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       # taz.de -- Oh, wie traurig ist Sansibar
       
       In elegant verknüpften Geschichten erzählt Abdulrazak Gurnah von
       postkolonialer Tragik
       
       Identität hört sich ja immer so langweilig an. Vor allem, wenn sie in Frage
       gestellt, wenn sie als durchlässig beschrieben wird. Schreib das über einen
       Roman, einen Film oder ein Stück Musik, und es klingt nach akademischer
       Pflichtübung: Spielt die Kunst im postkolonialen Feld, wird sie schnell zur
       Illustration der dazugehörigen Begriffsapparate. Ein Problem, denn im
       Grunde müsste es ja andersherum sein. Global gesehen ist das eurozentrische
       Normalitätsempfinden die Ausnahme, das Exotische. Und die wandernde
       Subjektivität, das Wandern zwischen den Welt, ist die Regel.
       
       Der britische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah ist ein brillanter Erzähler
       dieser Unsicherheit – wobei man britisch in Gurnahs Fall in einem sehr
       weiten Sinne verstehen muss. Geboren ist er 1948 in Sansibar, einer Insel
       vor der kenianischen Küste, seine Jugend fiel in eins mit der
       Unabhängigkeit 1963. Fünf Jahre später ging er nach England, wo er heute
       Literaturprofessor an der Universität Kent ist. Die komplexe Erfahrung der
       postkolonialen Migration ist Lebensthema.
       
       „Die Abtrünnigen“ ist sein sechster Roman, und er erzählt eine doppelte
       Liebesgeschichte. Da gibt es zum einen den britischen Orientalisten Pearce,
       der 1899 erschöpft im indischen Viertel einer südkenianischen Hafenstadt
       auftaucht; er war mit einer Jagdexpedition unterwegs und in der Wüste
       ausgeraubt worden.
       
       Ein Händler nimmt ihn auf, und Pearce verliebt sich in Rehana, die
       Schwester des Händlers. Eine unmögliche Liebe selbstverständlich, die beide
       in die benachbarte Stadt Mombasa treibt, aus der auch ein Kind hervorgeht,
       die aber schlussendlich scheitert.
       
       Und dann ist da die Familie des Erzählers Rashid, fünfzig Jahre später.
       Rashids Eltern sind Lehrer auf Sansibar, er selbst ein guter Schüler, und
       sein Bruder verliebt sich in Jamila, eine Enkelin von Rehana. Ebenfalls
       eine unmögliche Liebe, nicht weil sie quer zu den kolonialen
       Machtverhältnissen liegen würde – dass Jamilas Herkunft irgendwie
       fragwürdig ist, reicht der Familie aus, um ihren Sohn aus der Beziehung zu
       zwingen. Fünfzig Jahre Kolonialismus haben ausgereicht, um die
       Herrschaftsform so tief in die Seelen aller Beteiligten einzubrennen, dass
       das Drama des Postkolonialismus schon absehbar ist: der Umstand nämlich,
       dass der Abzug der britischen Kolonialmacht zwar vieles anders, aber wenig
       besser macht.
       
       Es sind viele Geschichten, die Gurnah in seinen Roman einflicht, die
       Tragödie der lokalen Bildungselite von Sansibar etwa, die sich in dem
       großen Versuch des britischen Bildungssystems bildet, das westliche Licht
       der Moderne auch für die Subalternen leuchten zu lassen. Als die Briten
       Sansibar verlassen, fallen Rashids Eltern rasch den postkolonialen
       Umwälzungen zum Opfer, ein Durcheinander, das im Großen befreiend sein mag,
       im Kleinen aber kein neues Bildungssystem an die Stelle des alten setzen
       kann. Rashid selbst, der Einzige, der sich retten kann, der begabte Sohn,
       geht zum Studium nach England, um in der dortigen Diskriminierung durch die
       Mitstudenten die Grenzen jenes Universalismus zu erfahren, in dem Glauben,
       mit dem er aufgewachsen ist.
       
       Gurnah verknüpft seine Geschichten durch ein elegantes Spiel der
       Projektionen: Zusammengereimtes und vom Erzähler Erlebtes beleuchten sich
       gegenseitig. Das ist kunstvoll und vor allem deshalb so überaus gelungen,
       weil es ausstellt, dass Identitäten sich ja genau so herstellen. Sie werden
       erzählt – und über dieses Erzählen entfalten sie ihre lebenspraktische
       Wirksamkeit.
       
       TOBIAS RAPP 
       
       Abdulrazak Gurnah: „Die Abtrünnigen“. Aus dem Englischen von Stefanie
       Schrader-de Vries. Berlin Verlag, Berlin 2006, 350 S., 22,90 Euro
       
       24 Feb 2007
       
       ## AUTOREN
       
   DIR TOBIAS RAPP
       
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