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       # taz.de -- Nach Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen: Ein Tod, viele Fragen
       
       > Ein Mann stirbt nach einem Polizeieinsatz in Brandenburg. taz-Recherchen
       > bringen Ungereimtheiten ans Licht. War es Polizeigewalt?
       
   IMG Bild: Der Ort des Geschehens, das Grundstück eines Mehrfamilienhauses in Königs Wusterhausen
       
       Ivan N. ist nicht überrascht. “Mein Bruder ist tot. Ich weiß es schon“,
       sagt er am Telefon. Er sagt das mit ruhiger Stimme.
       
       Wir haben ihn am Donnerstagnachmittag angerufen, um nach Vitali N. zu
       fragen, 45 Jahre alt, geboren in Moldau. Wie viele aus dem Land hatte er
       auch einen bulgarischen Pass, um in der EU arbeiten zu können. Am Dienstag
       der vergangenen Woche nimmt die Polizei Vitali N. in der brandenburgischen
       Stadt Königs Wusterhausen fest. Einen Tag später stirbt er in einem
       Berliner Krankenhaus.
       
       Die Staatsanwaltschaft in Berlin ermittelt nun die Todesursache.
       [1][Recherchen der taz lassen Zweifel aufkommen], wie glaubhaft die
       Darstellung der Polizei zum Ablauf der Festnahme und zu den Ereignissen
       danach ist.
       
       [2][Immer wieder sterben in Deutschland Menschen bei Polizeieinsätzen.] Oft
       sind es Menschen mit Migrationshintergrund oder in einer psychischen
       Ausnahmesituation. Selten werden diese Todesfälle komplett aufgeklärt. Ob
       auch Vitali N. psychisch krank war, ist unklar. In der Polizeimeldung nach
       der Festnahme heißt es, er sei “psychisch auffällig“ gewesen.
       
       ## Eine knappe Polizeimeldung
       
       Vitali N. war seit dem 1. April in einem dreistöckigen Wohnhaus in
       Niederlehme gemeldet, einem Stadtteil von Königs Wusterhausen. Am 11.
       April, Dienstag, soll er dort randaliert haben. Eine Nachbarin erzählt am
       Mittwoch dieser Woche, er sei im Nachbarhaus und in ihrem Haus die Treppen
       auf- und abgelaufen. “Es klang, als hätte jemand die ganze Zeit Türen
       geschmissen.“
       
       Die Meldung, die die Polizei am 12. April, dem Tag nach der Festnahme
       herausgibt, ist knapp. Ein Mann habe sich “unberechtigt auf einem
       Grundstück“ aufgehalten, auf Gegenstände und Autos geschlagen. “Er verhielt
       sich aggressiv, biss“. Polizisten hätten ihn fixiert und gefesselt – mit
       Hilfe von Anwohnern. Plötzlich sei er ohnmächtig geworden, ein Notarzt
       gerufen worden. Als der Mediziner ankommt, sieht er, dass die
       Polizei-Beamten versuchen, Vitali N. wiederzubeleben. Nach rund 30 Minuten
       hat Vitali N. zum ersten Mal wieder einen Kreislauf. So schreibt es der
       Notarzt in seinem Bericht. Das Dokument liegt der taz vor.
       
       Ein Krankenwagen fährt Vitali N. etwa 30 Kilometer in ein Krankenhaus im
       Berliner Bezirk Neukölln. “Zur medizinischen Behandlung“ heißt es in der
       Polizeimeldung. Gut 20 Stunden nach der Festnahme ist Vitali N. tot.
       
       Während Ivan N. von den deutschen Behörden eine Erklärung für den Tod
       seines Bruders fordert, produzieren Polizei und Justiz Widersprüche.
       
       ## Eine Durchsuchung ohne Anordnung?
       
       Nachdem Vitali N. bewusstlos in das Berliner Krankenhaus eingeliefert
       wurde, kamen Polizisten in die Klinik, um die Kleidung von Vitali N. zu
       beschlagnahmen und eine Blutprobe zu entnehmen. Der taz liegt das
       Amtshilfeersuchen der Brandenburger an die Berliner Polizei vor. Darin
       bittet ein Hauptkommissar aus Königs Wusterhausen seine Berliner Kollegen,
       die Kleidung von Vitali N. sicherzustellen und eine Blutprobe zu entnehmen.
       Dies sei “am heutigen Tage nach Rücksprache mit der“ zuständigen
       Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Cottbus “um 00.40 Uhr angeordnet“
       worden, heißt es in dem Dokument. In Cottbus ist man für Königs
       Wusterhausen zuständig.
       
       Auf taz-Nachfrage bei der Cottbusser Staatsanwaltschaft sagt eine
       Sprecherin am Mittwoch dieser Woche allerdings: “Die Staatsanwältin hat in
       dieser Nacht die Durchsuchung nicht angeordnet.“
       
       Wie kann das sein? Hat die Brandenburger Polizei die Kleidung von Vitali N.
       ohne offizielle Anordnung beschlagnahmen lassen? Hat die Brandenburger
       Polizei behauptet, es gebe eine Anordnung, um die Kollegen loszuschicken?
       
       Donnerstag. Zweiter Versuch, das mit der Durchsuchung zu klären. Eine
       zweite Anfrage bei der Staatsanwaltschaft Cottbus, dieses Mal schriftlich.
       Keine Antwort, auch telefonisch nicht. Ebensolche Anfragen gehen an das für
       ganz Brandenburg zuständige Polizeipräsidium in Potsdam und an die für die
       Ermittlungen zum Tod Vitali Ns. zuständige Generalstaatsanwaltschaft in
       Berlin. Potsdam verweist auf Berlin, Berlin verweist auf die Pressestellen
       der Polizeien in Berlin und Brandenburg. Die wiederum verweisen auf die
       Staatsanwaltschaft in Cottbus. Als wir dort den angeblich zuständigen
       Staatsanwalt erreichen, sagt er, er sei nicht zuständig und seine
       Kolleginnen in Polen oder anderweitig nicht zu erreichen.
       
       Das sind nicht die einzigen Ungereimtheiten.
       
       Die Einschätzungen der Mediziner:innen im Klinikum Neukölln zu den
       Ursachen für den Tod von Vitali N. decken sich nicht mit denen von Polizei
       und Justiz. Auf dem Leichenschauschein, der nach Vitali Ns. Tod im Klinikum
       Neukölln ausgestellt wurde, heißt es, Vitali N. habe eine „schwerste
       anoxische Hirnschädigung“ erlitten, einen systemischen „Sauerstoffmangel
       durch mechanische Behinderung der Atmung“. Einen “Atem- und
       Herzstillstand“. Entstanden sei dieser „durch gewaltsames zu Boden drücken
       von Gesicht und Thorax in Bauchlage“. Gewalt, also? Das Dokument liegt der
       taz vor.
       
       ## Eine Obduktion und offene Fragen
       
       Die Staatsanwaltschaft Berlin hat am Dienstag dieser Woche, eine Woche nach
       Vitali Ns. Festnahme, mitgeteilt, [3][bei einer vorläufigen Obduktion habe
       es keine Hinweise auf äußere Gewalteinwirkung gegeben]. Die
       Gerichtsmediziner:innen hätten auch keine Belege dafür gefunden, dass
       Vitali N. an Erde erstickt sei. Mitarbeiter:innen des Klinikum
       Neukölln hatten das vermutet. Auch im Einsatzbericht des Notarztes, der
       Vitali N. in Königs Wusterhausen erstversorgt hat, heißt es, Vitali N. habe
       “feuchte Erde in Mund und Nase“ gehabt.
       
       In der Lunge von Vitali N. seien allerdings keine Erdrückstände gefunden
       worden, sagt eine Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft der taz. Der
       Tote habe Einblutungen an Rücken und Schulter gehabt, die aber nicht
       todesursächlich gewesen seien. Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen,
       es stehen noch feingewebliche Untersuchungen aus.
       
       Eine weitere Unstimmigkeit gibt es bei der Frage, ob Vitali N. noch
       gefesselt war, auch nachdem er bewusstlos wurde. Ohnmächtige zu fixieren,
       gilt unter Notärzt:innen als gefährlich. Die Reanimation wird erschwert,
       das Erstickungsrisiko steigt. Am Tag nach dem Einsatz hatte die Polizei
       vermeldet, dass Vitali N. nach der Festnahme ohnmächtig wurde. Die
       Handfesseln seien gelöst, Erste Hilfe geleistet und ein Notarzt gerufen
       worden.
       
       Im Einsatzbericht des Notarztes, der der taz vorliegt, klingt das anders.
       Dort steht, der Arzt sei um 21.45 Uhr alarmiert worden “wegen
       Atemstillstand in polizeilicher Fixierung“. Als der Notarzt eintrifft, wird
       der Mann demnach “bereits durch Polizei reanimiert“. “Handschellen liegen
       noch an“, notiert der Notarzt in seinem Bericht. Ob das heißt, dass Vitali
       N. noch vollständig gefesselt war, ließ sich bis Redaktionsschluss nicht
       abschließend klären.
       
       Vitali N. stirbt am Tag nach seiner Festnahme um 17.57 Uhr auf der
       Intensivstation 1 des Klinikum Neukölln. Er stirbt allein, heißt es aus der
       Klinik. Die Polizei habe keine Angehörigen ermitteln können.
       
       ## Ein Sohn, Bruder, und Vater
       
       Ivan N., der Bruder des Toten, spricht mal mit klarer, fester Stimme, mal
       wird er laut, mal weint er. Ein Mitarbeiter der moldauischen Botschaft habe
       sich am Freitag, zwei Tage nach dem Tod seines Bruders, gemeldet und ihm
       die Nachricht überbracht. „Er sagte mir, dass es eine Art Konfrontation
       zwischen der Polizei und meinem Bruder gab und dass die Polizei ihn mit
       Pfefferspray besprüht hat. Er ist dann im Krankenhaus verstorben“, erzählt
       Ivan N. Mehr habe der Botschaftsmitarbeiter nicht gewusst.
       
       Dass zwischen dem Todeszeitpunkt und dem Anruf bei der Familie ganze zwei
       Tage liegen, macht Ivan N. wütend. Dass er und Vitalis Familie kaum etwas
       erfahren darüber, wo sein Bruder jetzt ist, wie und warum er gestorben ist,
       beschreibt Ivan N. als „Horror“.
       
       Vitali N. hatte nicht nur einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester,
       die in einem kleinen Ort im Süden Moldaus leben, sondern auch einen 15
       Jahre alten Sohn. Er lebt mit seiner Mutter, Vitalis Ex-Frau, in Italien,
       erzählt der Bruder. In russischsprachigen sozialen Netzwerken hat Vitali N.
       Fotos gepostet: Er mit Kleinkind auf dem Arm, er mit Kinderwagen, sein Sohn
       im Spiel mit anderen Kindern. Unter einem Bild, das seinen Sohn als
       Kleinkind zeigt, hat Vitali N. geschrieben: „Mein geliebter Sohn“. Unter
       ein anderes, mit seiner Ex-Frau, „Meine Familie!“. Unter ein Foto hat
       jemand geschrieben: „Vitalik, du veränderst dich nicht, du bist immer
       positiv.“
       
       Ivan N. beschreibt seinen Bruder als ruhigen, unauffälligen Menschen. Als
       einen, der selten Alkohol trank, weil er keinen vertrug. Auch der Bluttest
       in der Berliner Klinik, in die Vitali N. nach der Festnahme bewusstlos
       eingeliefert wurde, ergab: Kein Alkohol, keine Drogen im Blut, Vitali N.
       war nüchtern. Anwohner:innen hatten erzählt, Vitali N. habe sich am Tag
       seiner Festnahme wie jemand verhalten, der Drogen genommen habe.
       
       Sein Bruder habe viel gearbeitet, sagt Ivan N., vor allem um seinen Sohn zu
       unterstützen. Dafür hat er Jobs im Ausland angenommen: Russland, Bulgarien,
       Deutschland. Das bestätigen Freund:innen von Vitali, die wir ebenfalls
       über russischsprachige soziale Netzwerke finden.
       
       ## Auf der Suche nach einem besseren Leben
       
       Was sie und Vitalis Bruder erzählen, ist die Geschichte eines Mannes, der
       wie viele Menschen aus Osteuropa aufbricht, um Geld für ein besseres Leben
       zu verdienen. In Russland arbeitet er als Mechaniker in einer
       Fleischfabrik, als Taxifahrer und als Vorarbeiter auf dem Bau. Später zieht
       er nach Bulgarien, um Autos zu überführen und zu reparieren, erzählt ein
       Freund aus Russland. Und: Vitali sei „ein sehr frommer Mensch“ gewesen.
       Mitarbeiter:innen der Berliner Klinik fanden in seinem Portemonnaie
       ein Marienbild und einen Gewerbeschein, der Vitali als Trockenbauer
       auswies.
       
       In Königs Wusterhausen hatte Vitali N. wahrscheinlich kaum Zeit anzukommen,
       bevor er starb. Der Verkäufer im Dönerrestaurant unweit von seinem Haus
       sagt, er habe ihn in den letzten ein bis zwei Monaten häufiger hier
       gesehen. Er sei immer allein zum Essen gekommen. Eine Frau, die im selben
       Haus wohnt, sagt, sie sei Vitali N. am Tag der Festnahme zum ersten Mal
       begegnet.
       
       Der Rasen vor dem Haus ist schon wieder ganz glatt an diesem Mittwoch.
       Nichts deutet auf den Polizeieinsatz hin, in dessen Folge ein Mensch
       gestorben ist.
       
       21 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vorwuerfe-gegen-Polizei-in-Brandenburg/!5926144
   DIR [2] /Gewalt-bei-der-Polizei/!5757873
   DIR [3] https://www.tagesspiegel.de/potsdam/brandenburg/bulgare-nach-polizeieinsatz-gestorben-obduktion-ergibt-vorerst-keinen-hinweis-auf-gewalttat-9673430.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
   DIR Anne Fromm
   DIR Daniel Schulz
       
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