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       # taz.de -- Nach Raketeneinschlag in Polen: Zwei Raketen und viele Fragen
       
       > Es ist ein Kollateralschaden russischer Angriffe auf die Ukraine. Worüber
       > die Welt seit dem Einschlag der Raketen an der polnischen Grenze spricht.
       
   IMG Bild: Spurensuche: Ermittler suchen im Krater der eingeschlagenen Rakete nach Indizien. Przewodow, 16.11
       
       Berlin taz | Es war die Nachricht, auf die die Welt angstvoll wartet, seit
       Russland am 24. Februar die Ukraine überfallen hat: „Russische Raketen“
       seien in Polen eingeschlagen, es gebe zwei Tote, meldeten internationale
       Nachrichtenagenturen am Dienstagabend kurz vor 20 Uhr. Erstmals hätte damit
       der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Territorium eines
       Nato-Mitglieds erreicht.
       
       War das wirklich der Startschuss zum Dritten Weltkrieg? Die ursprüngliche
       Nachricht, die der Journalist Mariusz Gierszewski vom polnischen
       Radiosender ZET um 18.28 Uhr verbreitete, lautete „Inoffiziell: Zwei
       verirrte Raketen sind in der Stadt Przewodów in der Woiwodschaft Lublin
       nahe der Grenze zur Ukraine niedergegangen.
       
       Sie trafen die Getreidetrocknungsanlage. Zwei Menschen starben. Polizei,
       Staatsanwaltschaft und Armee sind vor Ort.“ Der Sender präzisierte
       anderthalb Stunden später auf seiner Webseite: „Radio-ZET-Reporter Michał
       Dzienyński fand heraus, dass die Explosionen beim Auffahren eines Traktors
       auf die Waage aufgetreten sind. Wir wissen nicht, was passiert ist, das
       Gebiet ist gesichert, sagte uns der Sekretär der Gemeinde Dołhobyczów.“
       
       Die Regierungen Polens sowie der USA bestätigten ausdrücklich nicht die
       Angabe der Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf US-Geheimdienste, es
       handele sich um „russische Raketen“.
       
       ## Spekulationen und Propaganda
       
       Der Propagandakrieg zwischen Moskau und Kiew ging derweil seinen Gang.
       „Russischer Raketenterror“ habe in Polen getötet, erklärte Ukraines
       Präsident Wolodimir Selenski in der Nacht. Das bedeute eine gravierende
       Eskalation, es müsse eine Reaktion geben: „Es besteht Handlungsbedarf.“
       Fast zeitgleich erklärte Russlands Verteidigungsministerium den Vorfall zu
       einer „Provokation“, mit der man „nichts“ zu tun habe.
       
       Im russischen Fernsehen wurden widerstreitende Spekulationen geäußert: Es
       sei gar nichts passiert, es war die Ukraine selbst, es war Großbritannien.
       Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fühlte sich davon an die
       Moskauer Desinformation über den [1][russischen Abschuss des
       Passagierflugzeuges MH17] über ukrainischem Gebiet im August 2014 erinnert
       und ärgerte sich auf Twitter: „Jetzt befördert Russland eine
       Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen
       Luftabwehr war, die auf polnisches Gebiet gefallen ist. Was nicht stimmt.
       Niemand sollte der russischen Propaganda glauben oder ihre Botschaft
       verbreiten.“
       
       Aber was am späten Dienstagabend für die Ukraine noch
       „Verschwörungstheorie“ war, ist am Mittwoch für Polen die wahrscheinlichste
       Erkenntnis. Es sei „höchstwahrscheinlich“, dass es eine Rakete der
       ukrainischen Luftabwehr gewesen sei, sagte Polens Präsident Andrzej Duda am
       Mittwochmittag. Es gebe keinen Hinweis für einen Angriff auf Polen.
       
       In der Nacht war Duda sich noch nicht so sicher gewesen. „Wir haben im
       Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat“,
       hatte er gesagt: „Es war höchstwahrscheinlich eine Rakete aus russischer
       Produktion, aber das wird im Moment alles noch untersucht.“
       
       ## Trümmer vom selben System
       
       Wenig später hatte aber US-Präsident Joe Biden auf Bali, wo er und die
       anderen G7-Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel weilten und sich zum
       nächtlichen Krisengespräch trafen, die These eines russischen Beschusses in
       Zweifel gezogen: „Es gibt vorläufige Informationen, die das bestreiten. Ich
       möchte das nicht sagen, bevor wir es nicht vollständig untersucht haben,
       aber angesichts der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie von Russland
       abgefeuert wurde.“
       
       Am Mittwoch verfestigte es sich zur Gewissheit, dass es sich bei dem
       Raketentreffer in Polen, egal ob Russland oder die Ukraine der Urheber war,
       um ein Versehen gehandelt hat – entweder ein fehlgeleiteter russischer
       Angriff oder eine an der falschen Stelle niedergegangene ukrainische
       Abwehrrakete, oder beides.
       
       Bilder vom Tatort, deren Echtheit nicht bestätigt ist, zeigen Trümmer, die
       laut Experten dem ursprünglich sowjetischen Luftabwehrsystem S300
       entsprechen. Dieses wird von beiden Ländern eingesetzt. Die Ukraine fängt
       damit russische Angriffe ab, wobei schon mehrfach heruntergefallene eigene
       Raketenteile Schäden am Boden angerichtet haben. Russland hat S300-Systeme
       in Belarus stationiert und soll sie zum Teil für Angriffe auf Bodenziele
       umgebaut haben, deren Effektivität allerdings umstritten ist.
       
       Tief in der Nacht meldete sich der polnische Radiojournalist Gierszewski
       wieder und bestätigte: „Meine Quellen in den Diensten sagen, dass das, was
       Przewodów getroffen hat, höchstwahrscheinlich die Überreste einer Rakete
       sind, die von den ukrainischen Streitkräften abgeschossen wurde.“
       
       ## 1 + 1 = 2 Raketen
       
       Dass eine ukrainische Rakete eine russische Rakete abgefangen habe, ist
       auch für den deutschen Waffenjournalisten Lars Winkelsdorf die plausibelste
       Erklärung: „Schießt man mit einer Rakete auf eine fliegende Rakete und
       trifft die, dann hat man exakt zwei Raketen, die dann gen Boden unterwegs
       sind, wenn auch nunmehr eher teilweise“, erläutert er auf Twitter. Der
       Sprengkopf der getroffenen Rakete könne dann am Boden explodieren. „Dann
       entsteht so ziemlich exakt das Bild, das gerade in Polen festgestellt
       wurde.“
       
       Diese Feststellung nimmt der Situation allerdings nicht ihre Brisanz, denn
       dann hat es nicht nur eine ukrainische Abwehraktion gegeben, sondern auch
       einen russischen Beschuss. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte
       am Nachmittag, zu der Explosion in Przewodów sei es wahrscheinlich in der
       Folge eines Abschusses einer russischen Rakete gekommen; es sei eine
       sowjetische Flugabwehrrakete in ukrainischem Besitz auf polnisches Gebiet
       gefallen.
       
       Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach am Mittwochmittag von der
       ukrainischen Abwehr eines russischen Marschflugkörpers. Diese Raketen
       werden ferngesteuert, und dabei können Fehler geschehen. Die Zeitung
       Ukrainska Pravda berichtete unter Berufung auf polnische Militärexperten,
       es seien Trümmer identifiziert worden, die von einem Marschflugkörper des
       von Russland verwendeten Typs Kh-101 stammen könnten. Die Regierung der
       Ukraine fordert nun Zugang zum Einschlagsort in Polen.
       
       Sergej Sumlenny, ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew,
       weist darauf hin, dass Przewodów nahe der Stromtrasse liegt, die die
       Stromnetze der Ukraine und Polens verbindet – seit Februar ist die Ukraine
       dadurch an das EU-Stromnetz angeschlossen und nicht mehr an das russische,
       und sie exportierte darüber zuletzt Strom nach Polen. Auf der ukrainischen
       Seite der Grenze befindet sich das Kraftwerk Dobrotwirska, wo die Leitungen
       aus der Ukraine Richtung Polen zusammengeführt werden.
       
       ## Zynische Berechnung
       
       Dobrotwirska war am Dienstag eines von vielen Zielen einer erneuten
       massiven russischen Angriffswelle auf die Ukraine. Seit Oktober, als der
       für seine brutale Kriegsführung in Syrien berüchtigte General [2][Sergej
       Surowikin] das Kommando der russischen „Spezialoperation“ übernahm, gibt es
       immer wieder Luft- und Raketenangriffe auf das gesamte Land, die vor allem
       der Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und Energieversorgung gelten.
       
       Die Angriffe am Dienstag waren die schwersten auf das ukrainische Stromnetz
       seit Kriegsbeginn, erklärte am Abend der stellvertretende ukrainische
       Energieminister Jaroslaw Demtschenkow. Der staatliche Energieversorger
       Ukrenergo erklärte nach den Angriffen, die Situation sei „so ernst wie
       nie“, und führte aus: „Objekte im ganzen Land kamen unter Beschuss.
       
       Seit Anfang Oktober ist dies der sechste massive Angriff auf die
       Energieinfrastruktur des Landes, diesmal der größte: etwa 100 Raketen. Jede
       Rakete flog mit dem Ziel, die Ukraine in die Dunkelheit zu werfen. Der
       Angriff wird mit zynischer Berechnung ausgeführt, in dem Moment, wo der
       Spitzenverbrauch beginnt.“ Russlands Verteidigungsministerium bestätigte
       die Angriffe auf die Energieinfrastruktur und erklärte, sie hätten ihre
       Ziele erreicht.
       
       Die Angriffe setzten am Dienstag gegen 15 Uhr ein, der Raketeneinschlag in
       Polen erfolgte gegen 16 Uhr, zum Höhepunkt des landesweiten Raketenterrors.
       Mehrere Angriffswellen trafen Kiew, es gab Tote und Verletzte, in Teilen
       der Hauptstadt fiel der Strom aus, ebenso im gesamten Gebiet Charkiw. In
       der Südukraine saßen 566 Bergleute in einer Eisenerzmine durch Stromausfall
       in der Grube fest und mussten gerettet werden.
       
       ## Zehn Millionen ohne Strom
       
       In der westukrainischen Stadt Lwiw, in deren Nähe das Kraftwerk
       Dobrotwirska liegt, fiel der Strom zu 80 Prozent aus, die Wärmeversorgung
       musste eingestellt werden. Die Situation sei „kritisch“, sagte am Abend
       Kyrylo Tymoshenko, Vizechef der Präsidialverwaltung. Zehn Millionen
       Menschen seien landesweit ohne Strom, erklärten die Behörden am Mittwoch.
       
       Auch Nachbarländer waren betroffen. Die russischen Öllieferungen an Ungarn
       über die Druschba-Pipeline, die durch die Ukraine verläuft, wurden von der
       Ukraine wegen Beschädigung der Einrichtungen kurzzeitig ausgesetzt. Die
       Republik Moldau meldete Stromausfälle, nachdem eine wichtige Leitung aus
       der Ukraine notabgeschaltet wurde. Auch zwei ukrainische Atomreaktoren
       mussten vom Netz getrennt werden.
       
       16 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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