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       # taz.de -- Obdachlosigkeit in New York: Eine moralische Verletzung
       
       > Deutschland und Europa setzen auf „Housing First“, um Obdachlosigkeit zu
       > bekämpfen. In New York hat sich das Modell nicht durchgesetzt. Was können
       > wir daraus lernen?
       
   IMG Bild: Die Fifth Avenue in New York City zur Weihnachtszeit: Eine obdachlose Frau schirmt sich in einer Plastikhülle von der Kälte ab
       
       New York, Washington und Berlin taz | Auf dem Gehsteig liegt ein Mann. Oder
       eine Frau? Ein Mensch jedenfalls. Körper und Gesicht in einem grauen
       Schlafsack verborgen. Dieser Mensch fällt auf. Selbst denen, die sich in
       New York gewöhnt haben an die vielen, die in Schlafsäcke oder Decken
       gehüllt auf den Wegen liegen. Denn er liegt quer zu den Fußgänger*innen,
       die halb an ihm vorbei und halb über ihn hasten. Es sind sehr viele
       Fußgänger*innen, das hier ist Lower Manhattan an einem Vormittag, nahe der
       Wall Street. Sie alle müssen irgendwohin, irgendwo sein. Und dieser Mensch
       liegt ihnen quer.
       
       Es fällt mir schwer, einfach weiterzugehen. Hier in New York und auch in
       Berlin, wo ich seit einigen Jahren lebe. Wie fühlt es sich an, zu den Füßen
       der anderen zu liegen? Wie hält ein Mensch das aus, ohne vor Angst zu
       vergehen? „Nur mit Drogen“, sagt ein Bekannter, der selbst obdachlos war.
       „Mit viel Alkohol und anderem, was dich betäubt.“
       
       Obdachlosigkeit gehört zum Bild von New York City. Am einen Ende Karrieren,
       Bankkonten, Lebensstile und Häuser, die am Himmel kratzen. Und am anderen
       Ende Menschen, die, als solche kaum mehr erkannt, am Boden leben; von dem,
       was ihnen als Almosen zugebilligt wird. Vielleicht sind sich die Extreme
       nirgends so nah wie in Manhattan. Als ob sich das obere und das untere Ende
       des American Dream hier berühren.
       
       An diesem Ort wurde Anfang der Neunziger ein Konzept geboren, das die
       Obdachlosenhilfe auf den Kopf – oder besser gesagt zurück auf die Füße  –
       stellt. Housing First: Zuerst ein Zuhause. Ein revolutionäres Konzept, das
       die Bedürfnisse und Möglichkeiten obdachloser, psychisch erkrankter und
       drogensüchtiger Menschen in den Fokus stellt.
       
       ## Eine chronische Krankheit der Metropolen
       
       Doch ausgerechnet in New York, wo Housing First herkommt, gibt es das
       Projekt jetzt nicht mehr. In Lower Manhattan und anderswo lässt es sich
       kaum einen Block gehen, ohne einem Menschen zu begegnen, der ganz
       offensichtlich kein Zuhause hat. Nahe dem Empire State Building liegen sie
       in den frühen Morgenstunden zu Dutzenden auf den Gehwegen. „Unsheltered“
       nennen das die Amerikaner*innen. Oder „rough sleeping“ – raues Schlafen.
       
       Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller
       Metropolen. Als Redakteurin für Soziales habe ich schon einiges darüber
       geschrieben, vor allem über die Zustände in Berlin. Auch weil es mir
       schwerfällt, vorbeizugehen.
       
       In Berlin, in Deutschland, in halb Europa gilt Housing First inzwischen als
       zentral, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Dies bis 2030 in aller
       Ernsthaftigkeit zu versuchen, haben die Länder der Europäischen Union
       einander 2021 in der Lissabonner Erklärung versprochen. Vielleicht, so
       dachte ich, lässt sich am Ort des Beginns und des Scheiterns und mit den
       Leuten, mit denen alles anfing, ergründen, wie Housing First wirklich
       gelingen kann und ob es der Schlüssel zur Genesung ist.
       
       Sam Tsemberis ist der erste, mit dem ich spreche. Vor einigen Monaten hat
       das Time Magazine den griechisch-kanadischen Psychologen zu einem der 100
       einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Sam Tsemberis ist der Erfinder
       von Housing First.
       
       „Es geht nicht nur um die Obdachlosen, es geht um uns.“ Das ist einer der
       ersten Sätze, die Tsemberis zu mir sagt. In den Achtzigern arbeitete er in
       der Psychiatrie des New Yorker Bellevue Hospitals, einem der größten
       Krankenhäuser der USA, mit Menschen, die als schwer krank gelten. Er wohnte
       nur ein paar Blöcke von der Klinik in Midtown Manhattan entfernt; auf dem
       Weg traf er seine Patient*innen in zunehmender Verwahrlosung auf der
       Straße wieder. „Sie trugen zum Teil noch ihren blauen Krankenhauspyjama,
       absolut verstörend“, sagt Tsemberis. Er verließ das Krankenhaus, um mit
       obdachlosen Menschen zu arbeiten. In einem Van besuchten er und zwei
       Kollegen die Menschen auf der Straße.
       
       ## Was brauchen Menschen auf der Straße?
       
       Viel anzubieten hatten sie nicht: Die Psychiatrie oder eine der
       Massenunterkünfte für Obdachlose, mit hunderten von Betten. Kaum
       auszuhalten für einen stabilen Menschen, unvorstellbar für jene mit
       Ängsten, Panikattacken, Wahnvorstellungen. Ich muss an Berlin denken, als
       Tsemberis das erzählt. Auch hier harren viele obdachlose Menschen noch in
       der bittersten Kälte aus: Bloß nicht in die Notunterkunft.
       
       Die bisherigen Ansätze seien einfach nicht gut gewesen, sagt Tsemberis.
       Herumzulaufen, mit den Leuten zu reden und zu entscheiden, welche Hilfen
       gut für sie sind. In einem Hilfesystem, in dem Obdachlose sich erst
       beweisen mussten: Therapie machen, Medikamente regelmäßig nehmen, „clean
       werden“, dann vielleicht irgendwann eine Wohnung. „Wir mussten anders
       arbeiten, also haben wir die Leute einfach gefragt, was sie brauchen.“
       
       Das klingt so unerhört simpel. Ist es nicht das, was
       Sozialarbeiter*innen immer tun? Und ist es nicht so, dass manche
       Menschen, gerade die psychisch erkrankten, diese Frage nicht mehr
       beantworten können? Tsemberis sagt: „Wenn man obdachlose Menschen ernsthaft
       fragt, was sie brauchen, dann kommt eine Antwort fast immer zuerst“ – egal,
       ob diese Menschen Stimmen hören, suchtkrank sind oder völlig verwahrlost
       aussehen. „Eine Wohnung.“ Housing First. So simpel ist das. Dieses
       Bedürfnis erfüllte nur niemand.
       
       In einem Tagestreff in Midtown Manhattan, in dem obdachlose Menschen sich
       aufwärmen, etwas essen, ihre Wäsche waschen konnten, begann 1992 die Arbeit
       der Organisation Pathways to Housing, die Geburtsstunde von Housing First.
       Die Menschen brauchten Wohnungen, und Sam Tsemberis und sein Team waren
       gewillt, sie ihnen zu beschaffen. So wie zuvor eine Decke oder eine warme
       Mahlzeit.
       
       Nun glaube bitte keine*r, man drückt einem drogenabhängigen Menschen, der
       seit Jahren auf der Straße lebt, einfach einen Schlüssel in die Hand. Diese
       Mieter*innen sind zum Teil schwierig, unbeliebt bei Vermieter*innen.
       Dass überhaupt so viele von ihnen auf der Straße gelandet sind, liegt
       daran, dass im aufstrebenden New York der Siebziger und Achtziger die
       lausigen, heruntergekommenen Appartements verschwanden, die für wenig Geld
       jede*n aufnahmen. Die Vermieter*innen fanden schlicht lukrativere Wege
       der Vermarktung – und das würde sich in den kommenden Jahrzehnten nie mehr
       ändern, nur verschärfen.
       
       ## Eine einfache Rechnung
       
       Parallel hatte die Reagan-Regierung in den Achtzigern dem Bau von
       Sozialwohnungen eine radikale Absage erteilt und Bundesmittel gestrichen.
       Und die Psychiatrien, die noch in den Sechziger Jahren Menschen mit
       psychischen Erkrankungen dauerverwahrten, reformierten sich dank der
       Antipsychiatriebewegung. Ohne Lebensort übrig blieben allerdings die, die
       kein soziales Netz aus Familie und Freund*innen auffing.
       
       ‚Housing First‘ sei nicht ‚Housing Only‘, sagt Tsemberis. Die Menschen, die
       mit Pathways to Housing eine Wohnung fanden, wurden auf unbestimmte Zeit
       begleitet. Das Geld für die Miete und für die sozialpsychologische
       Betreuung kam von der Stadt. Tsemberis macht eine einfache Rechnung auf,
       die auch in Europa gern bemüht wird: Ein Platz in einer Psychiatrie kostet
       rund 300.000 US-Dollar im Jahr und bringt meist keine nachhaltige
       Veränderung. „Für das gleiche Geld können zehn Menschen mit Unterstützung
       in ihrer eigenen Wohnung leben“, sagt Tsemberis. Das ließ sich von der
       kommunalen bis zur nationalen Ebene sowohl demokratischen als auch
       republikanischen Politiker*innen verkaufen.
       
       New York, diese Stadt mit tausenden obdachlosen Menschen – wie viele davon
       kann Housing First in Wohnungen bringen? Es sei nie um Zahlen gegangen,
       sagt Tsemberis. Jedenfalls nicht für ihn. „Ich wollte wissen, ob und wie
       der Ansatz funktioniert.“ Von Anfang an wurde das Projekt wissenschaftlich
       begleitet. Eine der langjährigen Forscher*innen ist Ana Stefančić von
       der Columbia University.
       
       Es sei fast ironisch, sagt Stefančić. Eine Art Missverständnis. Wenn es
       heute um Housing First gehe, dann vor allem um die Wohnungen und um die
       Beendigung von Obdachlosigkeit. Dabei sei das doch der einfachste Teil.
       „Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach
       tun“, sagt Stefančić. Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine
       Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften. Ich muss an Finnland denken. Bis
       2027 sollen dort alle Langzeitwohnungslosen mit Wohnungen versorgt sein,
       die Finnen sind schon jetzt sehr nah dran. [1][Auch sie nennen das Housing
       First und sind damit so erfolgreich, dass manche denken, da käme das
       Konzept her.]
       
       ## Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
       
       Die Finnen haben über alle politischen Lager hinweg entschieden, keine
       Wohnungslosigkeit mehr hinzunehmen. Sie schließen die
       Wohnungslosenunterkünfte und bieten den Menschen stattdessen Appartements
       an. Absolut bemerkenswert ist das. Anders als im New Yorker Modell ist aber
       der Ausgangspunkt die Versorgung Wohnungsloser mit Wohnungen, nicht die
       sozialpsychologische Begleitung obdachloser Menschen. Gerade mit der Gruppe
       der psychisch schwer Erkrankten haben sie in Finnland ihre Probleme.
       
       In New York und in ihrer Forschung, erzählt Stefančić, sei es immer darum
       gegangen, ob und wie Housing First für diese Menschen die Chancen auf ein
       erfüllteres Leben erhöhen kann. Die fehlende Wohnung ist das
       Offensichtlichste, was dem im Wege steht. Aber bei weitem nicht das
       einzige. 242 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und
       Drogenkonsum hatten in den ersten fünf Jahren über Pathways to Housing
       eine Wohnung in New York gefunden.
       
       Über 80 Prozent lebten auch noch ein Jahr später darin. Das Projekt war
       deutlich erfolgreicher als vergleichbare Initiativen. Es war der Beweis,
       der inzwischen noch viele Male erbracht wurde: Dass die Menschen, denen man
       es am wenigsten zutraut, an denen wir auf der Straße vorbeigehen und allzu
       selten in deren Gesichter schauen, die meist schon als Kinder nicht viel
       anderes als Vernachlässigung erlebt haben, dass es für diese Menschen mit
       der richtigen Unterstützung Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben gibt.
       
       Warum das so wichtig ist – für uns genauso wie für diese Menschen –
       ergründe ich mit Kim Hopper. Hopper ist Anthropologe, an der Columbia
       University forscht und lehrt er zu dem, was den Menschen zum Menschen
       macht. Mit ihm, so hörte ich immer wieder bei meiner Recherche, müsse ich
       unbedingt sprechen, wenn es um Obdachlosigkeit in New York geht.
       
       „Weil ich einer der Dinosaurier bin“, sagt Hopper. Bereits Ende der
       Siebziger, noch als Student, war er in das legendäre Gerichtsverfahren
       verwickelt, das 1981 zu New Yorks „right to shelter“ – dem Recht
       obdachloser Menschen auf Unterbringung – führte. Dieses Recht wurde zwar
       kürzlich für erwachsene Migrant*innen beschränkt, aber es bleibt bis
       heute bemerkenswert in einem Land, in dem anderswo ganze Zeltstädte voller
       obdachloser Menschen existieren.
       
       ## Das bittere Ende des American Dream
       
       „Aber schon zehn Jahre später waren wir frustriert“, sagt Hopper. Zwar gab
       es in der ganzen Stadt Notunterkünfte, aber ein „shelter“ ist kein Zuhause.
       Es blieb ein Verharren in Notlösungen, die aus Obdachlosigkeit nur
       Wohnungslosigkeit machten. Und mit der eben die Menschen, für die
       Notunterkünfte nicht in Frage kamen, auf den Straßen verwahrlosten. Als
       junger Mann, frisch in New York, erzählt Hopper, sei er erst entsetzt
       gewesen über die Zustände und dann auch abgestumpft. Vielleicht ist
       Obdachlosigkeit doch ein unvermeidbares Großstadtphänomen? Als
       Wissenschaftler, der mit obdachlosen Menschen und psychisch Erkrankten
       arbeitet, habe er dann begriffen, dass der Fehler nicht bei diesen Menschen
       liegt, sondern in deren Behandlung.
       
       Bis heute denken viele anders, und vielleicht ist das der wahre Grund,
       warum wir Obdachlosigkeit überhaupt hinnehmen können. In den Vereinigten
       Staaten ist es eben das bittere Ende des American Dream. Diese Menschen
       hätten es einfach nicht geschafft, sich nicht genug angestrengt, seien faul
       oder schwach. Auch in Berlin habe ich ähnliche Argumente gehört, die uns
       die Verantwortung vom Leib halten. Als hätten alle die gleichen
       Möglichkeiten, es „zu schaffen“. Menschen, die in Heimen aufwuchsen,
       Missbrauch erfahren haben, als junge Erwachsene trotz aller Traumatisierung
       sich selbst überlassen sind.
       
       Nicht alle werden psychisch krank. Und nicht alle landen auf der Straße.
       Aber es sind fast immer die mit den wenigsten Chancen von Kindheit an. Die,
       für die die Gesellschaft schon in frühen Jahren nicht die passende Hilfe
       gefunden hat. Die aus unaushaltbaren Zuständen fliehen, um irgendwie zu
       überleben. Obdachlosigkeit ist wie eine Störungsmeldung, sagt Hopper. Eine
       verlässliche Anzeige für soziale Probleme in einer Gesellschaft.
       
       „Jedes Mal, wenn wir an einem Menschen, der ganz offensichtlich Hilfe
       braucht, vorbeigehen, ohne zu helfen, passiert etwas in unserem Körper“,
       sagt Hopper. Eine schmerzvolle, unbewusste Botschaft, selbst wenn wir
       Obdachlosigkeit ablehnen. Eine „moralische Verletzung“, nennt es Hopper.
       Als in den Siebzigern und Achtzigern in New York Obdachlosigkeit immer
       sichtbarer wurde, hätten die Menschen noch aufgestöhnt – unmöglich könne
       eine zivilisierte Gesellschaft auf diese Weise leben! „Und 40 Jahre später
       leben wir noch immer damit“, sagt Hopper. Wie das sein kann und welchen
       Preis wir dafür zahlen, diskutiert der Anthropologe in einem seiner
       nächsten Seminare.
       
       ## Keine bezahlbaren Wohnungen
       
       Housing First in New York verfolgte erfolgreich eine andere, eine
       menschliche Perspektive. Es hatte seine Blütezeit zwischen Mitte der
       Neunziger und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Dann begannen die Probleme.
       Er habe die Organisation in die Hände der falschen Leute gelegt, sagt
       Tsemberis. Die bezahlten die Mieten nicht rechtzeitig, die
       Vermieter*innen kündigten die Verträge auf, die staatlichen Zuschüsse
       blieben aus. 2015 meldete Pathways to Housing New York Insolvenz an. Der
       Organisation sei es nicht gelungen, das New Yorker System zu ändern, sagt
       Tsemberis. Heute gibt es zwar noch Projekte, die mit Housing First werben.
       Aber das ganze System der Obdachlosenhilfe müsse sich an die Idee von
       Housing First anpassen, um nachhaltig zu sein, sagt auch Wissenschaftlerin
       Stefančić. „Das ist in New York nie passiert.“
       
       Kim Hopper sagt, das Modell könne nur mit vier Erfolgsfaktoren überleben:
       Eine verlässliche sozialpsychologische Betreuung für die Klient*innen,
       zuverlässige Mietzahlungen, Rückendeckung für die Mieter*innen bei den
       Vermieter*innen. Und vor allem: Ausreichend kleine und bezahlbare
       Wohnungen. Das, sagt Hopper, sei der wesentliche Punkt, an dem New York und
       andere US-amerikanische Städte inzwischen scheiterten. „Angesichts des
       allgemeinen Zustands des Wohnungswesens in den USA könnte die große Zeit
       für Housing First hier vorbei sein.“ Selbst wenn noch ein paar Wohnungen
       für die Ärmsten der Armen aus dem System gewrungen werden: Ohne
       tiefgreifende Veränderungen im Wohnungswesen, sagt Hopper, würden immer
       wieder Obdachlose nachkommen.
       
       Immerhin hat das Konzept Housing First schon früh Ableger, den ersten in
       der Hauptstadt Washington D.C., wo Pathways to Housing bis heute existiert
       und seit 2004 rund 900 Menschen auf ihrem Weg aus der Obdachlosigkeit
       unterstützt. Im Laden einer Fastfoodkette treffe ich hier auf den
       46-jährigen Jamal. In der blauen Pathways-Jacke sitzt er an einem der
       hinteren Tische und wartet. Mit rund 20 Obdachlosen kommt er so jede Woche
       ins Gespräch. Sie wissen, dass er hier sein wird.
       
       Jamal lebte vor 12 Jahren noch selbst auf der Straße. „Drogen und all das
       Zeugs“, sagt er. Jamal hat einen langen Weg hinter sich, nichts davon war
       einfach. Aber er hat Unterstützung gehabt. Seit drei Jahren arbeitet er für
       Pathways. Auch das halte ihn aufrecht, sagt er. Immer wieder besucht Jamal
       Menschen in ihrem Zuhause nach Jahren der Obdachlosigkeit. „Schau, das ist
       mein Bett, das ist meine Dusche“, sagen sie dann.
       
       ## Wie sieht es in Deutschland aus?
       
       Nach Städten in den USA wurde das Konzept nach Kanada und Europa
       exportiert. Gründer Tsemberis reist seitdem durch die ganze Welt,
       inzwischen bis nach Brasilien, für Gespräche und Vorträge. Das Scheitern in
       New York sei bis heute traumatisch für ihn. Dass die Idee, die hier geboren
       wurde, inzwischen Kinder in der ganzen Welt habe, in dutzenden Städten
       Hoffnung schüre, tröste dagegen. Für obdachlose Menschen in den USA aber
       sieht auch Tsemberis keine guten Zeiten: „Unter Trump werden wir nur
       ‚Housing Last‘ bekommen“.
       
       Einen Vorgeschmack lieferte vor wenigen Monaten ein Urteil des Supreme
       Court: Die (dank Donald Trumps erster Amtszeit als US-Präsident)
       konservative Mehrheit der obersten Richter*innen entschied, dass
       obdachlose Menschen für das Campieren auf öffentlichen Plätzen bestraft
       werden dürfen.
       
       Aber sind die Zeiten für Großstädte in Deutschland und Europa bessere? Kann
       Housing First hier gelingen und was bedeutet das für das hehre Ziel,
       Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden?
       
       Housing First ist ein Konzept für ein lebenswertes Leben, nicht nur für die
       Versorgung mit Wohnungen. Es ist in der Lage, Lebensperspektiven für die zu
       eröffnen, die keine mehr zu haben scheinen. Das zeigen die Erfahrungen aus
       New York. Housing First kann scheitern, wenn es nicht richtig ausgestattet
       wird, wenn Wohnen und sozialpsychologische Begleitung nicht von Beginn an
       zusammen gedacht werden, wenn Mieten so teuer werden, dass sie von
       staatlichen Zuschüssen nicht mehr bezahlbar sind und wenn die Grundidee,
       dass Empfänger*innen von Hilfen selbst am besten wissen, was sie
       brauchen, missachtet wird. Auch das zeigen die Erfahrungen aus New York.
       
       Ich denke an Berlin mit den steigenden Mieten und der immer wieder
       verhandelten Frage, wie viel Mietenregulierung es geben darf, wie viel in
       den sozialen und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau investiert werden soll.
       Auch hier verzweifeln Sozialarbeiter*innen daran, dass sie einer
       wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen auf der Straße kaum etwas
       anzubieten haben. Housing-First-Pionierprojekte haben zwar seit 2018 rund
       230 obdachlosen Menschen ein Zuhause ermöglicht. Aber für die
       „schwierigsten“ Fälle, die es am meisten nötig haben, sind sie nicht
       ausgestattet.
       
       ## Es braucht politischen Willen
       
       [2][Ich denke an Berlin, wo es so viele Projekte und Organisationen in der
       Obdachlosenhilfe gibt], dass kaum eine*r den Überblick behält. Ziehen die
       wirklich an einem Strang, eint die tatsächlich eine gemeinsame Idee?
       
       Und ich denke an Berlin in Zeiten knapper Kassen, die die Menschen noch
       mehr spalten, in die da oben und die ganz unten.
       
       Eine Genesung für die chronische Krankheit Obdachlosigkeit, das wird für
       mich nach meiner Reise nach New York noch klarer, kann es nur mit einem
       sozialen Wohnungswesen geben. In der Zwischenzeit bewahren wir uns mit
       ernsthaft betriebenem Housing First ein Stück Menschlichkeit. Indem wir ein
       Angebot für die Menschen schaffen, die Unterstützung am dringendsten nötig
       haben. Für beides, ein konsequent soziales Wohnungswesen und ausreichend
       ausgestattetes Housing First, sind politische Entscheidungen nötig. Die
       wird es nur geben, wenn genügend Menschen danach verlangen. Immerhin liegen
       noch keine 40 Jahre der Gewöhnung an eigentlich Unaushaltbares hinter uns.
       Wie in New York.
       
       Als ich in den frühen Morgenstunden aus den USA zurück nach Berlin komme,
       tragen die wenigen Leute auf der Straße dicke Mützen. Auf einer Bank nahe
       der Frankfurter Allee liegt ein Mensch, das Gesicht im Schlafsack
       verborgen. Sein Rollstuhl steht neben ihm.
       
       Ein Mensch, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, schläft auf der Straße.
       In der Nacht waren es fast null Grad.
       
       Da ist er, der Schmerz, den Kim Hopper „moralische Verletzung“ nennt. „Wir
       brauchen mehr Menschen, die das spüren“, hat Hopper gesagt.
       
       Manuela Heim ist taz-Redakteurin für Gesundheit und Soziales. Ihre
       US-Recherche wurde durch das [3][Daniel-Haufler-Stipendium] der [4][taz
       Panter Stiftung] ermöglicht.
       
       4 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Housing-first-in-Finnland/!5914243
   DIR [2] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697
   DIR [3] /taz-Panter-Stiftung-USA-Stipendiatinnen/!vn6044493/
   DIR [4] /Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/
       
       ## AUTOREN
       
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       Finnland hat das Vorgehen gegen Obdachlosigkeit umgedreht: Die neue Wohnung
       ist Anfang, nicht Ende der Reintegration. Ein Modell?