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       # taz.de -- Nachruf auf Musiker Erkin Koray: Gralshüter des Anadolu Rock
       
       > Erkin Koray war einer der Ersten, die in den 1960er Jahren Rockmusik in
       > der Türkei adaptierten und die Szene prägten. Nun ist er in Toronto
       > gestorben.
       
   IMG Bild: Poesie bekam bei ihm Flügel: Rockmusiker Erkin Koray
       
       „İnan ki senden başka hiç kimse yok içimde“, singt Erkin Koray in dem Song
       „Seni Her Gördüğümde“. Wie so oft bei ihm geht es darin um Liebe, die nicht
       sein soll. „Glaub mir, außer dir ist niemand in mir.“ Das sind Sätze, die
       man genauso gut in türkischer Volksmusik finden könnte. Hört man das Lied,
       so erinnert seine Musik aber eher an Werke von Rockbands wie Cream und The
       Doors. Erkin Koray war einer der Ersten, die türkischen Pathos mit modernem
       Rocksound verbanden, eine Musikgattung, die als Anadolu Rock bekannt wurde.
       
       Als in den späten 1960er Jahren westliche Popmusik – vor allem aus den USA
       und Großbritannien – sich in aller Welt ausbreitete, erfasste diese auch
       die Jugend in der noch traditionell geprägten Türkei. Im kosmopolitisch
       ausgerichteten Istanbul jener Jahre fanden sich die ersten türkischen
       Rockbands und Solisten: Moğollar, [1][Cem Karaca] und auch Erkin Koray, der
       1941 in Kadıköy auf der asiatischen Seite von Istanbul zur Welt kam.
       
       ## Mikrotonal und melodiebetont
       
       Korays Alleinstellungsmerkmal war, dass er die traditionelle Saz spielte,
       aber auch zur E-Gitarre griff und somit die Musik aus zwei Kontinenten
       mischte. Etwas begriffsfaul werden seine Klänge häufig als Psychedelic Rock
       bezeichnet, dabei war die mikrotonale und melodiebetonte Musik von Erkin
       Koray viel stärker Teil einer eigenständigen anatolischen
       Popmusiktradition.
       
       „Beni öldürmeye karar vermişler Cemalım / haldın Cemalım/ al kanlar içinde
       kaldın Cemalım.“ (Sie werden mich töten, mein Cemal. Du warst mal stark,
       mein Cemal. Jetzt umhüllt dich Blut, mein Cemal). Die Poesie bekommt Flügel
       durch ihre virtuose Einbettung von Rhythmusgitarren, Leadgitarren und einem
       stoischen Drumsound. So erkennt man in den ersten Takten von „Cemalım“
       deutlich die Einflüsse von US-Rock in Korays Werken.
       
       Nicht nur, dass sich das Lied so anhört, als könnte es aus der Feder von
       Nancy Sinatra stammen, erzählt Koray damit auch eine anatolische
       Western-Geschichte, verortet im provinziellen Ürgüp. Das Zusammendenken
       dieser zwei Welten ist vermutlich der Grund, weshalb Korays Sound bis in
       die Gegenwart hallt.
       
       ## 1967 erschien sein Debütalbum „45“
       
       Seien es elektronische Edits, Coverversionen der holländischen Indieband
       Altin Gün oder sein Einfluss auf experimentelle australische Rockbands:
       Elemente von Anadolu Rock finden sich [2][immer häufiger in westlicher
       experimenteller und neopsychedelischer Musik wieder]. Auch auf dem
       Dancefloor sind langatmige, in Trance versetzende Gesänge und mikrotonale
       Melodien inzwischen reichlich vorhanden.
       
       „Böyle gelmiş, böyle gidecek, korkarım vallah.“ (So ist es gekommen, und
       ich befürchte, so wird es gehen.) Sorgen und die Angst, dass diese niemals
       verschwinden, behandelt das Lied „Fesuphanallah“. Traditionelle arabeske
       Musik findet sich in der Diskografie Korays auch. Nach seinem Abschluss auf
       der Deutschen Schule in Istanbul tauchte Koray immer wieder mit diversen
       Projekten in der türkischen Underground-Szene auf. 1967 erschien sein
       Debütalbum „45“ und schon ein Jahr später landete er mit den Songs „Meçhul“
       und „Çiçek Dağı“ erste Hits.
       
       ## Koray geht nicht nach Europa
       
       Koray reiste damals viel zwischen Europa und der Türkei, mehrmals kam er
       nach Deutschland für Aufnahmen. Doch selbst als ihm John Lennon anbot, nach
       England zu kommen, lehnte er das ab. „Koray geht nicht nach Europa!
       Rockmusik kommt in die Türkei.“
       
       „Başladığımda kimse yoktu, Canım. Yanlız başladık.“ – „Als ich anfing, gab
       es noch niemanden, mein Lieber. Wir haben allein begonnen“, erzählt Koray
       in Fatih Akins Dokumentarfilm „Crossing the Bridge. The Sound of Istanbul“.
       Im Film berichten junge Musiker, dass Koray für sie der größte Einfluss
       war. Er hat für nachkommende Generationen die Tür geöffnet und ist
       Wegbereiter des Anadolu Rock. Am Montag starb Erkin Koray in seiner
       Wahlheimat Toronto im Alter von 82 Jahren.
       
       13 Aug 2023
       
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   DIR Ogulcan Korkmaz
       
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