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       # taz.de -- Netanjahu in Berlin: Gelernte Lektion anwenden
       
       > Kein Weg führt vorbei an der Konfrontation mit Benjamin Netanjahu, will
       > man ein demokratisches Israel retten. Deutschland steht in besonderer
       > Pflicht.
       
   IMG Bild: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr Amtskollege Eli Cohen Ende Februar in Berlin
       
       Die Reise von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Berlin ist
       eine gute Gelegenheit für die Bundesrepublik, ihn auf den Platz zu
       verweisen, der ihm zusteht. Bundesjustizminister [1][Marco Buschmann]
       besuchte im vergangenen Monat Israel und erinnerte behutsam an Demokratien,
       die sich in der Geschichte der Menschheit selbst zu zerstören wussten, und
       dass der Macht der Mehrheit keine Grenzen gesetzt seien.
       
       Bundesaußenministerin Annalena Baerbock traf jüngst mit ihrem Amtskollegen
       [2][Eli Cohen in Berlin] zusammen und brachte ihm gegenüber ihre Sorge vor
       einer Beeinträchtigung der „Unabhängigkeit der Justiz“ zum Ausdruck. Und
       auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte bei einem Empfang im
       Schloss Bellevue anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der Universität
       Haifa, er sei besorgt über den [3][„Umbau des Rechtsstaats“], den die
       Regierung in Jerusalem plant.
       
       Das ist sehr nett, dass der Präsident und die Minister besorgt sind. Aber
       es ist keineswegs ausreichend. Dass Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg
       und den Ruinen der Konzentrationslager gebrochen, zerschlagen, geächtet und
       auf ewig beschämt hervorging, war nur gerecht. Der Weg zurück zur
       Völkerfamilie führte völlig klar über die bedingungslose Annahme des
       Prinzips: Nie wieder! Nie wieder Holocaust! Nie wieder Krieg! Nie wieder
       eine Diktatur!
       
       Deutschland hat den Holocaust als Teil seiner Identität angenommen und
       weder die Geschichte ausgelöscht noch davon abgesehen, sich mit diesem
       düsteren Kapitel auseinanderzusetzen. Deutschland hat mit großer Klugheit
       den Holocaust zu einem Teil der Identität des Volkes gemacht, kann so in
       den Spiegel sehen und sich der Scham stellen und aus dieser Scham heraus
       kommende Generationen erziehen.
       
       ## Zeit für politisches Umdenken
       
       Aus der geschichtlichen Verpflichtung heraus hat sich Deutschland selbst
       außenpolitische Schranken errichtet und für eine Außenpolitik der
       Kooperation entschieden, die auf Sicherheit und Stabilität setzt, auf
       Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. Anstelle eines unabhängigen
       Handelns strebt die Bundesregierung ein Agieren im Rahmen einer Koalition
       westlich-liberaler Staaten an. Deutschland unterhält enge Beziehungen zu
       den USA, ist Mitgliedsstaat der Nato und federführend in der Europäischen
       Union.
       
       Hand in Hand mit Frankreich treibt Deutschland innerhalb der EU
       Menschenrechte und Frieden voran, dient als Modell für den Umgang mit
       Flüchtenden, Menschen mit Behinderung und LGBTQ. All das ist ein komplettes
       Gegenstück zu den Gräueltaten der Nazis. Deutschland hat sich zum
       Existenzrecht und der Sicherheit Israels verpflichtet. Die besondere Sorge
       gilt dem jüdischen Volk und dem Staat Israel.
       
       [4][Reparationszahlungen], die Rückendeckung auf internationaler Bühne,
       Waffenlieferungen und Vermittlungen bei Verhandlungen mit Drittstaaten
       haben die Beziehungen beider Staaten über Jahre gefestigt.
       
       Nicht, dass alles perfekt wäre in Deutschland, das vor Korruption oder auch
       wachsendem [5][Rassismus] nicht gefeit ist. Und doch hat die
       verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die
       Umsetzung dieser Lektion in politisches und staatliches Handeln Deutschland
       nicht nur in die Arme der Völkerfamilie zurückgeführt, sondern einen
       zentralen Platz unter den führenden liberalen Demokratien der Welt
       einnehmen lassen.
       
       Die Welt verändert sich, und die Politik muss der sich wandelnden Realität
       angepasst werden. Auch in Israel verändern sich die Dinge – auf eine Art,
       die ein politisches Umdenken erfordert. Lange Jahre hat Deutschland dem
       Besatzungsstaat Israel viele Verbrechen verziehen. Der Umgang mit
       Minderheiten und Fremden, die Menschenrechtsverletzungen und die massiven
       Einschränkungen für Menschenrechtsorganisationen – all das steht in
       direktem Gegensatz zu den Prinzipien, die die deutsche Politik leiten, von
       der einen Verpflichtung, Israel zur Seite zu stehen, abgesehen.
       
       ## Angst vor Antisemitismus-Vorwurf
       
       Doch jetzt ändern sich die Vorzeichen auf eine Weise, die es Deutschland
       ermöglicht, beide Komponenten unter einen Hut zu bringen: die Verpflichtung
       Israel gegenüber und der Kampf gegen die Diktatur. Israel wird heute
       angegriffen von einer [6][extrem rechten Regierung], die sich zusammensetzt
       aus Kriminellen, Korrupten und Messianern, die sich die Zerschlagung des
       Justizapparats zum Ziel setzt und die Machtkonzentration in den Händen der
       Exekutive. Wie kaum ein anderes Land müsste Deutschland wissen, was dabei
       herauskommen kann.
       
       Die Regierung in Berlin muss diese Entwicklungen nicht tatenlos beobachten.
       Schließlich hat sich Deutschland in der Vergangenheit bisweilen deutlicher
       gegenüber Israel positioniert. So wurde die [7][Lieferung der deutschen
       U-Boote] so lange aufgehalten, bis Israel zurückgehaltene Gelder an die
       Palästinensische Autonomiebehörde überwies. Auch heute gäbe es
       Möglichkeiten – ein verändertes Abstimmungsverhalten in New York oder die
       schärfere Verurteilung der Besetzung.
       
       Deutschland kann und muss signalisieren, dass die Handelsbeziehungen so
       wenig in Stein gemeißelt sind wie die Sicherheitskooperation oder
       Rüstungslieferungen. Deutschland kann und muss Menschenrechtsorganisationen
       unterstützen, die für Demokratie und Frieden in Israel kämpfen und auf jede
       nur mögliche Hilfe – sei es finanzieller, politischer oder
       organisatorischer Art – angewiesen sind.
       
       Ohne Zweifel besteht in Berlin die Sorge davor, dass jede Kritik an Israel
       umgehend als Antisemitismus gebrandmarkt werden wird. Nicht Israel steht in
       der Kritik, sondern Israels Regierung. Deutschland trägt Verantwortung für
       die Existenz Israels und für die Demokratie. Alles andere wäre ein Betrug
       an den Lehren, die aus dem Holocaust gezogen wurden.
       
       Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
       
       16 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Geplante-Justizreform/!5917642
   DIR [2] https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-deutschland-annalena-baerbock-eli-cohen-1.5759979
   DIR [3] /Geplante-Justizreform-in-Israel/!5921170
   DIR [4] /Entschaedigungszahlungen-fuer-NS-Opfer/!5874999
   DIR [5] /Schwerpunkt-Rassismus/!t5357160
   DIR [6] /Soziologe-ueber-Israels-neue-Regierung/!5915492
   DIR [7] /Israel-kauft-deutsche-U-Boote/!5356363
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Roee Kibrik
       
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