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       # taz.de -- Nachruf auf Claes Oldenburg: Allein mit Tintenfass
       
       > Er senkte die Schwelle vom Atelier zur Straße, brachte Ironie ins Spiel
       > der Skulptur. Claes Oldenburg war der Grübler der amerikanischen Pop-Art.
       
   IMG Bild: Claes Oldenburg 2012 in Wien
       
       Wahrscheinlich war Claes Oldenburg der Erfinder der ironischen Plastik im
       Außenraum: ein für immer nach oben davonfliegender Schlips unter einem
       Bankenturm in Frankfurt, zum Beispiel.
       
       Geboren am 28. Januar 1929 in Stockholm, aufgewachsen als Sohn eines
       schwedischen Diplomaten in Chicago, war er 1956 nach New York City
       gekommen, zur rechten Zeit, um an großen Umwälzungen in der Kunstwelt
       teilzunehmen und sie zu beschleunigen. Zunächst aber wusste er nicht, wohin
       mit seinem Talent, das er über lange Zeit nur im Zeichnen vermutete: „Ich
       war sehr einsam in Gesellschaft dieser Gegenstände: Flaschenverschlüsse,
       Rasierklingen, mein Herd, Tintenfass.“
       
       Als die sechziger Jahre an die Tür klopften, bestritt er vehement,
       überhaupt ein Künstler zu sein. Oldenburg senkte die Schwelle vom Atelier
       zur Straße. Seine erste Galerieausstellung nannte er „The Store“, seine
       zweite „The Street“. Vermittelt durch Aktionen und Performances zog er
       Laien und Künstler in seine Arbeit hinein, die im Kern darin bestand, über
       den eigenen Herd und das Tintenfass hinauszuwachsen, eine umfassende Suche
       nach den Dingen des amerikanischen Alltags, essbar und nicht essbar, zum
       Schauen und zum Greifen, noch nagelneu und schon weggeworfen.
       
       ## Das „Mouse Museum“ auf der Documenta 1972
       
       Dabei machte er keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Gefundenem und
       dessen Nachbildung, wie die 385 Objekte des „Mouse Museum“ belegen, eine
       begehbare Hütte mit eleganten geschwungenen Plexiglasvitrinen, deren
       Grundriss einer berühmten amerikanischen Physiognomie entliehen war,
       Disneys Mickey Mouse. An diesem Museum des Gewöhnlichen, zuerst gezeigt auf
       der Documenta 5 in Kassel, später in erweiterter Fassung immer wieder auf
       Tournee, konnte man Pop als Methode studieren.
       
       Gewiss gehört Claes Oldenburg zur [1][Pop-Art], und doch bleibt es
       wunderlich, wie sehr sein Zugang zur Warenwelt nach Arbeit aussah. So
       richten etliche seiner Außenskulpturen die Aufmerksamkeit auf das Handwerk:
       die Spitzhacke (Kassel); eine Maurerkelle (Otterlo); eine Wäscheklammer und
       ein Knopf (beide in Philadelphia); der Gartenschlauch (Freiburg); der
       „Schraubenbogen“ (Rotterdam) und die „Säge, sägend“ in Tokio.
       
       Seine kühnste Erfindung war eine strukturale Dichotomie, nämlich die
       „weiche“ und die „harte“ Fassung eines Gegenstands, ein Versuch, Propellern
       und Toilettenschüsseln Leben einzuhauchen – also im Umkehrschluss die
       Verdinglichung des Humanen offenzulegen. Ein Geniestreich, kunsthistorisch
       verquer, bleibt das monströse [2][„Bedroom Ensemble“], Adornos Diktum, es
       gäbe „kein richtiges Leben im falschen“, schmerzhaft visualisierend. Dessen
       „Replica I“ (1969) ist seit der [3][Gründung von Hans Holleins MMK in
       Frankfurt] hinter Glas installiert, ein unbegehbarer Solitär.
       
       ## Pragma und Unmittelbarkeit
       
       Anfang der siebziger Jahre traf [4][Oldenburg die holländische Kuratorin
       Coosje van Bruggen.] Nun hatte die Einsamkeit mit Tintenfass definitiv ein
       Ende. Mit seiner Kunst im öffentlichen Raum war das Paar Oldenburg/van
       Bruggen gut zwei Jahrzehnte international gefragt, sehr geschickt darin,
       das amerikanische Prinzip – Pragma und Unmittelbarkeit – in Europa zu
       verankern, immer jedoch auf der Suche nach lokalen Motiven, die sie drehen
       und wenden konnten. Von den großen Skulpturen sind jene, die ohne Sockel
       auskommen, im Prinzip die stärkeren geblieben.
       
       Zentral in Claes Oldenburgs Werk bleiben die Zeichnungen, und zwar in
       sämtlichen denkbaren Techniken. Sein Strich war kräftig und suchend, ohne
       weiteres anknüpfend an Pontormo, van Gogh, Rodin. Im Zeichnen ließ er
       Metamorphosen geschehen und spielte mit ihnen als Strukturalist des
       Augenblicks: das Kleine und das Große, das Belebte und das Unbelebte, das
       Persönliche und das Öffentliche, Nutzen und Verbrauch, Steigendes und
       Fallendes. Bisweilen erlaubte er sich Ausflüge ins Erotomane. Fast alles,
       was Oldenburg anschaute, war beseelt von einer gewissen Sexyness, ein
       Geheimnis seines Stils.
       
       Der Baseballschlägerobelisk in der Innenstadt von Chicago – „Batcolumn“
       (1977) – wurde aus einem offenen Muster aus Stahl gesponnen, das
       Netzstrümpfen gleicht: eine höchst eigenartige Überblendung eines
       männlichen Symbols mit einem weiblichen Signal.
       
       Nach einer Begegnung mit dem „Split Button“, einem gebrochenen Knopf von
       ergreifender Dinglichkeit, schrieb Jorge Luis Borges: „Ich bin mir ziemlich
       sicher, dass Mr. So-und-so, ‚an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern
       kann‘, mit einem Blick etwas erfasst, das niemand zuvor gesehen hat seit
       dem Anbeginn der Geschichte.“ Der Name, an den Borges sich nicht erinnern
       konnte, war Claes Oldenburg. Der Grübelkünstler des amerikanischen Pop ist
       am 18. Juli in seinem Atelierhaus in SoHo, New York, mit 93 Jahren
       gestorben.
       
       21 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kuenstler-Peter-Blake-ueber-Pop-Art/!5568903
   DIR [2] https://collection.mmk.art/en/nc/werkuebersicht/?werk=1995%2F102&kuenstler=000021
   DIR [3] https://www.mmk.art/de/about/history/
   DIR [4] /Archiv-Suche/!1467489&s=Coosje+van+Bruggen&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulf Erdmann Ziegler
       
       ## TAGS
       
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