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       # taz.de -- Narendra Modis Indien: Der nächste Putin?
       
       > Deutschland umgarnt Indien aufgrund vieler eigener Interessen. Doch der
       > Subkontinent hat unter Narendra Modi eine gefährliche Richtung
       > eingeschlagen.
       
   IMG Bild: Die Bundesregierung scheint gegenüber Indien prioritär vier Ziele zu verfolgen
       
       Der von Indien, Deutschland und anderen westlichen Ländern als erfolgreich
       deklarierte G20-Gipfel Mitte September in Delhi war ein großer
       internationaler Auftritt für Narendra Modi. Zuvor war der indische
       Premierminister mit großen Ehren in den USA empfangen worden. Solche
       Auftritte sind ein wichtiger Faktor im Wahlkampf für die im April oder Mai
       2024 stattfinden indischen Parlamentswahlen, bei der sich die Partei Modis,
       die BJP, und eine breite Parteienallianz der Opposition unter Führung der
       Kongresspartei gegenüberstehen. Der Ausgang ist offen.
       
       Westliche Länder haben Indien vergeblich aufgefordert, Russlands
       Invasionskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Sie unterstützen Indien
       aber trotzdem nach wie vor dabei, sich als neue global agierende Macht und
       als Sprecher des Globalen Südens – in Konkurrenz zu China – zu
       präsentieren. Euphorisch wird der sich vermeintlich schnell entwickelnde
       große indische Markt als Alternative für die deutsche Exportwirtschaft beim
       Abbau der Abhängigkeit vom chinesischen Markt bezeichnet. Gleichzeitig
       kommt die Regierung Indiens ihrem Ziel, durch Repression die indische
       Zivilgesellschaft [1][im shrinking space ] zu ersticken, immer näher.
       
       Kurz nach dem G20-Gipfel wurde [2][ein Klageverfahren gegen die
       Booker-Preis-Gewinnerin Arundhati Roy wegen Störung der öffentlichen
       Ordnung und Sicherheit] eingeleitet. Der Grund: eine von ihr bereits im
       Jahr 2010 gehaltene Rede über Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir. Dass
       Kanadas [3][Premierminister Justin Trudeau eine Woche nach dem G20-Gipfel
       den Vorwurf erhob, die indische Regierung sei für die Ermordung des
       Sikh-Unabhängigkeitsaktivisten Hardeep Singh Nijjar im Juni 2023 in Kanada
       verantwortlich], wird auf den Wahlkampf aber kaum einen Einfluss haben.
       
       Die von Modi, seiner Regierungspartei BJP („Indische Volkspartei“) und von
       der mit ihnen eng verflochtenen, landesweit agierenden und 1925 gegründeten
       militanten, hindunationalistischen und antimuslimischen Organisation RSS
       (Nationale Freiwilligenorganisation) betriebene Umsetzung der Ideologie der
       „Hindutva“, die auch das Konzept einer Hindu-Nation beinhaltet, werfen
       einen großen Schatten auf die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen
       westlichen Regierungen und Indien. In Abwandlung eines in Indien benutzen
       Vergleichs würde eine düstere Vorhersage lauten: „For the West Modi will
       become the next Putin.“
       
       Das politische System Indiens wird zutreffend als „demokratischer
       Autoritarismus“ oder als „Wahl-Autokratie“ bezeichnet, in der kritische
       Stimmen systematisch kriminalisiert werden und eine enge Allianz zwischen
       BJP und einer kartellartig organisierten Gruppe indischer Konzerne unter
       Führung der Adani-Gruppe besteht.
       
       In den Länderrankings der Demokratie-Indizes Democracy Index, Freedom House
       Index, Democracy Report und in der Rangliste der [4][Pressefreiheit] fällt
       Indien seit über zehn Jahren auf immer schlechtere Plätze. Um
       zivilgesellschaftliche Organisationen und kritische Medien unter Druck zu
       setzen, benutzen Regierungsstellen ein Antiterrorgesetz.
       
       ## Außergerichtliche Tötungen durch die Regierung
       
       Stan Swamy, ein bekannter Jesuiten-Priester, der sich für die Rechte der
       indigenen Bevölkerungsgruppe der Adivasi und der Dalits, der untersten
       Kaste der „Unberühbaren“, einsetzte, wurde wegen eines fabrizierten
       Verstoßes gegen dieses Gesetz im Oktober 2020 verhaftet und starb im Juli
       2021 über 80-jährig im Gefängnis – ihm war dort medizinische Versorgung
       verweigert worden. Der Foreign Contribution Regulation Act, der die
       finanzielle ausländische Unterstützung indischer NGOs reguliert, ist ein
       anderes probates Instrument, kritischen NGOs die Lizenz für die
       Entgegennahme von Mitteln internationaler Partner zu entziehen und diese
       dadurch zu schwächen.
       
       Im jüngsten, [5][im März 2023 veröffentlichten jährlichen Länderbericht
       über die Menschenrechte] des US-Außenministeriums heißt es über Indien: „Zu
       den wichtigsten Menschenrechtsproblemen (Indiens) gehörten glaubwürdige
       Berichte über: rechtswidrige und willkürliche Tötungen, einschließlich
       außergerichtlicher Tötungen durch die Regierung oder ihre Vertreter; Folter
       oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung
       durch Polizei- und Gefängnisbeamte …“
       
       Doch die Menschenrechtslage ist nicht das einzige Problem. Hinter den
       Hightech-Raumfahrt-Erfolgen Indiens verbirgt sich zudem eine wachsende
       ökonomische Ungleichheit. Das Land steht im Länderranking des Globalen
       Hunger-Indexes auf dem 111. Platz von insgesamt 125 Ländern, noch hinter
       Simbabwe, Nigeria, Sambia und Pakistan; Bangladesch schafft es auf den
       deutlich besseren 81. Platz. Im aktuellen UN-Bericht zur globalen
       Nahrungsmittelversorgung wird angegeben, dass in Indien im Zeitraum 2020
       bis 2022 circa 234 Millionen, also rund 17 Prozent der Bevölkerung,
       unterernährt waren.
       
       ## Deutschland hat vier Ziele in Indien
       
       Gleichzeitig gibt es aber auch Teilerfolge, etwa der indischen Frauen- und
       LGBTQ-Bewegung. Das indische Parlament hat im September beschlossen, dass
       mindestens ein Drittel aller Abgeordnetensitze von Frauen besetzt werden
       müssen, und das höchste indische Gericht hat im Oktober zwar die
       Legalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen abgelehnt, gleichzeitig
       aber die Regierung aufgefordert, sicherzustellen, dass Partner:innen
       solcher Beziehungen nicht diskriminiert werden.
       
       Die Bundesregierung scheint gegenüber Indien prioritär vier Ziele zu
       verfolgen: Indien erstens als engen Partner gegen Russland und China zu
       gewinnen, zweitens als Markt für die deutsche Wirtschaft stärker zu
       erschließen und drittens als engen Partner in der Klimawandelpolitik und
       als größeren Abnehmer erneuerbarer Energien zu gewinnen. Das vierte Ziel
       der „werteorientierten“ beziehungsweise „feministischen“ Außenpolitik der
       Bundesregierung gegenüber Indien ist es, gravierende
       Menschenrechtsverletzungen und den Abbau demokratischer Institutionen in
       Indien nur sehr zurückhaltend öffentlich zu thematisieren, um – so das
       Kalkül – die Erreichung der ersten drei Ziele nicht zu gefährden. Im Mai
       2022 erklärten Kanzler Scholz und Premierminister Modi in ihrer gemeinsamen
       Erklärung in Berlin, die „Partnerschaft mit gemeinsamen Werten“ und die
       „strategische Partnerschaft“ auszubauen, die auch die Förderung des Handels
       mit „Verteidigungsgütern“ umfasst.
       
       Verteidigungsminister Pistorius hatte Indien Anfang Juni besucht und
       zusammen mit seinem indischen Kollegen eine gemeinsame Absichtserklärung
       für den von deutschen und indischen Firmen gemeinsam durchgeführten Bau von
       bis zu sechs U-Booten unterzeichnet. Die Bundesregierung verfolgt eine Art
       Umarmungsstrategie gegenüber Indien. So besuchte Ende Januar 2023 der
       deutsche Botschafter den Chief Minister von Uttar Pradesh, Yogi Adityanath,
       der als einer der radikalsten antimuslimischen BJP-Politiker Indiens gilt
       und regelmäßig gegen Muslime hetzt.
       
       ## Modi, Trump und Putin
       
       Diese deutsche Umarmungsstrategie basiert auf falschen Annahmen über die
       Ziele und Interessen der BJP-Regierung. Deren wichtigste und
       einflussreichste Politiker und Unterstützer beherrschen sowohl die
       gepflegte Rhetorik der „werte- und regelbasierten internationalen Ordnung“
       als auch die Rhetorik der hindunationalistischen, antimuslimischen
       Hassreden. Es existiert keine verschriftlichte „Indien-Strategie“ der
       Bundesregierung und auch keine breitere politische oder
       politikwissenschaftliche Debatte über die Erfolgsaussichten und
       Alternativen zu solch einer Umarmungsstrategie, die über den kleinen Kreis
       der sehr wenigen Fachpolitiker:innen und Indien-Expert:innen
       hinausgeht. Solch eine Debatte wäre aber dringend notwendig.
       
       Die BJP und die RSS betreiben systematisch die Schwächung und den Abbau
       demokratischer Institutionen und kommen ihrem Ziel immer näher: die
       Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen. Die Bundesregierung hält aber
       trotzdem an der „strategischen Partnerschaft mit gemeinsamen Werten“ fest
       und hofft, dass bei der nächsten Parlamentswahl 2024 die BJP-Regierung
       abgewählt wird. Vielleicht werden sich aber auch nach der nächsten US-Wahl
       die beiden Wiedergewählten Narendra Modi und Donald Trump mit Wladimir
       Putin treffen und sich gegenseitig versichern, dass das Zeitalter der
       demokratisch kontrollierten Vergabe von Regierungsmacht auf Zeit beendet
       ist.
       
       Es ist Zeit für eine weitere Zeitenwende, in der eine stärkere
       transnationale Zivilgesellschaft zusammen mit internationalen
       Organisationen und einflussreichen Einzelpersonen innerhalb und außerhalb
       des UN-Systems versucht, das fragile und auf große Konflikte zusteuernde
       globale Staatensystem einzuhegen und zu zivilisieren. Eine stärkere
       Zivilgesellschaft ist ein unverzichtbares Korrektiv und eine wichtige
       treibende Kraft der Verteidigung, des Ausbaus und der Implementierung
       internationaler Menschenrechtsgüter. Deutsche, europäische und indische
       NGOs, Hilfswerke, Akademien und politischen Stiftungen sollten ihre
       existierenden, aber stark zersplitterten Kooperationsformen ausbauen und
       besser vernetzen und dabei auch Partner:innen aus Nordamerika
       einbeziehen. Es bräuchte gemeinsame Kampagnen und Plattformen für die
       Begegnungen der wachsenden indischen Diaspora in Deutschland und Europa.
       
       Allerdings mahlen auch die transnationalen zivilgesellschaftlichen Mühlen
       nur langsam. Aber es besteht Handlungsbedarf. Wie gesagt, wenn Modi auch
       die nächste Parlamentswahl gewinnen sollte, könnte er der nächste Putin
       sein.
       
       20 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.boell.de/de/dossier-shrinking-spaces
   DIR [2] https://www.nytimes.com/2023/10/11/world/asia/arundhati-roy-kashmir.html
   DIR [3] /Spannungen-zwischen-Kanada-und-Indien/!5961396
   DIR [4] /Presse-in-Indien/!5960560
   DIR [5] https://www.state.gov/reports/2022-country-reports-on-human-rights-practices/india
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Max Drehhuber
       
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