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       # taz.de -- Neuer Film „Siberia“ von Abel Ferrara: Die Seele draußen im Eis
       
       > In „Siberia“ fährt Regisseur Abel Ferrara mit seinem Hauptdarsteller
       > Willem Dafoe Schlitten. Der Film ist eine Traumreise durch die
       > Imagination.
       
   IMG Bild: Höhle – oder Hölle? – der untergehenden Sonne: Willem Dafoe in „Siberia“
       
       Die Premiere von Abel Ferraras Film „Tommaso“ in Cannes letztes Jahr:
       Ferrara und sein [1][derzeitiger Stammschauspieler Willem Dafoe] sitzen in
       einem Youtube-Interview einem unerfahrenen Journalisten gegenüber. Die
       Fragen sind frustrierend banal, doch beide bleiben gelassen und antworten
       geduldig. Was die Inspiration für den neuen Film sei, fragt der Journalist.
       Ferrara grübelt, die Frage höre er während des Festivals bereits zum
       sechsten Mal. Dafoe meint: „The life, the life, the life!“
       
       Ferrara scheint mit der Antwort ganz zufrieden, aber traut Festlegungen
       seiner Filme anscheinend nicht so recht über den Weg. Mit seinem neuen Film
       „Siberia“, der Anfang des Jahres im Wettbewerb der Berlinale Premiere
       feierte, will er sich gegen die Vernunft und das Rationale an sich
       auflehnen, verrennt sich aber in engstirnigen Traumblasen.
       
       Seit knapp 50 Jahren verweigert sich der in der New Yorker Bronx
       aufgewachsene italienisch-irische Filmemacher einem verkopften Kino,
       stattdessen verwurzelte er seine Erzählungen und Bilder immer wieder im
       Umfeld der eigenen intensiven Psychologie und Biografie, kanalisiert durch
       Aussteigerfiguren und Exzentriker, meist Männer. Er filmte immer wieder
       gegen die Idee von einer intakten Gesellschaft an.
       
       Die Ergebnisse waren im Stil roh und konfrontativ, frühe Arbeiten wie der
       Kultklassiker „The Driller Killer“ (1979) über einen Künstler, der mit
       einer Bohrmaschine Amok läuft (gespielt von Ferrara selbst), oder „Bad
       Lieutenant“ (1992) mit Harvey Keitel als korruptem Cop sorgten für Debatten
       und Aufruhr beim Jugendschutz. Ferrara war jahrelang drogenabhängig und
       changierte in seinen öffentlichen Auftritten zeitweise zwischen Wahn und
       Ironie.
       
       Heute, nach beinahe 50 Filmen, lebt er in Rom und ist bekennender Buddhist.
       Stilistisch bleibt er ein Freischwimmer und bewegt sich zwischen seinen
       US-amerikanischen Einflüssen, seiner Liebe zum Genrekino, dokumentarischen
       Ausflügen und ist zutiefst fasziniert vom europäischen Autorenfilm. Mit
       Dafoe drehte er 2014 etwa eine [2][Ode an den ermordeten italienischen
       Künstler und intellektuellen Provokateur Pier Paolo Pasolini].
       
       ## In der Isolation Sibiriens
       
       „Siberia“ basiert auf C. G. Jungs autobiografischer Notizsammlung „Das rote
       Buch“, in dem dieser sich gezielt mit Imaginationen und dem Unbewussten
       befasste, unter anderem auch seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg
       verarbeitete. Ferrara porträtiert einen Mann namens Clint, der sich von
       allem abgewendet hat, was er kennt, um in der Isolation Sibiriens sich
       selbst zu finden. „Your soul is outside of you and you must claim it“,
       bekommt er von seinem Spiegelbild zu hören.
       
       Nicht irgendein Spiegelbild, sondern eines im Wasser, rot leuchtend. Es
       zeigt sein Gesicht, in Unruhe versetzt durch Wellen, verkleidet mit einer
       Schweißerbrille.
       
       Willem Dafoe, der hier ein weiteres Mal die seltene Wandelbarkeit und
       Biegsamkeit seiner Gesichtszüge unter Beweis stellt, muss über weitere
       Teile des Films mit und gegen sich selbst spielen, weil ihm Ferrara nur
       selten ein Gegenüber liefert. Die meisten Menschen, denen Clint begegnet,
       sprechen zunächst nicht einmal seine Sprache, sondern weisen ihm mit
       unverständlichen Kommentaren und den Händen nur den Weg zum Alkohol, den er
       in seiner Bar ausschenkt.
       
       ## Ein höllisches Unbewusstes
       
       Was in einer Kneipe mitten im Schnee beginnt, verliert bald die zeitlichen
       und räumlichen Bezüge. Clint gerät in einen Strudel aus Assoziationen: Ihm
       bricht der Boden weg, er stellt sich den Leichen in seinem Keller und
       seiner Vergangenheit, allen voran seinem Vater und der eigenen
       Vaterwerdung. Das Träumerische wird zur treibenden Kraft, aus Schnee wird
       Sand, aus Sand ein Wald, Innenräume werden zu Gedankenkammern, und in
       Höhlen verdichtet sich ein höllisches Unbewusstes.
       
       Körper rücken ins Bild, werden entblößt, rekeln sich dämonisch, tanzen und
       verdrehen Clint immer weiter den Kopf. Und bald beginnt er auch selbst zu
       tanzen, sucht nach einer Fröhlichkeit, die ihm bei seinem sibirisch-kalten
       Leben lange abhandengekommen ist. Dafoe auf flotten Sohlen und mit
       schwingenden Armen zu Del Shannons „My Little Runaway“ ist das Highlight
       eines Films, der in seiner verträumten, in sich selbst versunkenen
       Experimentierfreude auch viel Lockerheit und Mut zum Unperfekten mitbringt.
       
       Letztlich inszeniert Ferrara Clint alias Dafoe als Projektionsfläche, als
       störrischen Mann, in dem sich grundlegende Wahrheiten der Welt spiegeln und
       entfalten sollen. Einen Mann, einen weißen Mann, an dem vor
       „Natur“-Kulissen – irgendwo im Schnee, irgendwo in der Wüste, irgendwo im
       Wald – tief greifend verhandelt werden soll, was es mit dem Wachsein und
       Träumen eigentlich auf sich hat.
       
       ## Ritual mit einem Guru
       
       Dazu wird auch schon mal Nietzsche adaptiert und in einem Ritual gleich
       noch sinngemäß vorgetragen von einem Guru: „Keine geringe Kunst ist
       Schlafen, deswegen musst du den ganzen Tag wachen. Zehn Wahrheiten musst du
       des Tages finden; sonst suchst du noch des Nachts nach Wahrheit, und deine
       Seele blieb hungrig. Zehnmal musst du lachen am Tage und heiter sein; sonst
       stört dich der Magen in der Nacht, dieser Vater der Trübsal.“
       
       Kommentarlos geht kurz darauf die Reise weiter, und Clint begegnet einem
       Vertreter der „dunklen Künste“. Im Dialog zwischen dem Magier und dem
       gebrochenen Clint soll es der Vernunft an den Kragen gehen, doch überrascht
       die zentrale, C. G. Jung gewidmete Szene nicht nur mit energielosem
       Schauspiel, sondern auch mit einer regelrechten Erklärobsession.
       
       An Ambivalenz ist Ferrara heutzutage anscheinend nicht mehr interessiert,
       und er möchte sich auch sprachlich nicht mehr aus dem Fenster lehnen: „Du
       kommst durch Vernunft zu diesem Schluss. Das ist dein Problem. Deine
       Vernunft ist ein Hindernis.“
       
       ## Die eigenen Versäumnisse aufarbeiten
       
       Wenn im Film kurze, schablonenartige Dialoge mit Menschen entstehen und
       dann unvermittelt wieder abbrechen, taugen diese vor allem als Echos von
       Clints aufgewühltem Unbewussten. Geister oder Traumbilder der Gegenwart und
       Vergangenheit helfen hier kurzum einem Typen, die eigenen Versäumnisse
       aufzuarbeiten.
       
       Neben dem uncharismatischen Zauberer und einem Mönch begegnen ihm frühere
       Liebhaberinnen und ein indigener Mann, der auch ein Geist sein könnte. Er
       unterhält den teilnahmslosen Amerikaner zuerst freundlich und rettet ihn
       dann selbstlos vor dem Hunger.
       
       Das frustriert besonders im Hinblick auf den Prolog des Films, der indigene
       Menschen allesamt als Alkoholiker verspottet und deren kolonialistische
       Ausbeutung dann ganz ungezwungen auch noch romantisiert. Eine Agenda oder
       eine Persönlichkeit verweigert Ferrara dem Inuit ebenso wie Clints
       Gespielinnen. Letztere kommen teils gar nicht erst zu Wort, müssen aber für
       Sexszenen herhalten – passend zu Ferraras Traumlogik, die neben Sex und
       Gewalt erschreckend wenige Facetten kennt.
       
       „Siberia“ hakt Schauplätze aus C. G. Jungs Buchvorlage ab, weigert sich
       jedoch, sich mit diesen zu beschäftigen. Ferrara interessiert sich wenig
       für Menschen neben seinem Helden, der sich für Apathie entschieden hat.
       
       Er will sibirischen Existenzialismus, aber verweigert sich dem endlosen und
       endlos unterrepräsentierten Geschichtenrepertoire der Inuit und
       Eskimokultur, die er im Film lediglich als Randnotiz platziert.
       Stattdessen: C. G. Jung wird stilecht adaptiert als europäisch-männliche
       Nabelschau, der geträumte Traum ist hier der Traum vom Boys Club, dessen
       Obsessionen sich selbst genügen.
       
       2 Jul 2020
       
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   DIR Dennis Vetter
       
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