegt in Sichtweite des ehemaligen
       Bahnhofs, von dem zwischen 1940 und 1945 über 8.000 Juden, Sinti und Roma
       aus Norddeutschland in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager der
       deutsch besetzten Gebiete deportiert wurden.
       
       Einen Gedenkweg längs des historischen Gleisverlaufs bis zum Bahnsteigrest
       mit Stelen der Opfernamen gibt es bereits. Das Dokumentationszentrum soll
       ab 2023 zusätzlich Lebensläufe der Opfer präsentieren und
       Hintergrundinformationen auch zu [1][Profiteuren] des NS-Regimes liefern.
       
       Zu letzteren zählen – und hieran entzündet sich der Streit – auch die 2019
       fusionierten Firmen Wintershall und Deutsche Erdöl AG (Dea).
       [2][Wintershall] hatte stark von der Expansion des Kaligeschäfts und der
       Erdölproduktion des NS-Regimes profitiert und im Laufe des Zweiten
       Weltkriegs etliche Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter beschäftigt.
       
       Unzumutbar trotz Aufarbeitung 
       
       Und auch wenn Wintershall seine NS-Vergangenheit in einer Dokumentation
       aufgearbeitet hat, dasselbe für Dea plant und Projekte gegen rechts
       unterstützt: Opferverbände – Hamburgs jüdische Gemeinden, das
       Auschwitz-Komitee, die Rom- und Cinti-Union, der Landesverein der Sinti
       sowie die Stiftung Hamburger Gedenkstätten – finden die räumliche Nähe von
       Gedenkstätte und NS-belasteter Firma unzumutbar.
       
       Dabei monieren sie nicht nur, dass sie im Vorfeld weder gefragt noch
       informiert worden seien. „Wie soll man einem Besucher dieses Lernorts
       erklären, dass im selben Gebäude Büros der Firma Wintershall Dea sind, die
       in der NS-Zeit Zehntausende Zwangsarbeiter beschäftigte?“, fragt Arnold
       Weiß, Vorsitzender des Landesvereins der Sinti in Hamburg. „Das ist
       geschmacklos.“
       
       Auch Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und
       Projektleiter für das geplante Dokumentationszentrum, fürchtet, die
       räumliche Nähe könnte bei ehemals Verfolgten und deren Nachfahren Traumata
       berühren.
       
       Das wusste auch die Stadt Hamburg, als sie das Grundstück in Dauernutzung
       an die Müller-Spreer AG verkaufte, 800 Quadratmeter für das Museum aber
       selbst pachtete. Der Eigentümer verpflichte sich, das Gebäude nicht in
       einer Weise zu nutzen oder nutzen zu lassen, „die in der öffentlichen
       Wahrnehmung und insbesondere in der Wahrnehmung der Opfer des
       Nationalsozialismus und ihrer Interessenorganisationen im Konflikt mit dem
       Zweck des Dokumentationszentrums steht oder der Ausstrahlung eines
       Gedenkortes abträglich ist“, so steht es im Vertrag.
       
       Vertragskonstruktion spart Geld 
       
       Diese Formulierung bereitet nun Probleme. „Ich habe in den Verhandlungen
       mit der städtischen Hafencity GmbH immer wieder gefragt: ,Wen oder was
       meint ihr damit?'“ sagt Harm Müller-Spreer. „Ich bekam zu hören, dass ich
       nicht an AfD, Pegida oder aktuelle Holocaust-Leugner vermieten sollte.“
       Daran habe er sich gehalten. Er wolle die Emotionen der Opferverbände auch
       nicht kleinreden. Aber eine Pflicht, sie vorab zu informieren, stehe nicht
       im Vertrag. „Ich habe keinen Fehler gemacht“, sagt er. „Wenn die Stadt eine
       Gedenkstätte ohne andere Mieter hätte haben wollen, hätte sie auf eigene
       Kosten ein eigenständiges Museum bauen müssen.“
       
       In der Tat hat die Stadt Hamburg eine ähnliche Vertragskonstruktion schon
       zuvor gewählt, um Geld zu sparen – etwa beim Verkauf des [3][Stadthauses,]
       der einstigen Gestapo-Zentrale. Bei der Privatisierung dieses attraktiven
       Gebäudes ließ sich der Senat zusichern, dass der Käufer auf eigene Kosten
       einen 750 Quadratmeter großen Gedenkort einrichten werde. Der Käufer hielt
       die vereinbarte Größe nicht ein, und die Stadt hatte keine Handhabe, weil
       sie die Fläche nicht zurückgepachtet hatte.
       
       ## Ein wichtiger Schritt
       
       Dieses Versäumnis hat man beim Vertrag mit Müller-Spreer korrigiert. Zudem
       sieht das Papier vor, „dass im Fall von Meinungsverschiedenheiten über die
       weitere Nutzung der Flächen in dem Gebäudekomplex die Anrufung der
       Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts möglich ist und diese
       verbindlich über das Vorliegen eines Verstoßes entscheidet“.
       
       Und da trotz mehrfacher Gespräche kein Konsens zwischen Opferverbänden und
       Eigentümer zustande kam, haben Kulturbehörde und Bauherr jetzt besagte
       außergerichtliche Schlichterin angerufen. Sie werde sich um eine Einigung
       bemühen, „die alle Beteiligten dauerhaft zufriedenstellt“, sagt Birgit
       Voßkühler.
       
       Für die Opferverbände ist dies ein wichtiger Schritt. Denn wie auch immer
       sie ausfällt: Voßkühlers Entscheidung wird Signalwirkung haben.
       
       25 Mar 2021
       
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   DIR Petra Schellen
       
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