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       # taz.de -- Nach dem Tod von Toni Morrison: Sie gab uns ein Morgen
       
       > Toni Morrison schrieb für diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft
       > aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen. Ein Nachruf.
       
   IMG Bild: Hat sich nie verstellt: die Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison
       
       Als ich das erste Mal den Roman „Beloved“ (auf Deutsch „Menschenkind“) von
       [1][Toni Morrison] las, war ich überwältigt. Ich erinnere mich nicht, wer
       ich vorher war, aber danach war ich eine andere Person. Ich habe damals
       sicherlich nicht alles verstanden, habe das Buch lange nicht begreifen
       können und hadere stellenweise immer noch damit. Aber die Geschichte einer
       Mutter, Sethe, die ihr eigenes Kind ermordet, um es vor der Sklaverei zu
       retten, erschütterte mich, prägte mich und begleitet mich bis heute.
       
       Sethe ist eine herausragende Figur: stark, entschlossen und unerbittlich.
       Sie machte mir Angst und war Vorbild zugleich. Lange nachdem ich das Buch
       weggelegt hatte, hatte ich mir erlaubt zu fragen, ob ich jemals den Mut
       würde aufbringen können, ein solches Zeugnis zu Papier zu bringen? Die
       andere Frage – wozu wäre ich bereit, um meine Kinder vor einem Leben in
       Folter zu schützen – ließ ich absichtlich unbeantwortet, in der Hoffnung,
       ich würde mir diese Frage nie ernsthaft stellen müssen.
       
       Morrisons ersten Roman „The Bluest Eye“ (deutsch: „Sehr blaue Augen“) las
       ich einige Jahre später nach „Beloved“. Die Geschichte von Pecola, einem
       Mädchen, das von ihrer Familie schwer misshandelt wird, machte mich
       sprachlos. Fast hatte ich vergessen, dass ich als Kleinkind mir auch nichts
       sehnlicher gewünscht hatte, als blaue Augen und blonde Haare geschenkt zu
       bekommen – die vermeintliche Lösung für all meine Probleme. Fast hätte ich
       geglaubt, dass ich mit meinem Schmerz allein war.
       
       Ich hatte in meiner Jugend Bücher leidenschaftlich gelesen, aber mich nie
       ernsthaft von Emily Brontë, Charles Dickens, Roald Dahl oder Judy Blume als
       Leserin angesprochen gefühlt – höchstens geduldet. Ich war auf jeden Fall
       in der Lage, Mitgefühl mit den Figuren ihrer Werke zu empfinden – auch ich
       verliebte mich in Heathcliff aus Brontës „Wuthering Heights“, und ich
       verabscheute Mr. Murdstone aus Dickens’ „David Copperfield“. Aber ich
       wusste auch, dass diese Romane eine Welt porträtierten, von der ich nie
       einfach nur Teil sein würde. Ich würde, wenn überhaupt, immer an den
       Rändern bleiben.
       
       ## Morrison schrieb für Schwarze
       
       Und selbst Bücher wie Ralph Ellisons „Invisible Man“ (deutsch: „Der
       unsichtbare Mann“) oder Malorie Blackmans „Noughts & Crosses“ schienen sich
       dezidiert an weiße Leser*innen zu richten. Toni Morrison hingegen schrieb
       ohne Fußnote, Glossar, Klammern oder sonstige Erklärungen. Sie schrieb für
       Menschen wie mich: diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen
       und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen; oder diejenigen, die
       immer wieder daran zerbrechen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht vor dem
       [2][Rassismus] schützen können, den sie selbst durchlebt haben.
       
       „Ich schreibe für Schwarze“, bestätigte sie 2015 in einem Interview, „ich
       muss mich nicht entschuldigen.“ Dass sie diese Haltung in einer so
       weiß-männlich-dominierten Industrie wie der Literaturlandschaft ihr Leben
       lang bewahren konnte, ist bemerkenswert. Gleich zu Anfang der Karriere
       Morrisons wurde sowohl von weißen Literaturkritikern als auch
       zeitgenössischen Autoren bemängelt, dass sie weiße Subjekte in ihrer
       Belletristik nicht fokussierte.
       
       „Können Sie sich vorstellen“, wurde sie 1998 in einem Fernsehinterview
       gefragt, „einen Roman zu schreiben, der sich nicht um race dreht?“ In
       diesem Kontext kann race als „Blackness“ übersetzt werden. Morrison
       kritisierte die Frage zu Recht. Eine ähnliche Frage wäre niemals an weiße
       Autor*innen von weißen Figuren gerichtet worden.
       
       In ihrem phänomenalen Werk „Playing in the Dark“ (deutsch: „Im Dunkeln
       spielen“) erklärt Morrison, wie problematisch und irreführend die Annahme
       ist, dass die Arbeit weißer Autor*innen race-free sei. Race-free in diesem
       Kontext kann als „nicht rassifiziert“ übersetzt werden. In einer
       Gesellschaft wie die der Vereinigten Staaten, die sich 2019 immer noch
       schwertut, Strukturen von Rassismus und white supremacy zu erkennen und zu
       thematisieren, geschweige denn ihnen entgegenzutreten, hatte Morrison sie
       bereits 1992 beschrieben. Ihre Analysen der Strukturen, die erlauben, dass
       die weiße Norm unmarkiert bleibt, vor allem die Folgen davon, sind im
       deutschsprachigen Raum genauso relevant.
       
       ## Rassismus als immerwährende Hindergrundmusik
       
       Rassismus war allerdings nicht Morrisons Thema. Obwohl Rassismus eine
       Lebensrealität ihrer Figuren ist, wehrte sie sich dagegen, „Antirassismus“
       zum ausschließlichen Fokus ihrer Arbeit zu machen. Sie erklärte ihn –
       Rassismus – zum Problem der Weißen. „Wenn du nur groß sein kannst, weil
       eine andere Person auf den Knien ist“, sagte sie, „dann hast du ein ernstes
       Problem. Und die Weißen haben ein sehr ernstes Problem.“
       
       Rassismus bildet für die Betroffenen eine immerwährende Hintergrundmusik,
       die kaum zu überhören ist. Weiße Menschen, die etwa behaupten, jene Zeiten
       wären vorbei, sind dabei, ihn aktiv zu übertönen. Dies führt im besten Fall
       zu einem Empathiegefälle. Im schlimmsten Fall zur Abwertung, zum Hass, zur
       Entmenschlichung.
       
       „Die Funktion, die sehr ernste Funktion des Rassismus ist die Ablenkung. Es
       hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Es lässt dich immer wieder
       erklären, warum du so bist. Jemand sagt, dass du keine Sprache habest, und
       du verbringst 20 Jahre damit zu beweisen, dass du sie hast. Jemand sagt,
       dass dein Kopf nicht richtig geformt sei, also findest du
       Wissenschaftler*innen, die an der Tatsache arbeiten, dass er es ist. Jemand
       sagt, dass du keine Kunst hast, also baggerst du das aus. Jemand sagt, dass
       du keine Königreiche hast, also schaufelst du das aus. Aber nichts davon
       ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.“
       
       ## Der Griff der Vergangenheit sitzt fest
       
       Morrison beschäftigte sich sowohl in ihrer Belletristik als auch ihren
       Essaybänden mit Geschichte und Trauma. Sie zeigte uns, wie fest der Griff
       der Vergangenheit an unserer Kehle sitzt. Von Morrison habe ich gelernt,
       mich nicht zu verstellen. Ich bewunderte sie für ihre Haare, weder
       geglättet noch gefärbt; ich bewunderte sie für ihre Direktheit (nach der
       Frage, ob sie nicht ihren Platz im Zentrum haben wollte, antwortete sie:
       „Nun, ich werde hier draußen am Rand bleiben und das Zentrum nach mir
       suchen lassen!“).
       
       Und jetzt weiß ich, dass das Mädchen, das damals von blonden Haaren
       geträumt hatte, eines Tages lange graue Afrohaare haben wird. Und ich, als
       das Mädchen, das sich damals still und schüchtern von den Mitschüler*innen
       mobben ließ, steht jetzt auch am Rand und kümmert sich nicht weiter um das
       Zentrum.
       
       In „Beloved“ schrieb sie: „Ich und du, wir haben mehr Gestern als alle
       anderen. Wir brauchen eine Art Morgen.“ Mit einer Leidenschaft und
       Virtuosität, die 1993 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, imaginierte
       sie für Menschen der afrikanischen Diaspora eine Art Morgen.
       
       Toni Morrison, wir vermissen Dich jetzt schon – Ashé!
       
       Du bleibst durch Deine Worte für immer bei uns – Ashé!
       
       Ruhe in Frieden, Queen.
       
       – Ashé!
       
       – Ashé!
       
       – Ashé!
       
       7 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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