URI: 
       # taz.de -- Nach der Abstimmung im Bundestag: Kein neues Organ
       
       > Der Bundestag hat entschieden: Organspende geht weiter nur mit Zustimmung
       > der Betroffenen. Warum Angela Ipach davon tief enttäuscht ist.
       
   IMG Bild: Angela Ipach hört der Debatte zur Organspende im Bundestag zu
       
       Berlin taz | Am Ende sinkt Angela Ipach in die graue Bank der
       Zuschauertribüne über dem Plenarsaal des Bundestags, Tränen laufen über ihr
       Gesicht. „Krass“, sagt sie. „Echt krass.“
       
       Es ist Donnerstag kurz nach Mittag und gerade hat Bundestagsvizepräsident
       Wolfgang Kubicki verkündet, dass bei der Organspende „alles so bleibt, wie
       es ist“: zu wenige Organspender*innen, also zu wenige Spenderorgane
       und zu viele Tote. So hat es der FDP-Politiker natürlich nicht formuliert,
       so aber sagt es Angela Ipach.
       
       Damit meint die Geschäftsführerin des Vereins „Junge Helden“ in München,
       der Lobbyarbeit für die Organspende macht, das [1][Abstimmungsergebnis der
       Abgeordneten zur Organspende]: Ja zur Entscheidungslösung, Nein zur
       doppelten Widerspruchslösung.
       
       Oder anders formuliert: Wer nach einem Hirntod ein Organ spenden will, muss
       ausdrücklich zustimmen. So steht es im gerade beschlossenen Gesetz, so
       hatte es eine Gruppe von Abgeordneten um die Grünen-Chefin Annalena
       Baerbock, Hilde Mattheis von der SPD und der Linken-Chefin Katja Kipping in
       ihrem Gesetzentwurf für eine sogenannte „erweiterte Zustimmungslösung“
       formuliert. Weil es um eine Gewissensfrage ging, war die Fraktionsdisziplin
       aufgehoben.
       
       Ipach, 35, ist eine schmale Frau mit aschblonden Haaren und einem zart
       geschminkten Gesicht. Sie ist von München extra nach Berlin gekommen, sie
       wollte persönlich dabei sein, wenn der Bundestag nach einer monatelangen
       Debatte über die Organspende entscheidet. Seit Jahren kämpft sie mit den
       „Jungen Helden“ dafür, dass das Weitergeben von Organen an Schwerkranke
       „normaler wird in unserem Land“.
       
       Das Motto des Vereins lautet „Ja, wir können Leben weitergeben“, dafür
       engagieren sich Promis wie der Schauspieler Jürgen Vogel und der
       TV-Moderator Joko Winterscheidt. Für die „Jungen Helden“ hat Ipach ihren
       Beruf als Betriebswirtin aufgegeben, dafür opfert sie einen Großteil ihrer
       Freizeit.
       
       Sie hatte gehofft, dass nicht der Baerbock-Antrag gewinnt, sondern die
       „doppelte Widerspruchslösung“, der Gesetzentwurf von Abgeordneten um
       Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), den SPD-Gesundheitsexperten Karl
       Lauterbach, den Sozialexperten Matthias Birkwald von der Linkspartei. Sie
       fordern, dass alle Menschen potenzielle Organspender*innen sind,
       solange sie nicht ausdrücklich ihren Widerspruch erklärt haben.
       
       ## 432:200
       
       Aber dann nennt Kubicki im Plenarsaal die Zahlen: „Für die
       Zustimmungslösung stimmten 432 Abgeordnete mit Ja, 200 stimmten mit Nein.“
       Ipach wird blass, als sie das hört: „Dass es ein knappes Ergebnis werden
       könnte, habe ich geahnt. Aber dass es so hart kommt, damit habe ich nicht
       gerechnet.“ Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
       
       Eigentlich hatte sie sich gefreut, mal wieder im Reichstagsgebäude zu sein.
       Zwei Stunden vorher hatte sie ihren Rollkoffer an der Garderobe abgegeben
       und gesagt: „Hach, es ist doch immer wieder ein ergreifendes Gefühl, hier
       zu sein.“ 2006, während der Fußballweltmeisterschaft, hat sie hier ein paar
       Wochen lang gearbeitet, ein Studi-Job. Sie hat Besucher*innen im
       Bundestag betreut. „Das war toll.“
       
       Aber jetzt, nachdem klar ist, dass in Deutschland bei der Organspende
       fortan die „informierte Entscheidungslösung“ gilt, wirkt sie, als habe man
       ihr einen Teil ihres Lebens geraubt. Sie sagt: „Ich verstehe das nicht:
       Organspenden wollen die Menschen nehmen, aber selber spenden wollen sie
       nicht.“
       
       Ipach weiß, was es bedeutet, auf ein Spenderorgan zu warten. Zu hoffen,
       dass bald eins kommt, am besten heute noch, vielleicht nächste Woche,
       spätestens nächsten Monat. Hauptsache bald, bevor es zu spät ist. Ihre
       Schwester Claudia war sieben Jahre alt, als Ärzte bei ihr die seltene
       Autoimmunkrankheit Sklerodermie diagnostizierten. „Als Kinder konnten wir
       fast alles machen“, sagt Ipach. Vorsichtig mussten trotzdem alle in der
       Familie sein.
       
       Claudias Zustand verschlechterte sich langsam, Stück für Stück. Mit 18
       hatte sie einen heftigen Schub, der ihre Atemfunktion so stark schwächte,
       dass sie dringend eine neue Lunge brauchte. Fortan bestimmte Angst den
       Alltag der Familie: Überlebt sie ohne neue Lunge das Wochenende? Den
       Frühling? Werden wir zusammen Weihnachten feiern?
       
       Vier Jahre später bekam die Schwester ein Spenderorgan. Alles schien gut,
       zumindest: besser. Bis sie weitere vier Jahre später, im Juni 2011, an
       plötzlichem Herzversagen starb. Claudia war 30 damals, Angela Ipach 27.
       
       Daran muss sie heute denken. „Die Abstimmung ist ein Zeichen dafür, dass
       den Abgeordneten die Kranken scheißegal sind“, sagt sie. Sie deutet nach
       rechts, auf die andere Zuschauertribüne. Dort sitzt Marius Schäfer, ein
       junger, blasser Mann mit einem Mundschutz. „Er wäre heute nicht hier, hätte
       er keine Organspende erhalten“, sagt Ipach.
       
       Vor sieben Jahren wurden dem heute 19-Jährigen Teile der Lungen seiner
       Eltern implantiert, das war die erste Lebendlungenspende, die es in
       Deutschland je gegeben hatte. „Was sagt man Eltern, deren schwerkranke
       Kinder kein neues Organ bekommen, weil es zu wenig Spender gibt?“, fragt
       Ipach. Sie erwartet keine Antwort.
       
       ## Menschen mit kaputten Nieren: über 90.000
       
       Mehr als 9.000 Menschen warten laut der Deutschen Stiftung
       Organtransplantation (DSO) derzeit auf ein Spenderorgan, eine Niere, eine
       Leber, ein Herz, einen Darm. Dazu kommen Patient*innen, die ebenfalls
       ein neues Organ brauchen, aber nicht auf der Warteliste stehen. Die DSO
       spricht allein von über 90.000 Frauen und Männern mit kaputten Nieren, die
       regelmäßig auf Dialysen angewiesen sind.
       
       Expert*innen geben an, dass etwa der Hälfte von ihnen geholfen werden
       kann, wenn sie schneller eine neue Niere transplantiert bekämen. Derzeit
       beträgt die Wartezeit für das Organ rund acht Jahre. „Das neue Gesetz wird
       daran nichts ändern“, sagt Ipach.
       
       Sie kennt die beiden Gesetzentwürfe aus dem Effeff, sie weiß, wer die
       Autor*innen sind, und kann die Zahlen zu Organspenden im Schlaf herbeten
       wie Christen das Vaterunser. Sie kennt auch alle Gegenargumente. Etwa
       jenes, dass Menschen zu „Ersatzteillagern“ gemacht würden. Ein
       „Totschlagargument“, findet Ipach. Der größte verbale GAU. „Damit wird
       Angst geschürt.“
       
       Sie kennt auch harmlosere Sätze wie den der SPD-Abgeordneten Hilde
       Mattheis, einer Unterstützerin der Entscheidungslösung. „Es geht darum,
       Menschen nicht ihre Selbstbestimmung zu nehmen“, sagte Mattheis am
       Donnerstag in der Bundestagsdebatte. Ipach schüttelt den Kopf. Sie sagt:
       „Auch bei der Widerspruchslösung behält jeder Mensch seine
       Selbstbestimmung.“
       
       ## Doppelte Widerspruchslösung
       
       Sie erklärt es nochmal: Es heiße schließlich nicht umsonst doppelte
       Widerspruchslösung. Die beinhaltet den Widerspruch jeder und jedes
       Einzelnen und den Widerspruch durch die Angehörigen. Anders formuliert:
       Auch wenn jemand einer Organentnahme im Falle eines Hirntods zugestimmt
       hat, können die Angehörigen immer noch Nein sagen. Niemand würde
       „überredet“, schon gar nicht zur Organspende gezwungen.
       
       Kann sie aber auch die verstehen, die ihre Organe grundsätzlich nicht
       spenden möchten? Menschen wie die FDP-Abgeordnete Christine
       Aschenberg-Dugnus, die sagt, dass „der Staat aus einem Akt der
       Freiwilligkeit keinen Pflichtakt machen“ dürfe. „Ja, natürlich“, sagt
       Ipach: „Jeder hat das Recht Nein zu sagen.“ Und schiebt hinterher: „Auch
       durch die Widerspruchslösung wäre niemand zu einer Organspende gezwungen
       worden.“
       
       Mehr Aufklärung wäre schon hilfreich, findet sie. Wenn sich die Menschen zu
       Lebzeiten zu einer Haltung durchringen müssten. Auch hier weiß sie, wovon
       sie spricht. Als ihre Schwester starb, wurde die Familie gefragt, ob der
       Leichnam obduziert werden könne, für die Wissenschaft. Die Familie war
       schockiert über diese Frage: Wie kann man uns in diesem Trauerzustand so
       etwas fragen?
       
       „Heute ärgere ich mich darüber, dass wir das abgelehnt haben“, sagt Ipach:
       „Wären wir besser informiert gewesen, hätten wir einer Obduktion
       zugestimmt. Möglicherweise hätten Experten dabei wichtige
       Forschungsergebnisse für Kranke gewinnen können.“
       
       Angela Ipach geht zur Garderobe. „Ich muss jetzt ganz schnell hier raus.“
       Heute hat sie nicht nur viel an ihre Schwester Claudia gedacht, sondern
       auch an Eltern, deren Kinder vielleicht sterben, weil sie kein Spenderorgan
       bekommen. „Meine Erfahrung ist, dass in einer Spende auch ein großer Trost
       liegen kann: Mein Kind ist tot, dafür wird ein anderes gerettet.“
       
       17 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Reform-der-Organspende/!5654173
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
       ## TAGS
       
   DIR Organspende
   DIR Bundestag
   DIR Gesundheitspolitik
   DIR Organspende
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Organspende
   DIR Organspende
   DIR Organspende
   DIR Organspende
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Arzt zu Rückgang bei Organspenden: „Nichtspenden ist der Normalfall“
       
       Deutschland profitiert von Ländern mit höherer Organspendebereitschaft.
       Axel Rahmel von der Stiftung Organstransplantation fordert eine neue
       Debatte.
       
   DIR Coronavirus in Deutschland: Leben retten ja, aber …
       
       Wie viel wert ist ein Menschenleben? Kommt drauf an. Die Abwägung ist nicht
       nur in der Gesundheitspolitik üblich.
       
   DIR Organspenderegelungen in Europa: Fünf Prozent weniger
       
       Die Widerspruchsregelung kommt nicht. Dabei gehen andere Länder ganz
       pragmatisch damit um. Die „Spendererkennung“ zählt.
       
   DIR Reform der Organspende: Eine Herzenssache
       
       Der Bundestag beschließt eine moderate Reform der Organspende und lehnt die
       Widerspruchslösung ab. Die Debatte ist nachdenklich und emotional.
       
   DIR Abstimmung zur Organspende: Bundestag für moderate Reform
       
       Deutsche Bürger*innen werden künftig von Ärzt*innen und Behörden für
       Organspenden sensibilisiert. Ein weitergehender Entwurf war zuvor
       gescheitert.
       
   DIR Alles zu Organspenden: 324 Herzen, 5 Dünndärme
       
       Der Bundestag debattiert über Organspende. Wie Sie Leber oder Lunge
       hergeben oder auch nicht und warum es Sie interessieren sollte.