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       # taz.de -- Oper Jenůfa in Bremen: Jenseits der Relevanz
       
       > Leoš Janáčeks „Jenůfa“ spielt am Theater Bremen in der Zeit um 1989. An
       > Dringlichkeit gewinnt das Sozialdrama aus dem ländlichen Mähren dadurch
       > nicht.
       
   IMG Bild: Auch mit West-Cola wird die Hochzeit keine rauschende Party, wenn das Eis ein totes Kind freigibt
       
       Bremen taz | Woher kommt das Böse? Das wäre so eine grundsätzliche Frage,
       die sich aus „Jenůfa“ heraushören lässt. Bloß wie? In Bremen hatte die Oper
       am Samstag [1][in der Regie von Armin Petras] Premiere. Er hat das Stück
       rund 100 Jahre näher an die Gegenwart geholt: Spielort bleibt die milde,
       moravische Agrarlandschaft, Epoche aber ist ihm die Zusammenbruchs-Zeit um
       1989.
       
       Heißt: Wir sehen uns im Betrieb einer Landwirtschaftlichen
       Produktionsgenossenschaft statt aufm Gutshof. Und per Videoeinspielung sind
       Szenen vom Prager Wenzelsplatz zu sehen, in Schwarz-Weiß, Václav Havel
       mittenmang. Sorgt das für mehr Dringlichkeit?
       
       Sozialdramen haben den Vorteil und das Problem, diese direkt aus ihrer
       raum-zeitlichen Umgebung zu beziehen. Sprich: Ohne Leoš Janáčeks
       Veroperung, Uraufführung 1904, wäre Gabriela Preissovás Theaterstück „Její
       pastorkyňa“, 1890 nah dran an der naturalistischen Avantgarde, wohl genauso
       in Vergessenheit geraten [2][wie die Bühnenwerke Émile Zolas]. Aber vertont
       und unter dem etwas eingängigeren Titel „Jenůfa“, den Max Brod dem Drama
       zwecks internationaler Vermarktung schließlich gegeben hat, ist es
       kanonisch geworden.
       
       Gegenwärtig steht diese Dorfgeschichte von ungewollter
       Teenie-Schwangerschaft, verweigerter Vaterschaftsanerkennung und einem
       fürsorglichen Kindsmord durch die Stiefmutter zwecks Wiederherstellung der
       Heiratsfähigkeit ihrer Ziehtochter – Gaststar Ulrike Schneider vermag es,
       die ganze Tragik dieser Küsterin Buryja und ihres grausamen Mitleids
       zwischen Kalkül und Wahn auszuloten – weltweit auf zahllosen Spielplänen.
       
       ## Der Klang des Nationalismus
       
       Neuproduktionen gab’s seit 2021 in London, [3][Berlin], Cardiff, Wien und
       Genf, [4][Ende des Monats] kommt noch Rouen dran. Die Frage, was denn
       diesem Werk hier und fürs Jetzt Bedeutung verleiht, [5][konnte indessen
       auch die Bremer Produktion nicht klären].
       
       Stört es denn niemanden, dass der – von Luis Olivares Sandoval erschreckend
       leisetreterisch gesungene – Verehrer Laca, der die Titelfigur aus
       Eifersucht verstümmelt, zum Happy End als großer Liebender auftreten darf?
       Spielte am Ende die seltsame Sehnsucht nach einem [6][Nationalismus mit
       Herz] eine Rolle?
       
       Kaum. Dass sie es ist, die da aus der Musik klingt, den Anleihen an und
       Neufassungen von Volkslied und -tanz, ist lexikalisches Wissen. Statt sich
       ein versifiziertes Libretto zu beschaffen, hatte Janáček seinerzeit ganz
       auf die melodischen Eigenschaften von Preissovás Prosa gesetzt, die
       Rhythmen und Klänge des Tschechischen, um dessen überragende Musikalität zu
       demonstrieren.
       
       Nervt. Aber das hört man ihr nicht an: Die Musik, mit Finesse und
       unbändiger Verve zugleich von den Bremer Philharmonikern unter Leitung von
       Yoel Gamzou gespielt, als wären sie ein Weltklasse-Orchester, wischt locker
       die unangenehmen Intentionen ihres Schöpfers beiseite.
       
       Sie analysiert, unablässig vorantreibend, wühlend geradezu, den Konflikt.
       Sie legt einen Schmerz in ihm frei, den man gern altertümlich allgemein und
       menschlich nennen würde. Und sie bindet ihn idiomatisch zurück an eine
       extrem betriebsame aber in Tradition erstarrte Gesellschaft. Eine, die für
       Atemnot sorgt.
       
       In diese Beengung, deren Entsprechung man in der von Julian Marbach
       vollgerümpelten Bühne sehen mag, tritt Nadine Lehners raumgreifende, dunkel
       strahlende Stimme. Die kann in Akt eins noch immer so jungmädchenhaft
       klingen und spielen, wie es die Librettologik von der Titelpartie fordert.
       
       Und sie tönt am Ende ihres Leidenswegs unfassbar weise, dass sie schon
       verstehe, die Tat der Pflegemutter, alles nur aus Liebe, und quasi
       biblisch: „[7][Nezatracujte ji]!“, verurteilt sie nicht. Na, und da kannst
       du ja nur noch heulen, egal ob auf Tschechisch oder Deutsch, 1890, 1904
       oder 1989. Und mit so einer Jenůfa verliert die Frage nach der aktuellen
       Relevanz halt alle Relevanz.
       
       15 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Oper-Die-tote-Stadt-in-Bremen/!5593102
   DIR [2] https://libretheatre.fr/theatre-de-zola-naturalisme/
   DIR [3] /Premiere-in-der-Berliner-Staatsoper/!5746983
   DIR [4] https://www.opera-online.com/de/items/productions/jenufa-opera-de-rouen-normandie-2022-2007
   DIR [5] https://www.theaterbremen.de/de_DE/kalender/jenufa.16870049#critics
   DIR [6] https://www.jstor.org/stable/43996122
   DIR [7] https://books.google.de/books?id=EIJjDwAAQBAJ&pg=PA76&lpg=PA76&dq=Nezatracujte+ji&source=bl&ots=BuTKIEGKIS&sig=ACfU3U02ON15jwZjZZnyoH7gtMHJETxKQA&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjCjJXvo5P3AhVQP-wKHTVfBbsQ6AF6BAgjEAM#v=onepage&q=Nezatracujte%20ji&f=false
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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