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       # taz.de -- Neuer Roman von Clemens Meyer: Wilder Fluss des Erzählens
       
       > Er reitet mit Winnetou durch die Geschichte Jugoslawiens und endet im
       > wiedervereinigten Deutschland: Meyers neuer Roman „Die Projektoren“.
       
   IMG Bild: Clemens Meyer fand im unwirtlichen kroatischen Gebirgsmassivs Velebit Inspiration für seinen neuen Roman
       
       Schicksalswahlen, Wende, Demokratietest – die Wahlen in Ostdeutschland sind
       das Thema im politischen Herbst 2024. Wenige Tage vor der Wahl ist der lang
       erwartete neue Roman von Clemens Meyer erschienen, einem der bekanntesten
       zeitgenössischen Autoren Sachsens. Doch anders als sonst spielt die Heimat
       des Leipzigers ausgerechnet dieses Mal nur eine Randrolle.
       
       Man könnte das als literarischen Stinkefinger werten. Meyer bietet keine
       raue Halbweltgeschichte aus Ostdeutschland an, wie er sie schon öfter
       geschrieben hat und die sich gerade jetzt bestens für die Rubrik „Wie der
       Osten wurde, was er ist, und wie er tickt“ hätte vermarkten lassen können.
       
       Er legt ein dickes Ding vor: ein über 1.000 Seiten langes Epos, in dem es
       zwar auch um Halb-, Unter- und Zwischenwelten geht, in denen es nicht
       minder gewalttätig und tragisch zugeht, das aber vorwiegend in einem
       europäischen Land spielt, das es – wie die DDR, in der er geboren wurde –
       nicht mehr gibt: Jugoslawien.
       
       Möglicherweise stimmt aber schon diese Aussage nicht. Was wirklich im
       Zentrum von [1][„Die Projektoren“] liegt, lässt sich kaum sagen. Zum einen,
       weil eine Fülle an Schauplätzen, Figuren und Geschichten erzählt werden,
       zum anderen, weil ein Motiv des Erzählers in der ständigen Verunsicherung
       darüber besteht, was real und was Einbildung ist, wo Anfang und Ende, wo
       Sinn und Unsinn.
       
       ## Winnetou, ein bekannter Deutscher
       
       Einer der Protagonisten in diesem Buch ist Winnetou. Der neben Hitler und
       Nena wohl weltweit bekannteste Deutsche des 20. Jahrhunderts ist eine
       literarische Erfindung des [2][weltweit mit am meisten verkauften deutschen
       Autors Karl May]. Der ebenfalls aus Sachsen stammende Schriftsteller hatte
       immer behauptet, der von ihm erfundene weiße Freund von Winnetou, Old
       Shatterhand, sei keine fiktive Figur, sondern er selbst.
       
       Die Filmfigur Winnetou ist allerdings ganz ohne solch Hochstapelei zu einer
       realen Figur geworden. Kaum ein Kind, das mit diesen Filmen groß wurde, das
       nicht der Meinung war, Winnetou gäbe es, und kaum ein erwachsener
       Deutscher, dessen Bild von den Indianern nicht vom Bild dieser deutschen
       B-Movie-Filme geprägt ist.
       
       Verfilmt wurden dessen Romane über den Häuptling der Apachen ausgerechnet
       in Jugoslawien, vor allem im südlichen Teil des kargen und unwirtlichen
       kroatischen Gebirgsmassivs Velebit, dessen Name so viel bedeutet wie
       „Großes Wesen“, also als hätte sich den Namen Karl May ausgedacht, um ihn
       irgendwie indianisch klingen zu lassen. In diesem Großen Wesen spielt kein
       geringer Teil des Romans von Clemens Meyer.
       
       Und zwar deswegen, weil Meyer eine historische Absurdität nicht in Ruhe
       ließ. Bei seinen Reisen in dieses Gebirge erfuhr er, dass rund um die
       bizarre Felsformation Tulove Grede, die jeder erkennt, der die
       Winnetou-Filme gesehen hat, sich bis heute ein vermintes Feld befindet. Und
       zwar nicht als Metapher.
       
       ## Cowboys und Serben
       
       Genau hier, wo in den 1960er Jahren kroatische, serbische und bosnische
       Statisten mit rotbemalten Gesichtern und Federn im Haar mit deutschen,
       französischen und amerikanischen Schauspielern Cowboy und Indianer spielten
       und sich mit Kunstblut und Plastikwaffen bewarfen, massakrierten sich 30
       Jahre später Serben und Kroaten gegenseitig, und zwar in echt.
       
       Heute findet man an einer der Felswände Schaukästen mit Fotos von Pierre
       Briece und Lex Barker und nebendran kleine Grabplatten, die an gefallene
       kroatische Kämpfer der 1990er Jahre erinnern.
       
       Ist das nun ein Beispiel, wie aus einer Fiktion (Cowboys gegen Indianer)
       Realität (Serben gegen Kroaten) wurde und wie aus einer Realität (Serben
       mit Kroaten) Fiktion (Serben gegen Kroaten) wurde? Jedenfalls ist der
       Tulove Grede im Großen Wesen für Clemens Meyer der große Pate für seinen
       Roman.
       
       ## Verbannt ins Große Wesen
       
       Hier in diesem Gebiet macht uns Meyer mit einem Mann bekannt, der von allen
       nur „Cowboy“ genannt wird, weil er ein kariertes Tuch um den Hals trägt. Um
       seinen richtigen Namen zu erfahren, muss man das Buch allerdings bis fast
       zu Ende lesen. Cowboy wächst im serbischen Belgrad auf, wo er 1941 seine
       Eltern beim Luftangriff der Deutschen verliert, er kommt als Kind zu den
       jugoslawischen Partisanen, wird dort Botengänger zwischen den Fronten.
       
       Nach Ende des Krieges und Titos Abkehr von Stalin landet Cowboy auf der
       berüchtigten Strafgefangeneninsel Goli Otok. Danach wird er ins Große Wesen
       verbannt, wo er in einer klapprigen Hütte mir einem stummen Schäfer lebt,
       den er „Pflaume“ tauft, natürlich wegen des Pflaumenschnapses, den jeder
       kroatische Hinterlandbewohner selbst brennt.
       
       Als dann in den 1960er Jahren die deutsche Filmcrew auftaucht, um unter
       seiner Hütte „Winnetou“ zu drehen, wird Cowboy zum Indianer-Statisten und
       zum Dolmetscher für Lex Barker. Wer ist hier Statist, wer echt? Wer ist
       hier Cowboy, wer Tarzan? Cowboy verliebt sich jedenfalls in die hübsche
       Negosava, deren Name zwar auch so klingt, als hätte ihn sich Karl May für
       eine Indianerin ausgedacht, die aber vojvodinische Serbin ist. Ob sie die
       blonde Frau ist, die – wie die Opfer des Massakers in Novi Sad 1942 – durch
       die Donau treibt?
       
       In einem abenteuerlichen Erzählstrom nimmt uns Clemens Meyer mit durch die
       Labyrinthe der verworrenen jugoslawischen Geschichte und Kriege, in der oft
       auf brutale Weise Deutsche involviert sind. Sprache und Erzählstil wechseln
       dabei wie ein wilder Fluss zwischen reißend und plätschernd, zwischen
       Wasserfall und gefällearm, machen spektakuläre Biegungen, fließen aber auch
       über lange Strecken gradlinig, ruhig, gezähmt und überschaubar. Von solchen
       wilden Flüssen und Wasserfällen gibt es auf dem Gebiet des ehemaligen
       Jugoslawien zahlreiche, und durch sie sind schon hunderte von Leichen
       getrieben.
       
       ## Verweise, Zitate, Hintergründe
       
       Bliebe man in diesem Roman an jeder Ecke stehen, wo es was zu sehen gibt,
       ginge man durch jede aufgehende Tür hindurch, um an der Stelle aus dem
       Roman aus- und direkt ins Internet einzutreten, zwecks Erkundigungen zu
       Anspielungen, Verweise, Zitaten, historischen Hintergründen und Figuren,
       man käme an kein Ende. Ist das jetzt eine wahre Geschichte oder nur neu
       kompiliert? Hat Karl May wirklich Hitler getroffen oder doch nur Lex Barker
       den [3][Marschall Tito]?
       
       Aber – so viel zur Beruhigung – man kann es auch sein lassen und sich
       einfach weiter an all den offenen Türen vorbeitreiben lassen. Man muss
       dafür allerdings ziemlich resilient sein. Über eine Strecke von über 1.000
       Seiten fragt man sich nicht nur einmal, ob man eigentlich noch weiß, was
       man hier tut, ob es der Autor noch weiß oder ob sich hier sowieso nichts
       mehr entwirren lässt, weil alles heillos miteinander verfilzt ist.
       
       Dem Cowboy aber können wir ganz gut folgen und treffen ihn hunderte Seiten
       später in den 1970er Jahren im Ruhrgebiet wieder, wo er als
       Groschenromanschreiber mit Westerngeschichten sein Geld verdient. Es ist
       die Zeit der sogenannten Gastarbeiter, die damals auch aus Jugoslawien nach
       Deutschland geholt wurden.
       
       30 Jahre später verabreden sich im Ruhrgebiet drei Kumpels, einer aus einer
       DDR-Flüchtlingsfamilie, die anderen beiden Gastarbeiterkinder, und bilden
       eine Art westdeutsches Pionierprojekt zum NSU: Sie gehen 1991 nach
       Kroatien, um dort an der Seite von faschistischen Milizen in den Krieg zu
       ziehen, als Training für die ganz große Nummer im wiedervereinigten
       Deutschland, der sie sich dank Pogromen und Anschlägen wie in Hoyerswerda
       ganz nahe wähnen.
       
       ## Die Wahrheitssuche der „dottores“
       
       Immer wieder schalten sich außerdem sogenannte „dottores“ in die Erzählung,
       die mal in einer Psychiatrie in Leipzig, mal auf einem Kongress im Jemen
       mit und über ihre Patienten sprechen, darunter ein ostdeutscher Journalist,
       der in den 90er Jahren als Berichterstatter an der kroatischen Front war,
       die von Kriegserfahrungen und anderen traumatischen Erfahrungen berichten.
       
       Die „dottores“ sind diejenigen, die in jeder Erzählung Sinn, Rationalität
       und Wahrheit suchen. Doch irgendwann beginnt die Erinnerung der Patienten
       zu stolpern, die Schilderungen werden lückenhafter, es kommt zu Filmrissen
       und Bilder aus anderen Filmen, die sich überlagern, bis alles irgendwann zu
       einem beklemmenden Albtraum ausartet, aus dem es wie eine Erlösung ist,
       wenn klar wird: Alles nur geträumt. Kapitel Ende. Oder doch nicht? Nächstes
       Kapitel.
       
       „Die Projektoren“ kann man als Roman lesen, der versucht, den Zufall
       wegzureden, dem ganzen Irrsinn von Faschismus, Mord, Grausamkeit, von
       Neonazis und Blutsprudel irgendeinen Sinn, irgendeinen vernünftigen Grund,
       irgendeine Rationalität abzuringen. Verwirrungen, Verwechslungen,
       Einbildung oder Einprägung? Jede Gewissheit, die es eine Zeitlang gibt,
       jede stringente Erzählung wird irgendwann eingeholt von der Verunsicherung,
       von der immer fragmentierteren Erinnerung.
       
       Bei einem Fluss sind Anfang und Ende relativ klar. In Meyers Roman lässt
       sich Quelle und Mündung weder genau verorten noch datieren, außer auf Seite
       1 und Seite 1042. Der Charakter eines Flusses aber wird nicht durch seinen
       Anfang und sein Ende bestimmt, sondern durch das, was auf seinem Weg
       passiert. Wer behauptet, zu wissen, wo alles anfing und wo das alles
       hinführt, landet im Nationalismus, im Schützengraben, im Untergrund, im
       Knast oder vor einer Flinte und meistens sowieso daneben.
       
       Folgt man Clemens Meyer auf seiner Wildwasserbahn, wird man eines ganz
       gewiss nicht behaupten können: zu wissen, wo das alles angefangen hat und
       wo das hinführen soll. Aber weiterfahren will man trotzdem unbedingt.
       
       1 Sep 2024
       
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