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       # taz.de -- Neuer Verlag für Literatur: Mit vielen Stimmen erzählen
       
       > Gunnar Cynybulk arbeitet schon lange in der Literaturbranche. Jetzt hat
       > er mit Kanon einen eigenen unabhängigen Verlag gegründet.
       
   IMG Bild: Der Verlagsgründer Gunnar Cynybulk
       
       Der ganze Stolz von Gunnar Cynybulk befindet sich in zwei geöffneten
       Paketen, die im Eingang seiner geräumigen Wohnung auf einer Kommode liegen.
       „Gerade angekommen“, sagt der 50-jährige Neu-Verleger, greift sich ein
       frisch gedrucktes Buch aus einem der beiden Kartons und streicht über das
       Cover. „Es kommen derzeit permanent Waren rein, es ist viel los. Das fühlt
       sich fast an wie früher, als ich in einem großen Verlag gearbeitet habe und
       alles immer zu viel auf einmal war.“
       
       In den beiden Paketen stapeln sich Exemplare von [1][Bov Bjergs] neu
       aufgelegtem Debütroman „Deadline“ und Katharina Volckmers Roman „Der
       Termin“. Cynybulk bleibt einen Moment vor den Stapeln stehen; fast so, als
       sehe er eine solche Buchlieferung zum ersten Mal, als habe er nicht bereits
       ein halbes Leben in der Literaturbranche hinter sich.
       
       In gewisser Weise fängt Gunnar Cynybulk, ein großer, zurückhaltend
       wirkender Mann mit Hornbrille, auch noch einmal von vorne an. Er war 18
       Jahre lang als Lektor, Programmmacher und Geschäftsführer im Aufbau-Verlag
       tätig und zuletzt zwei Jahre als Geschäftsführer bei Ullstein. Jetzt hat er
       einen eigenen unabhängigen Verlag gegründet. Kanon Verlag heißt er, das
       Herbstprogramm ist sein erstes Programm, die beiden Bücher in den Kartons
       sind der zweite und dritte Titel. Der einzige feste Verlagsmitarbeiter ist
       derzeit Literaturwissenschaftler Ludwig Lohmann (der aktuell auch noch
       i[2][n der Buchhandlung ocelot in Berlin] arbeitet), seine „linke und
       rechte Hand“, wie er sagt.
       
       Der Verlag gehört mehreren Personen: Cynybulk ist Mehrheitsgesellschafter,
       seine Mitgesellschafter:innen sind Kuratorin Signe Rossbach,
       Grafikerin Anke Fesel, die Schriftsteller Edgar Rai und Bov Bjerg sowie die
       Architektin Silke Haupt, mit der Cynybulk verheiratet ist. „Mit allen bin
       ich seit langer Zeit befreundet, wir sind sehr loyal zueinander. Ich wollte
       eine Gruppe von Leuten zusammenstellen, die verschiedene Sichtweisen,
       Ästhetiken und Geschmäcker einbringen können. Wir treffen uns regelmäßig.
       Ich brauche ihr Gespür, ich brauche ihre Antennen.“ Investorin Anna
       Rebentrost kam als Gesellschafterin im Lauf der Verlagsgründung noch hinzu.
       
       Verlagssitz in der Wohnung 
       
       Noch befindet sich hier, in der Wohnung des Ehepaars im Berliner Ortsteil
       Lankwitz (der nicht gerade für sein brummendes Kulturleben bekannt ist),
       auch der Verlagssitz. Doch Cynybulk, der nun auf der Terrasse vor einem
       riesigen Garten mit vielen Bäumen und einem Baumhaus sitzt, hat dauerhaft
       andere Pläne, er sucht nach Büro- und Veranstaltungsräumen in Kreuzberg
       oder Neukölln.
       
       „Für 8,50 Euro kalt pro Quadratmeter. Schreiben Sie das ruhig rein,
       vielleicht weiß ja jemand etwas“, sagt er und lacht. Bislang läuft der
       Start von Kanon für ihn zufriedenstellend: „Wir haben vorsichtig
       ambitioniert geplant, die ersten drei Veröffentlichungen haben unsere
       Erwartungen aber übertroffen. Von ‚Deadline‘ haben wir zunächst 6.000
       Exemplare gedruckt, jetzt habe ich bereits die zweite Auflage in Auftrag
       gegeben.“
       
       Wer in unsicheren Umbruchszeiten wie diesen einen kleinen, unabhängigen
       Verlag gründet, wird mindestens als waghalsig, eher aber als wahnsinnig
       bezeichnet. Doch bei genauerer Betrachtung gibt es gute Gründe, sich jetzt
       an neuen Verlagsmodellen wie jenem des Kanon Verlags zu versuchen. Der
       Buchhandel ist vergleichsweise gut durch die Krise gekommen, machte 2020
       insgesamt sogar ein leichtes Umsatzplus von 0,1 Prozent. Auch wenn die
       Zahlen für 2021 bislang noch nicht ganz so gut aussehen, kann von einem
       Einbruch keine Rede sein. Im Gegenteil, Corona hat gezeigt: Die Leute
       schätzen das gedruckte Buch. „Es ist ein guter Zeitpunkt, einen Verlag zu
       gründen“, meint Cynybulk dann auch, „in der Branche sind viele gerade
       zurückhaltend und vorsichtig, auch was den Kauf von Rechten betrifft. Sie
       sind müde, ihnen fehlt der Schwung. Bei mir ist es genau andersherum.
       
       ## Gegen den Mainstream
       
       Die Neugründung ist aber sicher auch eine Reaktion auf die Rochaden und die
       Fluktuation in den großen Verlagen und Konzernverlagen in jüngerer Zeit.
       Vor allem bei Rowohlt und Ullstein wechselten die Geschäftsführungen so
       schnell, dass man kaum hinterherkam. Cynybulk war selbst von 2017 bis 2019
       Ullstein-Geschäftsführer. „Ullstein und ich passten nicht gut zusammen“,
       sagt er dazu nur. Doch die Entwicklung vieler großer Verlage sieht er
       kritisch: „In vielen Häusern herrscht große Unruhe. Die Verlage haben keine
       Identität mehr, sie wissen nicht, wofür sie stehen. Es fehlt an
       programmatischer Vision.“
       
       Deshalb begreift er sein neues Modell als Chance: „In der Literatur haben
       das Gesichtslose, das Inhaltsleere und das Mainstreamige überhandgenommen.
       Wir setzen eine eigene Handschrift dagegen. Wir stehen für eine Ästhetik,
       die ein bisschen sperriger, aber tiefgehender ist.“
       
       Die Zeichen stehen auf Aufbruch, das zeigt sich auch beim Verlagsfest ein
       paar Tage später. Die Party findet im Garten des Verlegers statt, gut 200
       Gäste sind an diesem Sommerabend Ende August gekommen. Übersetzer:innen,
       Verleger:innen, Autor:innen. Bov Bjerg erzählt auf der Bühne, wie er
       gestaunt habe, als Cynybulk ihm ausgerechnet den Namen Kanon Verlag
       vorgeschlagen habe. „Aber Gunnar meinte zu mir: Das bedeutet ja auch
       Vielstimmigkeit! Da war ich überzeugt“, sagt er und lacht.
       
       Die deutsch-britische Schriftstellerin Katharina Volckmer liest
       anschließend aus der englischen Originalversion von „Der Termin“; darin
       berichtet die Ich-Erzählerin eingangs während einer operativen
       Geschlechtsangleichung, wie sie in ihren Träumen einmal Hitler war. Ihr
       Wunsch ist es, einen jüdischen Penis zu bekommen. Der ganze Roman ist dann
       wie eine psychoanalytische Sitzung – der Patient: die Deutschen. Harter
       Stoff, zumal während des Buffets beim Gartenfest.
       
       Alle fünf Bücher des ersten Programms werden auf dem Fest vorgestellt: Ines
       Burdow und Andreas Hüneke erzählen über den Band mit Liebesbriefen von
       [3][Lyonel Feininger] („Sweetheart, es ist alle Tage Sturm“), Sophia Fritz
       liest aus ihrem Silvester-Roman „Steine schmeißen“, [4][Kunstkritikerin und
       Autorin Kirsty Bell] stellt ihre alternative Geschichtsschreibung Berlins
       vor („Gezeiten der Stadt“).
       
       Weder einfach noch gefällig 
       
       Sichtlich bewegt hält auch Gunnar Cynybulk eine Rede, und neben vielen
       Dankesworten hebt er hervor, dass einfache oder gefällige Literatur die
       Sache des Kanon Verlags nicht sei: „Wer ernsthaft schreibt, will komplexe,
       verstörende Zeitströmungen mit den Mitteln der Kunst begreifen. Wer
       ernsthaft schreibt, begreift, selbst eine komplexe, verstörende
       Zeiterscheinung zu sein. Wer ernsthaft verlegt, lässt sich darauf ein. Er
       sagt Nein zum Nicht-Integren, zum Kitsch, zum Banalen, zum Brutalen und zum
       Weinerlichen“, erklärt er und bringt so seinen Begriff von Ästhetik auf den
       Punkt. Eine „unkorrumpierte Sprache“ sei ihm überdies wichtig, sagte er im
       Gespräch wenige Tage zuvor. „Eine Sprache, die sich mit dem Ambivalenten,
       dem Störenden und dem Giftigen beschäftigt, das uns zu schaffen macht.“
       
       Die Ambitionen sind also groß. Kanon ist gekommen, um zu bleiben, gekommen,
       um zu wachsen. Zunächst will der Verlag fünf Bücher in jedem Programm
       machen, dann langsam mehr. Ansporn, so Cynybulk, seien für ihn
       Verlegerleistungen wie die von Klaus Wagenbach, Siegfried Unseld, Antje
       Kunstmann, Klaus Schöffling und Helge Malchow, auch die kontinuierliche
       Arbeit bei Matthes und Seitz, beim Verbrecher Verlag und bei Voland & Quist
       schätze er sehr.
       
       Inhaltlich ist bei Kanon wenig ausgeschlossen, junge deutschsprachige
       Literatur kann neben skandinavischer oder afroamerikanischer Literatur
       stehen, ein Sachbuch zu deutsch-deutscher Geschichte neben Lyrik aus den
       USA. Mit Gayl Jones’ „Corregidora“ (1975) soll im Herbst 2022 ein
       vergessener Klassiker der afroamerikanischen Literatur erstmals auf Deutsch
       erscheinen. Im kommenden Frühjahr soll der Erfolgsroman „Meter i sekundet“
       der dänischen Autorin Stine Pilgaard auf Deutsch erscheinen, ein Buch,
       dessen menschenfreundliche Haltung ihn begeistert und beeindruckt habe, wie
       Cynybulk sagt. Auch diese Setzungen haben einen kuratorischen Hintergrund:
       „Wir wollen Herbstprogramme machen, die etwas schwerer sind, wie Rotwein,
       und Frühjahrsprogramme, die frizzante sind.“.
       
       Prickelnd und erfrischend ist es auch, mit welchem Mut und welcher Tatkraft
       das Team des [5][Kanon Verlags] dieses Projekt angeht. Stimmen aus der
       Versenkung holen, neue Stimmen entdecken. Das ist die Mission, das ist die
       Vision. Und so vielstimmig, wie der Kanon am Ende erklingen soll, so
       stimmig erscheinen Konzept und Komposition..
       
       13 Sep 2021
       
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