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       # taz.de -- Offener Brief an Emmanuel Macron: Kein Gehör für Alarmrufe
       
       > Die Autorin Annie Ernaux kritisiert den französischen Präsidenten: Die
       > Coronakrise zeige, dass sein neoliberaler Sparkurs der falsche Weg sei.
       
   IMG Bild: Annie Ernaux schreibt vor allem autobiographisch geprägte Werke – und kritische Briefe
       
       „Monsieur le Président,
       
       Ob Sie sich wohl bequemen / Ob Sie die Zeit sich nehmen / Und lesen meinen
       Brief“. Als Literaturfan werden Sie diese Zeilen sicherlich erkennen. So
       beginnt das Lied [1][„Der Deserteur“ von Boris Vian], geschrieben 1954, in
       der Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg.
       
       Wir befinden uns heute jedoch nicht im Krieg, [2][auch wenn Sie ihn erklärt
       haben], denn der Feind ist nicht menschlich, er ist nicht unseresgleichen,
       er verfügt weder über Gedanken noch über den Willen zu schaden, er beachtet
       weder Grenzen noch gesellschaftliche Unterschiede, er reproduziert sich
       blind, indem er von einem Menschen zum anderen überspringt. Unsere Waffen,
       da Sie auf Kriegsrhetorik solchen Wert legen, sind in diesem Fall
       Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Schutzmasken und Tests, es ist die Zahl
       der Ärzte, Wissenschaftler und Pflegenden.
       
       Seit Sie an der Spitze Frankreichs stehen, haben Sie den [3][Alarmrufen aus
       dem Gesundheitssektor allerdings kein Gehör geschenkt], und die Parole, die
       man bei einer Demonstration im letzten November auf einem Transparent lesen
       konnte – „Der Staat zählt sein Geld, wir werden die Toten zählen“ – hat
       heute einen tragischen Beiklang.
       
       Doch Sie wollten lieber auf diejenigen hören, die für einen Rückzug des
       Staates warben und eine Optimierung der Ressourcen, eine Regulierung der
       Ströme empfahlen, dieser ganze fleischlose Technokratenjargon, der nur von
       der Wirklichkeit ablenken soll. Doch schauen Sie, es sind die Menschen im
       öffentlichen Dienst, die im Augenblick mehrheitlich das Land am Laufen
       halten: die Krankenhäuser, die Schulen mit ihren tausenden schlecht
       bezahlten Lehrern und Erziehern, der Stromversorger EDF, die Post, die
       Métro und die Bahn.
       
       Und diejenigen, von denen Sie unlängst behaupteten, sie seien nichts
       geworden, bedeuten (uns) jetzt alles, da sie weiterhin die Mülleimer
       leeren, an der Kasse sitzen, Pizzas ausliefern und damit das Leben
       aufrechterhalten, das ebenso unentbehrlich ist wie das intellektuelle: das
       tägliche, praktische Leben.
       
       Merkwürdig, dass Sie von „Resilienz“ sprechen, denn dieser Begriff
       bezeichnet eigentlich die Erholung von einem Trauma. So weit sind wir noch
       nicht. Herr Präsident, achten Sie auf die Folgen dieser Zeit der
       Ausgangssperre, dieser Umkehrung des Laufs der Dinge. Die Zeit ist günstig,
       Dinge infrage zu stellen. Eine Zeit, um sich eine neue Welt zu wünschen.
       Nicht die Ihre! Nicht die Welt, in der Entscheider und Banker bereits ohne
       jede Scham die Litanei von längeren Arbeitszeiten anstimmen, bis zu 60
       Stunden pro Woche.
       
       Wir sind viele, die eine Welt nicht mehr wollen, deren eklatante
       Ungleichheiten die Epidemie enthüllt. Wir sind viele, die dagegen eine Welt
       wollen, in der die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse – gesunde
       Ernährung, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Bildung, Kultur – für jeden
       gesichert ist; die Möglichkeit einer solchen Welt zeigt sich gerade in der
       aktuellen Solidarität untereinander.
       
       Herr Präsident, Sie sollten wissen, dass wir uns unser Leben nicht mehr
       stehlen lassen werden, wir haben nur dieses eine, und „nichts ist so viel
       wert wie das Leben“ – noch einmal ein Zitat aus einem Lied, diesmal von
       Alain Souchon. Wir werden uns auch unsere derzeit eingeschränkten
       demokratischen Rechte nicht auf Dauer nehmen lassen, wie das Recht, nach
       dem es gestattet ist, dass mein Brief – im Gegensatz zu Boris Vians Lied,
       das nicht im Radio gespielt werden durfte – heute Morgen in einem
       staatlichen Radiosender vorgelesen wird.
       
       Aus dem Französischen von Sabine Jainski 
       
       Quelle: France Inter, [4][Beitrag „Lettres d'intérieur“] von Augustin
       Trapenard in der Sendung „7/9“ vom 30.03.20, Annie Ernaux © Droits réservés
       
       1 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=gjndTXyk3mw
   DIR [2] /Corona-Ausgangssperre-in-Frankreich/!5672039
   DIR [3] /Coronavirus-in-Frankreich/!5675703
   DIR [4] https://www.franceinter.fr/emissions/lettres-d-interieur/lettres-d-interieur-30-mars-2020
       
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