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       # taz.de -- Neues Album von Meshell Ndegeocello: Forschungen für Eleganz
       
       > Sie liebt Punk und HipHop und hat sich mit üppigen Grooves einen Namen
       > gemacht. Das Album "Weather" der US-Musikerin Meshell Ndegeocello ist ein
       > Neubeginn.
       
   IMG Bild: Neues Leben, neue Songs, neue Erkenntnisse: Meshell Ndegeocello.
       
       Alle reden vom Wetter. Meshell Ndegeocello tut das auch. "Mein
       Seelenzustand ändert sich mit jeder Wetterlage. Es gibt unzählige
       emotionale Großwetterlagen, von herzerwärmend bis eiskalt. Für mich ist
       Wetter weniger banal als eine poetische Metapher. Sie meint viele
       verschiedene Dinge zu unterschiedlichen Zeiten."
       
       Gut, dass der Titel von Meshell Ndegeocellos neuem Album "Weather" geklärt
       ist. So kann man auf Grundsätzliches zu sprechen kommen, die angenehme
       Trägheit der Songs ihres neuen Albums. Und die sind alles andere als
       wetterfühlig.
       
       Beim bloßen Gedanken an Balladen erschaudert Meshell Ndegeocello beim
       Interview schon. "Weil man jeden Fehler beim Spielen von Balladen sofort
       erkennt. Als Musikerin habe ich unendliche Geduld und Selbstvertrauen
       aufbringen müssen, um mir Balladen zuzutrauen. Ist ein Song laut und
       aggressiv, kann man sich stets hinter der Fassade seines Pulses verbergen,
       bei Balladen funktioniert das nicht."
       
       Meshell Ndegeocello spricht sachlich über die künstlerische Vision und die
       Problemstellungen, die ihrem neuen Album "Weather" zugrunde liegen. Für die
       Aufnahmen hat sie zum ersten Mal in ihrer Karriere auf den Modus einer
       Singer-Songwriterin geschaltet.
       
       "Weather" ist ein sparsam instrumentiertes Album geworden. "Ich nehme mich
       zurück", sagt Ndegeocello, "sonst haben meine Hörer nichts mehr, wonach sie
       sich sehnen können." Ungewöhnlich für eine Künstlerin, die einmal als
       Epizentrum von üppigen Grooves und afroamerikanisch konnotierter Powermusik
       galt; für die einzige Frau, die es je auf das Cover des größten
       US-Muckerfachblatts geschafft hat; und die erste Künstlerin, die von
       Madonnas Label Maverick unter Vertrag genommen wurde.
       
       Maverick ist inzwischen bankrott, und die USA der vergangenen Jahre hat
       Ndegeocello einmal als "postrassistisch" bezeichnet. Inzwischen hat auch
       ihre eigene Musik viele Bezüge zur afroamerikanischen Kultur gekappt; sie
       geht viel freier mit ihren Einflüssen um als früher, mischt sie stärker.
       Auf die Frage, was sie von ihrem Helden Prince unterscheide, antwortet sie
       lakonisch. "Anders als ihn behindert mich kein religiöses Dogma."
       
       Popmusiker zu finden, die reflektiert, aber sachlich über ihre Raison
       d'être sprechen, ist das eine. Das andere ist, die 43-jährige Ndegeocello
       spricht druckreif. Wenn sie Auskunft gibt, dann scheint eine
       Wissenschaftlerin zu sprechen, die neue Forschungserkenntnisse durchaus
       selbstkritisch erläutert.
       
       Diese Coolness kommt ohne Ausrufezeichen daher, sie schafft Distanz. Sie
       überträgt sich wiederum auf ihre Musik. Dass auch das wieder Inszenierung
       ist, so what. Denn alle von ihren 13 neuen, in getragenem Tempo
       vorgetragenen Songs entwickeln beim Hören einen unwiderstehlichen Sog. Die
       Eleganz dieser Behaglichkeit krabbelt zu einem unter die Decke, und dann
       bleibt sie einfach da, für länger.
       
       Ndegeocello hat sich der Form der Ballade auch deshalb gewidmet, weil sie
       der Überschallgeschwindigkeit des Alltags etwas entgegensetzen will.
       "Weather" ist ein Bruch mit ihrer Vergangenheit. Aufgewachsen ist sie als
       Michelle Johnson in Washington D. C., unter chaotischen Lebensumständen,
       wie sie sagt.
       
       Ihr Herz verloren hat Ndegeocello erst an Punk, dann an New York. Sie
       erinnert sich gern an das Turbulente dort. "Ein Ort, an dem Künstler
       kreativ dabei waren, sich künstlerisch weiterzuentwickeln - auch solche,
       die niemand kannte. Heute ist es nur noch ultrabourgeois, die
       Low-Budget-Version, die ich schätzte, existiert nicht mehr." Sie covert
       Cohens "Chelsea Hotel", ihre zeitweilige Heimat. Und sie besingt in dem
       Song "Objects in mirror are closer than they appear" ihren Abschied vom Big
       Apple.
       
       Entfremdet hat sich Ndegeocello auch von der sie prägenden HipHop-Kultur.
       Es sei schwer, als Schwarze zu verstehen, dass Kriminalität, wie sie sich
       in den Vorstellungswelten von HipHop zeigt, auch noch in der Ära Obama als
       etwas Befreiendes empfunden wird. "Ich wünschte, Maskulinität würde sich
       vielfältiger zeigen."
       
       Mit ihrer Lebensgefährtin und der gemeinsamen kleinen Tochter hat Meshell
       Ndegeocello ihre Zelte in der Kleinstadt Hudson aufgeschlagen. "Ich lebe
       mitten im Wald. Mein neues Leben ist in einen gemächlicheren Gang
       geschaltet, er versorgt mich mit neuer Energie. Diese Energie möchte ich
       wieder zurück in die Gesellschaft speisen."
       
       Die neue Energie zeigt sich in den Balladen, die formstreng sind und der
       Gefahr des Hochemotionalen schon strukturell begegnen. "Ich muss mich beim
       Singen viel mehr auf die nackte Stimme konzentrieren, sie steht im
       Vordergrund. Das gefällt mir, denn gleichzeitig löst sich die Sprache in
       den Songs in ihre Einzelheiten auf. Es geht darum, mit wenigen Worten alles
       zu sagen. Es geht auch darum, Gefühle zu kommunizieren, ohne dass Worte
       verständlich werden. Man weiß nicht, was ich sage, aber es lässt sich
       fühlen. Das war diesmal meine Methode, die Stimme als Instrument
       einzusetzen, nicht als Nebelhorn."
       
       21 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
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