URI: 
       # taz.de -- Neuer Roman von Andreas Stichmann: Dass die anderen immer was fühlen
       
       > Postmaterialismus als Problem. Über Andreas Stichmanns neuen Roman „Die
       > Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“.
       
   IMG Bild: Zurück zur Natur: Birkenspaghetti ist die Leibspeise der Sonnenhof-Kommune
       
       Es gibt Literatur, die ihre Absichten so gut verpackt, dass sie in Kauf
       nimmt, unterschätzt zu werden. Andreas Stichmanns zweiter Roman „Die
       Entführung des Optimisten Sydney Seapunk“ ist so ein Buch. Es geht schon
       beim niedlichen Cover los: türkisfarbener Hintergrund, orangefarbene
       Schrift, im oberen Drittel schwebt ein Wal. In den Romantext selbst sind
       bunte Collagen eingestreut, deren Slogans einen naiven
       Weltverbesserungsoptimismus annoncieren: „Hey Seapunk, lass dein Ego los.
       Das Jahrhundert der Empathie hat begonnen.“
       
       „Seapunks“ nennt der titelgebende Optimist Sydney Seapunk die imaginären
       Anhänger seines ebenso imaginären Weltrevolutionsprojekts, die er mittels
       Internet zum Handeln bringen möchte. Sydney Seapunk heißt in Wirklichkeit
       David van Geelen und ist Erbe eines Konzerns, der von seinem Bruder
       Sebastian geführt wird. Sebastian, so lernen wir, ist der harte,
       realistische Sohn des Vaters.
       
       Ihn will Bruder David entführen. Die eine Hälfte von vier Millionen Euro
       Lösegeld will er für gute Zwecke spenden. Die andere Hälfte hat er einer
       Kommune zugedacht, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Ihre Mitglieder
       hat er sich auch als Komplizen ausersehen: Wendy, die „Zwergen-Omi“ mit
       einem Faible für Reime. Küwi, der am liebsten Rasenmäher fährt und
       ansonsten macht, was er will. Sozialarbeiter Ramafelene, der vaterlose Sohn
       von Sonnenhofgründerin Ingrid und jetzige Häuptling. Ingrid, die meist
       reglos in ihrem Sessel sitzt und ihrem eigenen Herzschlag misstraut. Bibi,
       die auf dem Hof Sozialstunden leisten muss.
       
       Der Sonnenhof, zwischen aufgelassenen Fabrikhallen, Feldern und der A 23 in
       Hamburg-Osdorf gelegen, erscheint als typisches Projekt des
       gesellschaftlichen Aufbruchs der siebziger Jahre. Man kann sich seine
       Gründer als Teilnehmer des Tunix-Kongresses in West-Berlin 1978 vorstellen.
       In der Zeit vor Seapunks Ankunft kocht man in den Lehmhäusern des
       Sonnenhofs Birkenspaghetti, das kostet nichts und ist nachhaltig. Als die
       neue Seapunk-Zeitrechnung anbricht, kommt einmal täglich der
       Pizzabringdienst.
       
       Die Ironie, dass die neoliberal getränkte Charity-Denke eines Sydney
       Seapunk nur Ausdruck des Problems ist, das sie zu bekämpfen meint, bleibt
       von Stichmanns Figuren unkommentiert. Er nimmt zurecht an, dass seine Leser
       sie wohl bemerken werden.
       
       Liest man „Die Entführung des Sydney Seapunk“ als Allegorie, dann steht der
       missionarische Erbe Sydney Seapunk für jenen Teil der Gesellschaft, der
       sich wohlstandsbedingt keine existenziellen Sorgen machen muss, aber einer
       postmaterialistischen Gesinnungsethik folgt, statt sich zuerst einmal mit
       der Lebensrealität der weniger Privilegierten auseinanderzusetzen. Diese
       Problembeschreibung kennt man als Kritik an grüner Politik.
       
       Die Bewohner des Sonnenhofs repräsentieren diejenigen, denen es nicht
       gegeben ist, am gesellschaftlichen Spiel um Anerkennung teilzunehmen. Ihnen
       gilt die Sympathie des 1983 in Bonn geborenen Autors, der in einer
       selbstverwalteten Dorfgemeinschaft in Südafrika gelebt und in Leipzig
       studiert hat.
       
       ## Weltrettungsplan scheitert
       
       Das Plot seines Romans hat die Komplexität eines durchschnittlichen
       Degeto-Skripts. Was aber anfangs als allzu naive Erzählhaltung erscheint,
       zeigt sich alsbald als uneitler Dienst an der Story. Seine Geschichte
       kompliziert zu verschachteln, womöglich gar die im Literaturbetrieb so viel
       gepriesene „Sprachgewalt“ auszuüben – um all das geht es Stichmann nicht.
       
       Er interessiert sich für die Hemmnisse, Bewegungen und Entwicklungen seiner
       Figuren. Er leiht seine Stimme den inneren Monologen der Protagonisten und
       erschafft so eine multiperspektivische Narration. Die Erzähleinheiten sind
       jeweils mit dem Namen derjenigen Person betitelt, durch deren Augen wir
       sehen, mit deren Ohren wir hören und deren Gedanken wir denken.
       
       Bibi, Ramafelene, Küwi, Sydney Seapunk, Ingrid, Sebastian – sie sprechen
       und denken in einfachen, aber umso präziseren Aussagesätzen. Bibi:
       „Ramafelene ist so drauf, dass er alle Aufgaben supergenau taktet. Aber
       die anderen Bewohner sind so drauf, dass sie alle Aufgaben maximal
       vertrödeln.“ Oder Ingrid: „Überall, wo ich bin, ist das Leid. Aber am
       konzentriertesten ist es in der Brust und im Kopf.“
       
       Seapunks Plan geht nicht auf. Was schlimmer ist, er macht sich schuldig.
       Aber er hat die starren Verhältnisse auf dem Sonnenhof
       durcheinandergewirbelt. Ramafelene etwa, eines dieser Hippiekinder, die
       ihren Eltern Halt geben müssen, statt ihrer Eltern Kinder zu sein, ist in
       Bibi verliebt. Die aber stellt nun fest, dass sie ihr Leben selbst in die
       Hand nehmen muss.
       
       Die schönste Ironie dieses Romans besteht darin, dass Küwi, der heilige
       Narr und heimliche Held des Buchs, dieses „Kind im Körper eines
       Zwei-Meter-Mannes“ am Ende der Einzige ist, der durch die
       Coaching-Weisheiten Sydney Seapunks in die Lage versetzt wird, sich über
       ein Gegenüber als Handelnden zu begreifen: „Das ist eben so was, was man
       seit dem Focusing weiß: dass die anderen immer was fühlen, in das man sich
       erst mal reinversetzen muss.“
       
       Andreas Stichmann kann sich sehr gut in andere reinversetzen. Das ist das
       Schöne an seinem Buch. Aber ein bisschen Zickigkeit und Verzweiflung,
       vielleicht sogar Boshaftigkeit und Zynismus hätte diesem buddhistischen
       Roman auch nicht geschadet.
       
       10 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
       ## TAGS
       
   DIR Roman
   DIR Buch
   DIR Berlin-Style
   DIR deutsche Literatur
   DIR Klagenfurt
   DIR Klagenfurt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kat Kaufmanns neuer Roman: Nicht ich, sondern du
       
       Durch Berlin und Moskau: Kat Kaufmanns neuer Roman „Die Nacht ist laut, der
       Tag ist finster“ erzählt vom Trip eines verlorenen jungen Mannes.
       
   DIR Literaturfestival Lit.Cologne: Dunkle Zwillinge, liebende Mütter
       
       Romane wie beste Freundinnen: Fatma Aydemir, Tijan Sila und Takis Würger
       lesen für den Debütpreis der Lit.Cologne um die Wette.
       
   DIR Fazit 37. vom Bachmann-Wettbewerb: Unsere tägliche Dosis Ingeborg
       
       Die imaginierte Deportation der Großmutter, Germknödel und ein Käfersammler
       – die Bachmannpreis-Siegertexte decken ein breites Spektrum ab.
       
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis 2013: Niemand ist tot oder pervers
       
       Impressionen vom 37. Bachmann-Wettlesen: Von Käfer-Nerds, Jurydiskussionen,
       Schamhaarliteratur und der steten Angst vor dem Ende des Bewerbs.
       
   DIR Couchsurfing im Iran: Abgemildertes Chaos
       
       Der junge Hamburger Autor Andreas Stichmann hat nach einem preisgekrönten
       Erzählband einen wilden ersten Roman geschrieben, den er jetzt im Norden
       vorstellt.