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       # taz.de -- Nachruf auf Gáspár Miklós Tamás: Der Philosoph als ewiger Dissident
       
       > Der ungarische Denker Gáspár Miklós Tamás ist gestorben. Er war als
       > kritischer Geist erst in Rumänien, später in Ungarn vielen Schikanen
       > ausgesetzt.
       
   IMG Bild: Der ungarische Philosoph Gaspar Miklos Tamas bei einer Protestaktion in Budapest 2010
       
       Von seiner Herkunft her wäre Gáspár Miklós Tamás in einer bevorzugten
       Zielgruppe von Ungarns rechtsnationalistischem Premier Viktor Orbán
       gewesen: als Angehöriger der magyarischen Minderheit in Rumänien. Der
       Zufall wollte es, dass beide als Liberale bei der politischen Wende vor
       drei Jahrzehnten eine führende Rolle spielten: Orbán als junger Rebell,
       Tamás als Intellektueller und Samisdat-Aktivist.
       
       Aber anders als der Politiker, der seit mehr als zwölf Jahren den Staat von
       innen her nach seinem Denkmuster umkrempelte, blieb der Denker immer
       Dissident. Orbán schickte ihn deswegen schon 2011 in Frühpension.
       
       1948 im mehrsprachigen rumänischen Cluj (Kolozsvár/Klausenburg) in eine
       jüdische Familie geboren, wurde Tamás schon früh politisiert. Seine
       marxistischen Eltern – ein Journalist und eine Krankenschwester – pflegten
       auf hohem Niveau zu diskutieren, wie er sich in einem [1][Interview
       erinnerte]. Dass die Praxis der nationalistisch-kommunistischen Diktatur
       wenig mit dem Ideal der proletarischen Befreiung zu tun hatte, wurde dem
       aufgeweckten Jungen bald klar.
       
       ## Verfolgt von der Securitate
       
       Der wissbegierige Zweifler studierte zuerst Philosophie in Cluj und
       anschließend klassische Philologie in Bukarest. Er bekannte sich zur Schule
       des Philosophen György Bretter und schrieb für die Wochenzeitung Utunk
       (Unser Weg).
       
       Als er sich weigerte, dort eine Lobeshymne auf den kommunistischen Staats-
       und Parteichef Nicolae Ceauşescu zu veröffentlichen, verfolgte ihn die
       berüchtigte Geheimpolizei Securitate monatelang mit Schikanen und belegte
       ihn mit einem Publikationsverbot. Dem entzog sich der junge Philosoph
       schließlich durch einen Umzug nach Ungarn.
       
       Dort sollte es ihm allerdings nicht viel besser ergehen. Als Mitbegründer
       und ständiger Autor der Untergrundzeitung Beszélő (Sprechzimmer) wurde er
       mit einem Berufsverbot belegt, als sein Pseudonym aufflog. Vorher konnte er
       sich allerdings mit seinen Vorlesungen in Philosophiegeschichte an der
       Eötvös-Loránd-Universität in Budapest einen Kreis von Studenten aufbauen,
       aus dem die unabhängige Studentenbewegung „Dialog“ hervorgehen sollte.
       
       Seine Vorlesungen zur Siebenbürgen-Problematik, in denen er sowohl dem
       ungarischen Nationalismus als auch linken romantischen Illusionen eine
       Abfuhr erteilte, erregten im kommunistischen Ungarn Aufsehen und Unmut beim
       Regime. Seine gegen den Nationalismus gerichteten Essays gingen den
       Mächtigen zu weit.
       
       ## Plumper Antikommunismus stieß ihn ab
       
       Tamás flog von der Universität und wurde als Angestellter in eine
       Vorstadtbibliothek verräumt, bis man ihn nach wenigen Monaten auch dort
       nicht mehr duldete. In der Dissidentenszene blieb er als Liberaler aktiv
       und hatte wesentlichen Anteil an der Wende, deren ungarische
       Erscheinungsform ihn bald zum Kapitalismuskritiker werden ließ. Der plumpe
       Antikommunismus der neuen Politikerklasse stieß ihn ab. Tamás blieb ein
       Dissident, zuletzt mehr Anarchosyndikalist als Marxist.
       
       In seiner mit Büchern in diversen Sprachen vollgestopften Wohnung schrieb
       er bis zuletzt giftige Essays gegen das Orbán-Regime und äußerte sich auch
       [2][gegenüber der taz gnadenlos über seine Landsleute,] die auf den
       billigen Nationalismus Orbáns hereinfielen. Gáspár Miklós Tamás starb am
       Sonntag nach längerer Krankheit.
       
       16 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://mediationsjournal.org/articles/the-left-and-marxism-in-eastern-europe
   DIR [2] /Parlamentswahl-in-Ungarn/!5044759
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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