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       # taz.de -- Natascha Gangl gewinnt in Klagenfurt: Kein Wiedersehen am Wörthersee?
       
       > Natascha Gangl gewinnt den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis in
       > Klagenfurt. Dort ging es viel um die unsichere Zukunft des
       > Literaturwettbewerbs.
       
   IMG Bild: Die österreichische Autorin Natascha Gangl (Mitte) setzte sich bei dem Literatur-Wettlesen gegen 13 Mitbewerber*innen durch
       
       Gänzlich ausgeschlossen ist es nicht, dass die diesjährigen Tage der
       deutschsprachigen Literatur die letzten sein werden, in diesem 49. Jahr, so
       kurz vor dem großen Jubiläum, dem 100. Geburtstag der Namensgeberin
       Ingeborg Bachmann. Der Literaturkurs für den Nachwuchs fiel dem Spardiktat
       bereits zum Opfer. Klagenfurt ist pleite, aktuellen Berichten zufolge steht
       die Stadt am Wörthersee knapp vor der Zahlungsunfähigkeit.
       
       Juryvorsitzender Klaus Kastberger schickte in seiner Abschlussrede am
       Sonntag auch deswegen Grüße an die Stadtverwaltung, wünschte Klagenfurt ein
       „wirtschaftlich erfolgreiches Jahr“. Schon bei der Eröffnung mahnte
       Kastberger die Sparmaßnahmen im Kultursektor an, wo doch am wenigsten zu
       holen sei.
       
       An die in Österreich immer mächtiger werdenden Rechten bis Rechtsradikalen
       kann Kastbergers Appell jedoch unmöglich adressiert gewesen sein. Lobte
       doch der Bürgermeister Klagenfurts, Christian Scheider (parteilos, zuvor
       FPÖ und Team Kärnten), eingangs des Wettbewerbs noch den Bachmannpreis für
       seine „kulturelle Vielfalt“, als „Spiegel der Gesellschaft“ in einer Rede,
       die seine Floskelhaftigkeit ganz sicher eher künstlicher statt menschlicher
       Intelligenz verdankt.
       
       ## Menschen und ihre Worte sind eingeschrieben in den Boden
       
       Auf welches Erbe rechtsextremes Gedankengut in Österreich trifft,
       verdeutlichte Natascha Gangl. Ihr Text „Da Sta“, der mit dem
       Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde,
       [1][beschäftigt sich mit der Historie der Steiermark,] wo sich die Grenzen
       dreier Länder treffen, und zeichnet auf sprachlich virtuose Weise die
       Linien faschistischer Umtriebe zur Zeit des Nationalsozialismus nach. Die
       Menschen und ihre Worte haben sich eingeschrieben in den Boden, sie steigen
       förmlich auf, sobald jemand darauf tritt, stehen nun mit im Raum, sofern
       man sie eben sehen will.
       
       Gangl verbindet aufs Kunstfertigste Mundart und Massenmord, Wasser und
       Wehrmacht miteinander: „WE–IN–IA-IUDN, GO?“, fragt einer.
       „WEIN-INA-IUSDN-O?“, ein anderer. Wegen der Juden da? Wen interviewst’ denn
       da? Die Jury war hier voll des Lobes für die Autorin und auch das Publikum
       vermittelte durch anhaltenden Applaus den Eindruck, hier vielleicht schon
       einen möglichen Gewinnertext gehört zu haben.
       
       Beinahe ein wenig erwartbar schien der Deutschlandfunkpreis für Boris
       Schumatsky, der zwar einen handwerklich tadellosen Text über ein Leben
       zwischen Moskau und Berlin geliefert hat, bei dem sich doch ein wenig der
       Eindruck aufdrängt, dass die Jury aufgrund jüngster politischer
       Entwicklungen kaum an Schumatsky vorbeikam.
       
       ## Kein Preis für Zurückgenommenes
       
       Schade ist, dass [2][Kay Matters] Text die Jury nicht für sich einnehmen
       konnte, dessen Lesung mit Zurückgenommenheit und Literarizität zu
       überzeugen wusste und einen angenehmen Gegenpol zu den lauteren
       Kandidat:innen bot. Bemerkenswert ist zudem, dass in der Jurydiskussion
       die Transsexualität des Protagonisten zwar Thema war, aber kaum je explizit
       benannt wurde. An einer Stelle, an der eine großflächige Narbe am Unterarm
       einer der Figuren Erwähnung findet, waren sich die Juror:innen zunächst
       sicher, es handele sich um einen Hinweis auf einen Suizidversuch.
       
       Erst Thomas Strässle merkte an, dass Größe und Position der Narbe eher auf
       eine phalloplastische Operation zur Geschlechtsumwandlung schließen lasse,
       doch näher eingehen mochte darauf auch Strässle nicht und ließ es dabei
       bewenden. Es schien fast so, als zierte sich die Jury ein wenig, sich dem
       Thema vollends zu widmen. Leider, so scheint es, hat man darüber auch die
       literarische Qualität von Matters Text übersehen.
       
       In Zeiten, in denen sich trans Menschen auch in vielen westlichen
       Industrienationen ihrer Haut nicht mehr sicher sein können, sind Texte wie
       der Matters Ausdruck dessen, was Literatur in der Gegenwart unverzichtbar
       macht: über die Schilderung eines subjektiven Erlebens doch einer
       universellen Wahrheit auf die Spur zu kommen, die Differenzen und
       Aufsplitterungen überbrückt und stattdessen Gemeinsamkeiten findet und zum
       literarischen Gegenstand macht.
       
       ## Zeichen der Hilflosigkeit
       
       Man ging größtenteils freundlich, respektvoll miteinander um in der
       Juryrunde, die sich aus denselben Mitgliedern zusammensetzt wie im Vorjahr.
       Das war auch schon mal anders, insbesondere Philipp Tingler mimte mitunter
       den Maxim Biller, fertigte arrogant Jurymitglieder und Autor:innen ab.
       Bloß gegenüber Mithu Sanyal ließ Tingler stellenweise den Großkritiker
       heraushängen, drängte sie mehrfach, sich zu erklären.
       
       Dabei würden bei einer scharfen verbalen Stilkritik durchaus auch andere
       Jurymitglieder Punktabzüge verzeichnen. Handwerkliche Kategorien kamen fast
       ebenso häufig zur Anwendung wie ästhetische. Ein Zeichen der Hilflosigkeit
       vielleicht, angesichts eines doch eher schwachen Jahrgangs, wenn man dafür
       an dieser Stelle einmal auf die Sprache der Winzer zurückgreifen möchte.
       „Sauber gearbeitet“ ist hier so einiges, als lobte man eine
       Schreinerarbeit, ein kunstfertig geschnitztes Stuhlbein etwa, wobei der
       Stuhl als solcher den Ansprüchen des eigenen Wohnzimmers nicht genügen
       würde. Wo bleibt der Mut zum Gesamturteil?
       
       Auch wenn die Juror:innen die vorgetragenen Texte vorab bereits kennen,
       ihre Reaktionen also mitnichten spontan ausfallen, ist die offene Bühne,
       die öffentlich geübte Kritik beim Bachmannpreis essenziell. Mehrfach wurde
       in Klagenfurt auch von Juror:innenseite betont, dass die Diskussion
       über die Texte trotz aller Standpunktfestigkeit noch neue Perspektiven
       offenbart habe.
       
       Undurchsichtig sind die Absprachen, die Prozesse zur Entscheidungsfindungen
       sonst meist bei Preisverleihungen. Zuletzt wurde das etwa deutlich in der
       Debatte um den Internationalen Literaturpreis, der Vorwürfen durch
       ehemalige Jurymitglieder zufolge 2023 eher nach identitätspolitischen statt
       literarischen Kriterien vergeben wurde.
       
       ## Debatten auf Bluesky
       
       Wie Thomas Strässle am Sonntag erklärte, verliere die Jury außerhalb der
       Diskussionen kein Wort mehr über Texte und Autor:innen. Anders sieht
       das auf dem linksliberalen Twitter-Clon „Bluesky“ aus, wo die Debatten
       auch nach Leseschluss noch weitergehen. Hierhin emigrierte nämlich die
       eingeschworene #tddl-Gemeinschaft vom in Ungnade gefallenen Twitter/X und
       führt die Diskussion mal hitzig und sachbezogen, mal in Memes fort.
       
       Und das wiederum beeinflusste auch die Gespräche der Jury, denn allein
       Kastberger verfügt nach eigener Aussage über zehn Social-Media-Accounts
       und war nicht nur deswegen Gegenstand eingehender inhaltlicher, aber auch
       modischer Diskussionen.
       
       Literatur und Literaturkritik beinahe zum Anfassen also. Und es
       konzentriert sich einiges in dieser österreichischen, mediterranen Stadt am
       äußersten Rand des deutschsprachigen Raums. Es sind die wenigen selben
       Treffpunkte, die alle frequentieren, Autor:innen trifft man
       selbstverständlich in Badehose am Wörthersee.
       
       ## Vorstellungskraft nicht als Waffe nutzen
       
       Analog auch zu anderen literarischen Bewerben ließ sich in diesem Jahr eine
       Hinwendung zu Themen der Innerlichkeit verzeichnen. Viele
       Ich-Erzähler:innen manövrierten sich in Klagenfurt durch eine immer
       schwerer zu begreifende Welt, in der der Nachrichtentakt die Fähigkeiten
       des rezipierenden Individuums bei Weitem übersteigt. Ein Beispiel dafür ist
       etwa der Text von Almut Tina Schmidt, die für ihren Text über das Leben in
       einer Mietskaserne mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde.
       
       Ebenfalls für preiswürdig befand die Jury Nora Osagiobares Text über eine
       schwierige Vater-Tochter-Beziehung (Kelag-Preis). Das erstmals vergebene
       Stipendium zur Festivalschreiberin des Klassikfestivals Carinthischer
       Sommer erhielt Tara Meister, [3][die in lyrischer Sprache eine Beziehung
       zwischen zwei jungen Menschen entblättert.]
       
       Anders als viele der Texte beschäftigte sich [4][Nava Ebrahimi in ihrer
       Klagenfurter Rede zur Literatur] mit dem Effekt von Krisen auf jeden
       Einzelnen. Doch der allgemeinen Hoffnungslosigkeit, die sich unter vielen
       Intellektuellen längst breitgemacht hat, vermochte auch Ebrahimi nur schöne
       und umso schwerer zu ertragende Sätze beizufügen.
       
       Es gibt hier noch ein Gegengewicht zur allgemeinen Verrohung, es gibt noch
       Töne abseits von blindem Militarismus und antiintellektuellem Tribalismus,
       oder, wie von Ebrahimi bei Ursula K. Le Guin entlehnt, Menschen, für die
       „die Vorstellungskraft keine Waffe ist, aber von der abhängt, ob eine Waffe
       eingesetzt oder niedergelegt wird“. Es ist eine Rede, die den
       Bachmannpreis, hoffentlich auch nach seiner vermeintlichen Abschaffung noch
       überdauern wird.
       
       29 Jun 2025
       
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