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       # taz.de -- Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Ein Fall für radikale Reformen
       
       > Die Öffentlich-Rechtlichen erstarren in absurden Strukturen. Nur: Statt
       > über Reformen wird hauptsächlich über Skandale diskutiert.
       
   IMG Bild: Die zwei neuen Übertragungswagen des Süddeutschen Rundfunks werden 1957in Betrieb genommen
       
       Ersparen wir uns die Plattitüde: Wenn es ihn nicht gäbe, müsste man ihn
       erfinden. Stellen wir besser nüchtern fest: Nur Verrückte würden ihn so
       erfinden, wie er heute in Deutschland ist. Schon sein Etikett
       „[1][öffentlich-rechtlich]“ ist irreführend. Was manchen als
       Qualitätsmerkmal erscheint, ist tatsächlich nur die Rechtsform. Auch die
       Berliner Stadtreinigung ist öffentlich-rechtlich, die Oper in Zürich
       dagegen eine Aktiengesellschaft. Der wesentliche Unterschied zum „privaten“
       Rundfunk liegt in der Finanzierung: werbefinanziert und kommerziell versus
       gemeinschaftsfinanziert und zu gesellschaftlichem Nutzen verpflichtet.
       
       Gesellschaftlicher Nutzen kann aber nur entstehen, wo gesellschaftliche
       Nutzung stattfindet. Auch der ÖRR muss Quote machen, sonst fehlt ihm
       gesellschaftliche Legitimation. Dabei muss ein sparsamer Umgang
       selbstverständlich sein mit den fast 8,5 Milliarden Euro, die für ARD, ZDF
       und Deutschlandfunk aufgebracht werden, und nicht minder für die rund 400
       Millionen, die aus Steuergeldern für die Deutsche Welle (DW) bereitgestellt
       werden.
       
       ARD, ZDF, [2][Deutschlandfunk] und DW – das sind vier öffentliche Systeme
       mit nicht weniger als zwölf öffentlich-rechtlichen Anstalten, denn die ARD
       ist nicht eine Anstalt, sondern eine Arbeitsgemeinschaft von neun
       Landesrundfunkanstalten und dem separat finanzierten Sender DW. Die
       Landesrundfunkanstalten sind dabei von so unterschiedlicher Größe und
       Finanzkraft, dass es zu markanten Leistungsunterschieden kommt.
       
       ## Wellen, für wen?
       
       Obwohl alle Haushalte einen einheitlichen Rundfunkbeitrag zu zahlen haben,
       fallen die Gegenleistungen höchst unterschiedlich aus. Der WDR versorgt NRW
       mit elf Ausgaben des TV-Magazins „Lokalzeit“ sowie einer landesweiten
       Regionalsendung. Der NDR bietet für Niedersachsen nur ein Regionalmagazin,
       das Wolfsburg und Wilhelmshaven gleichermaßen versorgen soll. Die Hörer von
       Radio Bremen bekommen vier Hörfunkwellen von ihrem Sender, der MDR liefert
       zehn – und eine halbe für die sorbische Minderheit.
       
       Betrachtet man die Versorgung auch unter soziodemografischen
       Gesichtspunkten, so fallen zahlreiche Jugendwellen im Radio und Online auf,
       denen kaum Vergleichbares für das Publikum über 50 gegenübersteht. Auch
       wenn diese Zielgruppe als einzige zuverlässig wächst, sind Rollatorthemen
       in den Redaktionen quasi tabu.
       
       Zuletzt hat die ARD einige Schlagerwellen gestartet. Ein Gegengewicht zum
       traditionell starken Engagement des ÖRR für die Hochkultur: Seit 1923
       unterhält der deutsche Rundfunk eine Vielzahl von Chören und Orchestern,
       das älteste in Leipzig. Die Orchester der ARD sind Perlen der
       Kulturlandschaft – für die Programme aber sind sie so entbehrlich wie
       eigene Schauspielensembles oder Fußballmannschaften. Es würde nicht eine
       Sekunde Programm ausfallen, wenn es diese Orchester nicht gäbe. Eigentlich
       müssten sie von Stadt und Land finanziert werden. So aber sponsern die
       Gebührenzahler das regionale Kulturangebot. Nebenbei: Die BBC kommt mit
       fünf Ensembles aus, der französische Rundfunk mit zwei, Österreich mit
       einem.
       
       Besonders schlecht ist das Angebot für Menschen ohne Deutschkenntnisse.
       Auch sie müssen zahlen, werden aber als Fernsehnutzer nicht gezählt. Das
       repräsentative Fernseh-Panel für die Quotenermittlung umfasst mindestens
       5.400 Haushalte, aber nur solche, bei denen es einen „deutschsprachigen
       Haupteinkommensbezieher“ gibt. Entsprechend schlecht fällt das Angebot für
       diejenigen aus, die kein Deutsch sprechen. Zwar gibt es ein regelmäßiges
       Magazin für die sorbische Minderheit bei RBB und MDR, doch ähnliche
       Angebote auf Türkisch, Polnisch oder Syrisch gibt es nicht.
       
       ## Historische Zufälle
       
       Krass sind auch die Unterschiede in der Bezahlung. Obwohl überall derselbe
       Beitrag gezahlt wird, fällt die Entlohnung der Beschäftigten sehr
       unterschiedlich aus. Der WDR-Intendant bekommt ein Gehalt von 413.000 Euro,
       sein Kollege beim Saarländischen Rundfunk 245.000 Euro. Ein tagesaktueller
       3-Minuten-Beitrag für die Berliner „Abendschau“ wird mit 331 Euro
       honoriert, beim WDR sind es laut Honorarrahmen 725 Euro. Bei
       Deutschlandfunk und ZDF – beide unterhalten Studios in allen Bundesländern
       – gibt es derartige Differenzen nicht.
       
       Die großen Unterschiede sind historische Zufälle: Die Amerikaner wollten
       nach dem Krieg in ihrer Besatzungszone ohne Meereszugang einen
       Überseehafen. So kamen Bremerhaven und Bremen zur amerikanischen Zone und
       zu einem eigenen Sender. Ähnlich im Saarland, das erst durch Volksentscheid
       1955 zur Bundesrepublik stieß und selbstbewusst einen eigenen Sender
       etablierte für gerade mal eine Million Einwohner. Hamburg fiel der Verzicht
       auf ein eigenes Funkhaus leicht, wurde es doch Sitz des Senders für die
       gesamte britische Zone, des Nordwestdeutschen Rundfunks, später aufgeteilt
       in NDR und WDR. Der NWDR versorgte zunächst auch Westberlin, bis dort 1953
       der Wunsch nach einem eigenen Sender übermächtig und in Form des Senders
       Freies Berlin Realität wurde.
       
       Politischer Wille führte auch zum ZDF. Das Bundesverfassungsgericht hatte
       Kanzler Adenauers Plan, einen bundesweiten Sender zu gründen, gestoppt,
       weil Rundfunk laut Grundgesetz Ländersache ist. Also übernahmen die Länder
       die Gründung einer neuen Rundfunkanstalt für das zweite Programm. Die
       dritten Programme wurde dann wieder den ARD-Häusern zugewiesen. Allerdings
       waren diese erst einmal nur im jeweiligen Sendegebiet zu sehen. In Kabel-
       und Satellitenzeiten aber sind alle Dritten überall zu sehen und die
       fehlende Profilbildung jenseits des Regionalen fällt ins Auge: „Tatort“
       rund um die Uhr und überall.
       
       ## Radio an der Grenze
       
       Der Deutschlandfunk durfte zunächst nicht für die Bundesbürger senden,
       sondern fast nur entlang der Zonengrenze in die DDR und nach Osteuropa. Mit
       der DDR endete auch diese Mission, nicht aber der Deutschlandfunk. Die
       Länder verständigten sich auf die bundesweite Fortsetzung des Betriebs und
       eine eigenständige Anstalt mit Sitz in Köln. Und es kam gleich noch ein
       Kanal hinzu: Aus dem abgewickelten US-Sender RIAS Berlin und dem
       abgewickelten Deutschland-Sender der DDR wurde mit Sitz in Berlin der
       heutige Deutschlandfunk Kultur.
       
       Nach der Wende wurde auch der übrige DDR-Funk abgewickelt, wobei in
       erheblichem Maß Programme und Personal bei den neuen ostdeutschen
       ARD-Anstalten ORB (für Brandenburg) und MDR (für Sachsen, Sachsen-Anhalt
       und Thüringen) wieder auftauchten. Der Versuch, damals mit
       Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg eine Nordostdeutsche
       Rundfunkanstalt (NORA) zu gründen, scheiterte – wohl am besseren Angebot,
       das der NDR der Landespolitik in Schwerin unterbreitete.
       
       Die DW war 1960 zur eigenständigen Anstalt erwachsen. Drei Jahrzehnte lang
       war sie ein reiner Radiosender mit Sitz am Rhein und Programmen für das
       Ausland. Im Jahr 1992 wurde RIAS-TV übernommen, sodass heute DW-TV von
       Berlin aus in Arabisch, Englisch, Spanisch und teilweise auch in Deutsch
       für die weite Welt sendet. Während die BBC all ihre Radio- und
       Fernsehprogramme, auch jene fürs Ausland, unter dem Dach eines einzigen
       Unternehmens produziert, mit einem einzigen (hochbezahlten) Generaldirektor
       und einer einzigen Verwaltung, sind in Deutschland zwölf Anstalten mit
       zwölf Intendanten und zwölf Verwaltungen unterwegs.
       
       Die letzte Fusion (aus SFB und ORB wurde der RBB) ist fast 20 Jahre her.
       Eine ernsthafte Evaluation von Programmen und Profil aller Sender hat es
       noch nie gegeben. Rundfunkpolitik in Deutschland ist extrem
       strukturkonservativ – auch weil die Länder, vertreten durch ihre
       Ministerpräsidenten, sich nur im Konsens bewegen können. Dabei schreit der
       öffentliche Rundfunk geradezu nach radikalen Reformen. Doch die bleiben
       aus: Skandale und die lächerliche Debatte über den Rundfunkbeitrag lenken
       von den zentralen Themen ab: bessere Programme, effizientere Strukturen,
       wirksame Kontrolle.
       
       11 Oct 2022
       
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