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       # taz.de -- Ostdeutschland wählt rechtsradikal: Was, wenn alles nicht mehr hilft?
       
       > Die AfD holt den Osten – und lässt CDU und SPD abstürzen. In
       > Sachsen-Anhalt wird 2026 gewählt, es droht die erste AfD-Landesregierung.
       
   IMG Bild: Eine AFD Kundgebung in Burg (bei Magdeburg) mit Gegendemonstation, am 22.01.2024,
       
       Weißenfels/Berlin taz | Der Kreisverband der CDU schart sich am Wahlabend
       im Weißenfelser Jägerhof um Dieter Stier, die Blicke gehen zum Bildschirm
       mit den Zahlen. „Dass das so groß wird …“ Der 60-jährige CDU-Direktkandidat
       klingt fassungslos. „Die haben einen Kandidaten, der hat nichts
       präsentiert.“ Und so einer räumt ab, nicht hauchdünn, sondern im Triumph?
       Martin Reichardt, Landesvorsitzender der AfD und Stiers Gegenspieler, ist
       der Wahlkreis 72 sicher.
       
       Viermal hat Dieter Stier das Direktmandat im Süden Sachsen-Anhalts geholt.
       Ein fünftes Mal wird es nicht geben. Die AfD hat Stiers Revier geplündert,
       ebenso die anderen sieben Wahlkreise in Sachsen-Anhalt. Nicht anders bei
       den Zweitstimmen: Die AfD holt im Burgenlandkreis 44,4 Prozent, Spitzenwert
       für Sachsen-Anhalt, im ganzen Land sind es mehr als 37 Prozent. Die stolze
       „Sachsen-Anhalt-Partei“ kommt nur noch auf gut 19 Prozent und geht bei den
       Direktmandaten leer aus. 2017 holte sie noch alle. [1][Die CDU, die hier
       seit 23 Jahren regiert, seit 14 Jahren mit Reiner Haseloff], liegt am
       Boden.
       
       Und nicht nur in Sachsen-Anhalt, auch in den anderen ostdeutschen
       Flächenländern holt sie kein einziges Direktmandat mehr, bis auf drei
       gingen alle an die AfD. In Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern
       holte die AfD ebenso Zweitstimmenergebnisse von fast 40 Prozent. In der
       CDU, die sich im Osten als letzte Volkspartei versteht, ist die Unruhe
       groß. In Sachsen wird in einem aktuellen Brief von der [2][CDU-Basis die
       Brandmauer zur AfD wieder infrage gestellt] und Ministerpräsident Michael
       Kretschmer angezählt. Auch in Thüringen nennt die CDU das Wahlergebnis „ein
       Desaster“.
       
       Am dramatischsten aber ist die Lage in Sachsen-Anhalt. Denn hier stehen im
       Herbst 2026 Landtagswahlen an – und wenn es so bleibt, führt schon
       rechnerisch kein Weg mehr daran vorbei, dass die AfD erstmals Teil einer
       Landesregierung wird. Oder zumindest, dass eine Landesregierung von
       AfD-Stimmen abhängig wird, von einer Partei, die in Sachsen-Anhalt seit
       2023 als gesichert rechtsextrem eingestuft ist.
       
       ## Der AfD-Mann ist ein Phantom
       
       Als Dieter Stier 2009 zum ersten Mal kandidierte, gab es die AfD noch gar
       nicht. 2021 war es schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit AfD-Mann Reichardt,
       das Stier hauchdünn gewann. Nun hat Reichardt Stier gedemütigt und die
       ganze CDU gleich mit. Reichardt gab am Wahlabend die Richtung vor: „Unser
       Ziel ist ganz klar, den nächsten Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt zu
       stellen.“
       
       Martin Reichardt ist ein politisches Irrlicht aus Goslar, das schon einige
       Parteien „durchhat“, von SPD, FDP und Republikanern ist die Rede. Er steht
       dem völkischen „Flügel“ der AfD nahe, der offiziell nicht mehr existiert.
       Reichardt ist ein Phantom, das ganz woanders wohnt und das sich, sie
       schwören es alle im Raum, im Wahlkreis nie hat blicken lassen. Ihn
       hingegen, sagt Dieter Stier, könne man anrufen, seine Handynummer sei
       bekannt.
       
       Nun aber sind es auch AfD-Leute wie Christina Baum, die Sachsen-Anhalt im
       Bundestag repräsentieren. Die 68-Jährige gehört zu den Radikalsten,
       fabuliert über einen Genozid an den Deutschen und wurde zuletzt selbst von
       ihrem AfD-Landesverband in Baden-Württemberg nicht mehr aufgestellt.
       Woraufhin sie im Harz kandidierte und 39 Prozent holte. Oder Jan Wenzel
       Schmidt, eng verbandelt mit den rechtsextremen Identitären.
       
       Dieter Stier dagegen ist ein anerkannter Agrarpolitiker, einer, der von
       hier kommt, der die Menschen kennt und ihre Geschichten. Der sich, wie
       viele hier, noch erinnern kann, was „Wahlen“ in der DDR bedeuteten, und der
       deswegen die Demokratie umso mehr zu schätzen weiß. Und jetzt das?
       
       ## Die CDU gerät unter Druck
       
       „Wir brauchen ein Rezept für den Osten“, sagt Stier, der seit 1999 in der
       CDU ist und sich vom Kreistag zum Bundestag hochgearbeitet hat. Doch
       welches Rezept? Stier, der auch CDU-Kreisvorsitzender ist, wirkt ratlos.
       450 Mitglieder ist sein Kreisverband stark. Reicht das, um der AfD
       entgegenzutreten, einer Schimäre, die sich der Kommunalpolitik beharrlich
       verweigert, aber ihre Parolen aus vielen Handys brüllt? Die werden zur
       Landtagswahl im Herbst 2026 ganz sicher noch lauter.
       
       „Dann könnte das Land unregierbar werden“, unkt Götz Ulrich. Der Landrat
       des Burgenlandkreises hat sich im Jägerhof dazugesellt. Gewiss, die
       Ergebnisse der Wahl ließen sich nicht eins zu eins auf die Landesebene
       herunterbrechen, fährt CDU-Mann Ulrich fort. Doch müssten jetzt Lösungen
       her. Ulrich führt aus: Die Kommunen und Kreise ächzen unter den Schulden,
       unter überbordenden Gesetzen und Verordnungen, die der Bund den Kommunen
       aufbürdet, unter Personalmangel und fehlender Finanzierung. Und der Osten
       müsse in Berlin angemessen vertreten sein. Nicht mit einem
       „Ostbeauftragten“, der sowieso nicht bis zur Regierung durchdringe, sondern
       direkt am Kabinettstisch.
       
       Was aber, wenn trotz aller Lösungen die AfD bei der Landtagswahl
       triumphiert? Diese Frage wirft der Landrat selbst auf. Für einen Moment
       scheint Ulrich über seinen Gedanken erschrocken. Was, wenn alles nicht mehr
       hilft? [3][Wenn die vielen Hunderte Millionen Euro, die wegen des
       Kohleausstiegs in die Region fließen, nichts bewirken]? Wenn die
       Leuchtturmprojekte wie die neue S-Bahn-Strecke von Leipzig nach Gera oder
       die Bildungszentren in Naumburg und Zeitz nicht leuchten? Wenn etwas
       unverrückbar aus dem Lot ist?
       
       Ulrich hat die Abstimmungen über den [4][Fünfpunkteplan und das
       „Zustrombegrenzungsgesetz“ im Bundestag Ende Januar], bei denen die Union
       mit der AfD abgestimmt hat, deutlich kritisiert. Freie Mehrheiten, die
       gemeinsam mit der AfD errungen werden, würden zu „verheerenden Folgen“
       führen, hatte Ulrich gewarnt. Es würde CDU-geführte Koalitionen in den
       Ländern unter Druck setzen. Jetzt ist es die CDU, die unter Druck gerät.
       
       ## Eigene Themen setzen, dagegenhalten
       
       Und nicht nur sie, auch die Zivilgesellschaft. „Uns erreicht von den
       Initiativen gerade viel Resignation und tiefe Ratlosigkeit“, sagt David
       Begrich vom [5][Magdeburger Verein Miteinander], der demokratische Projekte
       unterstützt. „Wenn es so weitergeht, wird die AfD hier kommendes Jahr
       allein regieren.“ Eine Gegenstrategie der Parteien sieht er bisher nicht.
       Für Begrich geht es jetzt darum, „demokratische Kerne“ zu erhalten. „Alle,
       die zivilgesellschaftlich aktiv sind, müssen sich zusammenraufen.“ Und es
       brauche einen neuen Modus. Die Strategie der Eindämmung der AfD sei
       „gescheitert. Jetzt müssen wir stärker in die Konfrontation gehen.“
       
       Für Herbert Wollmann ist es in Berlin bereits vorbei. Der SPD-Mann aus
       Stendal, 74 Jahre, ein Notarzt und leidenschaftlicher Ruderer, gewann 2021
       noch mit 27 Prozent das Direktmandat. Er habe dieses Mal sogar noch mehr
       Wahlkampf gemacht, aber früh gemerkt, dass er gegen die Stimmung nicht
       ankomme, sagt er. Dabei war auch Wollmanns Gegner unsichtbar: AfD-Kandidat
       Thomas Korell, ein Dachdecker und Hinterbänkler aus dem Landtag. „Der wurde
       von der AfD regelrecht versteckt, um nicht zu offenbaren, wie unfähig er
       ist“, sagt Wollmann. Am Ende gewann Korell mit 39 Prozent. Wollmann blieben
       16.
       
       Holte die SPD 2021 noch vier Direktmandate im Land, ging sie diesmal leer
       aus. Das Zweitstimmenergebnis halbierte sich auf 13,8 Prozent. Wollmann
       sucht nach Erklärungen. Sein Wahlkreis, die Altmark, stehe nicht schlecht
       da, gleich nebenan in Niedersachsen holte die SPD noch das Direktmandat.
       „Und da sind die Verhältnisse auch nicht besser.“ Die Leute wüssten gar
       nicht, wen sie mit der AfD wählten. „Da fragt man sich schon, wie lange das
       hier noch mein Zuhause sein kann.“
       
       Wollmann bleiben nun noch Mandate im Stadtrat von Stendal und im Kreistag,
       die AfD stellt da bereits die größten Fraktionen – denen er Paroli bieten
       will. Für ihn kann es nur so gehen: eigene Themen setzen und dagegenhalten.
       Und die Landtagswahl 2026? Man könne nur hoffen, dass es zu einem
       Waffenstillstand in der Ukraine komme und sich die Wirtschaft erhole.
       Außerdem müsse SPD-Wissenschaftsminister Armin Willingmann, Reiner
       Haseloffs Vize, aus der Deckung kommen und offensiv die AfD und CDU
       attackieren. „Sonst kämpfen wir hier mit der Fünfprozenthürde.“
       
       ## Ohne Sicherheitsnetz
       
       Vor allem aber wird es bei der Landtagswahl 2026 auf die CDU ankommen. 2021
       konnte Ministerpräsident Haseloff, der damals schon in Rente gehen wollte,
       die AfD noch auf Abstand halten und 37 Prozent holen. Seitdem koaliert die
       CDU mit SPD und FDP. Gut möglich, dass Haseloff, vor Kurzem 71 Jahre alt
       geworden, seine Ruhestandspläne erneut ändern muss, um die AfD von der
       Staatskanzlei fernzuhalten.
       
       Zwar hat Haseloff den Landesparteivorsitz schon vor Jahren abgegeben, seit
       2021 heißt der CDU-Vorsitzende Sven Schulze, fast genauso lange ist Schulze
       Wirtschaftsminister. Allerdings ist er in Sachsen-Anhalt kaum bekannt, was
       schon unter ruhigen politischen Umständen ein Problem wäre. Einige
       CDU-Kreischefs und Bürgermeister fordern, Haseloff müsse noch mal ran. Das
       klingt nach letztem Aufgebot.
       
       Schulze und Haseloff lassen bisher offen, wer nächstes Jahr kandidiert.
       Dass der Sonntag eine Niederlage war, räumt Schulze ein. „Ganz klar.“ Aber
       mit der Regierung im Bund gebe es nun die Chance, Vertrauen
       zurückzugewinnen. Zweckoptimismus ist das. Die Union müsse bei Themen wie
       Migration in den Koalitionsverhandlungen hart bleiben. „Das treibt die
       Leute um, gerade nach dem Anschlag hier in Magdeburg.“ Die Landtagswahl
       schreibt Schulze noch nicht ab. „Die Menschen schauen ganz genau bei
       Wahlen, worum es geht. Das hat ja die letzte Landtagswahl gezeigt. Da ist
       noch alles offen.“ Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt Schulze aus.
       „Aber darum geht’s jetzt nicht. Wir kämpfen um unsere Themen und um ein
       starkes Ergebnis für uns.“
       
       Dieter Stier, der spät am Wahlabend von der Kreis-CDU zur Aufmunterung
       einen ganzen Kasten Stier-Bier entgegennimmt, kann diese Ansagen nach
       Berlin mitnehmen. Trotz Niederlage wird er dem neuen Bundestag angehören.
       Stiers politische Existenz war über die Landesliste abgesichert wie mit
       einem Fangnetz. Für Bundesländer und Parteien gilt das nicht.
       
       2 Mar 2025
       
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