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       # taz.de -- Nach dem Brexit-Referendum: They'll leave
       
       > Schottland und Nordirland stimmen deutlich für den Verbleib in der EU,
       > England und Wales dagegen. David Cameron kündigt seinen Rücktritt an.
       
   IMG Bild: Kater Larry aus der Downing Street 10 auf dem Weg zu einem Meeting
       
       London taz | Die Briten haben für den Austritt aus der Europäischen Union
       gestimmt. Nach Abschluss der Auszählung der Stimmen in der Volksabstimmung
       vom Donnerstag zur Frage, ob Großbritannien in der EU bleiben oder sie
       verlassen soll, kamen die Brexit-Befürworter auf 51,89 Prozent, die
       EU-Befürworter auf 48,11 Prozent. In absoluten Stimmen wurden laut BBC
       17.410.742 Stimmen für „Leave“ abgegeben, 16.141.241 für „Remain“ – ein
       Unterschied von über einer Million.
       
       „Eine Überraschung“ nannte die Vorsitzende der offiziellen
       Austrittskampagne, die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart,
       das Ergebnis in Manchester am frühen Morgen und rief zur Ruhe auf. Es sei
       ein Votum gegen den Mangel an Demokratie in der EU, nicht gegen Europa. Das
       sei nun der Beginn eines Prozesses zum Austritt.
       
       Es war ein Versuch der Mäßigung, nachdem als erster Nigel Farage, Führer
       der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), im
       Morgengrauen eine Siegesrede gehalten hatte, als erst zwei Drittel der
       Ergebnisse bekannt waren. „Dies wird ein Sieg für richtige Menschen sein“,
       sagte er, „für normale Menschen, für anständige Menschen“. Man habe lange
       gekämpft, „gegen die Multis, gegen Big Business, gegen Lügen und
       Korruption“.
       
       In einer weiteren Erklärung nach Verkündung des offiziellen Ergebnisses
       erklärte Farage am Morgen vor dem Parlamentsgebäude, Großbritannien habe
       sich von einer gescheiterten Union befreit und dieser Brexit-Erfolg sei
       beispielhaft für andere europäische Länder, deren Bürger ebenfalls den
       Austritt wünschten. Europas Zukunft liege in einer „Zusammenarbeit zwischen
       souveränen Nationalstaaten“, so der UKIP-Chef. Farage forderte einen
       Rücktritt des konservativen Premierministers David Camerons zugunsten einer
       „Brexit-Regierung“ und die Einrichtung des 23. Juni als öffentlicher
       Feiertag in Großbritannien, „Independence Day“.
       
       ## Corbyn respektiert Ergebnis
       
       EU-Befürworter sprachen von einer Katastrophe für Großbritannien und für
       die EU. Die einzige grüne Parlamentsabgeordnete Caroline Lucas sagte, sie
       habe jetzt ein „gebrochenes Herz“. Labour-Führer Jeremy Corbyn erklärte am
       Morgen: „Das britische Volk hat seine Entscheidung gefällt und sie muss
       respektiert werden“. Er führte den Brexit-Sieg darauf zurück, dass „viele
       Gemeinschaften die Schnauze voll haben, von Kürzungen und ökonomischer
       Marginalisierung“.
       
       Premierminister David Cameron trat nach etwas Bedenkzeit und einem Besuch
       bei der Queen gemeinsam mit seiner Ehefrau vor die Presse in Downing Street
       und kündigte seinen Rücktritt bis Oktober an. Das Land brauche eine
       „frische Führung“, um es in die Richtung zu steuern, die das Volk bestimmt
       habe, sagte der Regierungschef. Die Briten seien seiner Empfehlung nicht
       gefolgt, aber ihr Wille müsse respektiert werden, sagte Cameron und
       betonte, er sei „sehr stolz und geehrt“, Großritannien sechs Jahre lang
       geführt zu haben.
       
       Die konservative Partei soll nun bis zu ihrem nächsten regulären Parteitag
       einen neuen Führer bestimmen, der dann auch die Austrittsverhandlungen mit
       der EU führt. Cameron machte damit auch klar, dass er nicht – anders als
       vor dem Referendum angekündigt – sofort die Austrittsklausel der
       EU-Verträge aktivieren wird, die eine zweijährige Frist für
       Austrittsverhandlungen setzt. Auch das soll erst ein neuer Premier machen.
       
       Die Finanzmärkte in Asien reagierten noch in der Nacht mit scharfen
       Abwertungen des britischen Pfundes und des Euro gegenüber dem US-Dollar, da
       nun eine jahrelange Zeit ökonomischer und politischer Unsicherheit erwartet
       wird. Das Pfund fiel zeitweise auf den tiefsten Stand gegenüber dem Dollar
       seit 1985.
       
       Die niederländische Rechte verlangt ein eigenes EU-Referendum. In
       Schottland erklärte die Premierministerin der Regionalregierung, Nicola
       Sturgeon von der Scottish National Party (SNP), die Schotten hätten sich
       für die EU ausgesprochen; ihr Umfeld stellte einen neuen Anlauf für ein
       Unabhängigkeitsreferendum in Schottland in Aussicht. In Nordirland
       verlangte die katholisch-republikanische Sinn Fein, politischer Flügel der
       einstigen Terrororganisation IRA, ein irlandweites Referendum über die
       Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland.
       
       ## London stimmt klar pro-EU
       
       Das Referendum zeigt eine klare regionale Spaltung des Vereinigten
       Königreiches. Schottland und Nordirland stimmten für den Verbleib in der
       EU, England und Wales dagegen. In Schottland beträgt die EU-Mehrheit 62
       Prozent, in Nordirland 56 Prozent: Die Austrittsbefürworter holten in Wales
       demgegenüber 52 Prozent und in England 53 Prozent.
       
       Von allen englischen Regionen stimmte lediglich London für die EU, mit 60
       gegen 40 Prozent. Die höchsten Mehrheiten, mit fast 80 Prozent, gab es in
       Lambeth und Hackney, zwei der ärmsten Bezirke mit hohen Migrantenanteilen.
       Außenbezirke mit der durch Gentrifizierung aus der Stadt verdrängten weißen
       unteren Mittelschicht stimmten demgegenüber mit bis zu 70 Prozent gegen die
       EU. Pro-EU-Mehrheiten gab es auch in den reicheren ländlichen Gebieten des
       Londoner Speckgürtels oder der Cotswolds, wo Premier Cameron seinen
       Wahlkreis hat und die Geldelite lebt, sowie vielen Großstädten wie Oxford,
       Bristol oder Liverpool.
       
       Für den Austritt stimmten vor allem die ökonomisch abgehängten ehemaligen
       Industrieregionen in Nordengland und den Midlands sowie die ländlichen
       Regionen Englands, vor allem im Osten, teils mit mehr als zwei Dritteln der
       abgegebenen Stimmen. Das war erwartet worden, nicht aber die
       außerordentlich hohe Wahlbeteiligung von 72 Prozent, die bei
       Parlamentswahlen zuletzt vor 24 Jahren erreicht wurde. In vielen der
       Brexit-Regionen gehen viele Wahlberechtigte bei Parlamentswahlen
       normalerweise nicht zur Wahl, weil sie in sicheren Labour-Wahlkreisen leben
       und ihre Stimme keinen Einfluss auf die Sitzverteilung hat – bei einer
       Volksabstimmung ist das anders.
       
       Überrraschend für viele Meinungsforscher war, dass Wales mehrheitlich für
       den Austritt stimmte. Auch Austrittsmehrheiten in einzelnen Großstädten wie
       Birmingham und Sheffield waren nicht unbedingt erwartet worden.
       
       Das Ergebnis widerspricht den meisten Umfragen; vor allem in den letzten
       Tagen war von Seiten der EU-Befürworter das Gefühl verbreitet worden, man
       habe den Brexit-Elan der Vorwoche gebrochen und steuere auf einen sicheren
       Sieg für den Status quo zu. Aber schon mit den ersten Ergebnissen wurde
       deutlich, dass es anders ausgehen könnte – und im Laufe der Nacht
       verstärkte sich dieser Trend immer mehr.
       
       Die Ereignisse der Nacht und Reaktionen des Tages zum Nachlesen in unserem
       musikalischen Liveticker: [1][taz.de/brexit]
       
       24 Jun 2016
       
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