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       # taz.de -- Ostukraine - zwischen Ost und West: Haltestelle Charkiw
       
       > Die Stadt Charkiw hat sich anders als Donezk oder Luhansk nicht als
       > „Volksrepublik“ abgespalten. Die Menschen gehen hier eigene Wege.
       
   IMG Bild: Eine Minderheit in der Stadt: Demonstration von Pro-Maidan-Aktivisten in Charkiw am 22. Februar
       
       CHARKIW taz | Sie scheinen die Einzigen an diesem frühen Abend zu sein, die
       es im Gedränge des Hauptbahnhofs nicht eilig haben. Eine Frau mittleren
       Alters und ein ergrauter Herr mit Stock lenken unsicher ihre Schritte
       Richtung Wartesaal. Sie lassen sich an einem Tisch am Ende des Wartesaals
       nieder. Draußen ist das Geschrei von Kleinkindern zu hören, über
       Lautsprecher werden Verspätungen sowie ein- und ausfahrende Züge angesagt.
       Für viele Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine ist Charkiw
       die erste Anlaufstelle, die Front verläuft nur etwa 150 Kilometer entfernt.
       In einem Teil des Wartesaals haben Freiwillige die „Haltestelle Charkiw“
       eingerichtet, ein mobiles Büro für die Flüchtlinge. Eine Helferin gießt den
       Ankömmlingen heißen Tee ein. Allmählich löst sich ihre stumme Erschöpfung.
       
       Swetlana und Viktor stammen aus einem Vorort von Donezk. Die Helferin nimmt
       ihre persönlichen Daten zu Protokoll, bietet ihnen ein warmes Essen,
       Kleidung an. Sie haben nur eine kleine Reisetasche dabei. Etwa 50
       Flüchtlinge steuern die „Haltstelle“ pro Woche an. Lange können sie nicht
       bleiben. Die Kapazitäten der Stadt seien erschöpft, sagen die Mitarbeiter.
       
       Einer von ihnen ist Alexander Ewglewskij. Früher, „vor dem Krieg“, war
       Alexander erfolgreicher Geschäftsmann. Es ist seinem Verhandlungsgeschick
       zu verdanken, dass die Flüchtlinge es sich bequem machen dürfen in den
       grünen weichen Sesseln und Sofas der Luxuslounge auf der ersten Etage, die
       sonst nur zahlenden Gästen vorbehalten ist. Hier ist der Lärm des Bahnhofs
       nur noch gedämpft zu hören. Und hier findet auch die Essensausgabe für die
       Flüchtlinge statt. Mütter mit Kleinkindern können eine Woche übergangsweise
       in einem Hotel in Charkiw wohnen, ebenfalls kostenlos. Wer nicht selbst
       eine Unterkunft finden kann, wird von den Freiwilligen weitergeschickt,
       nach Kiew, in den Westen des Landes. Swetlana und Viktor erhalten die
       Adresse einer protestantischen Familie, die sie an eine Sammelunterkunft in
       der Region von Kiew vermitteln wird.
       
       ## Mobilisierungskampagne ohne große Resonanz
       
       Die „Haltestelle Charkiw“ ist gut vernetzt mit anderen Hilfsorganisationen
       im Land. Auf die Regierung sind sie nicht gut zu sprechen. Gerade einmal
       615 wintertaugliche Plätze landesweit biete der Staat den
       Flüchtlingen.„Wenn die kirchlichen Helfer nicht wären“, sagt Igor
       Solomadin, ein Maidan-Aktivist der ersten Stunde, „würden sie buchstäblich
       auf der Straße stehen.“
       
       In Charkiw, nur 40 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt,
       ticken die Uhren anders als in Kiew, aber auch anders als in Luhansk und
       Donezk. Im Stadtzentrum ist zunächst kein großer Unterschied zu sehen.
       Ukrainische Fahnen schmücken Straßen, Balkone, Autos, Amtsgebäude. Vom
       riesigen Lenindenkmal am Freiheitsplatz ist nur noch der Stumpf
       übriggeblieben, auf dem nun eine ukrainische Fahne weht. In der vorwiegend
       russischsprachigen Stadt sprechen mehr und mehr Menschen Ukrainisch.
       Trotzdem wünscht sich die Mehrheit der Bevölkerung gute Beziehungen zu
       Russland, die Anhänger des Maidan sind in der Minderheit. Dies ist auch
       eine soziale Frage, sie gehören in der Regel zur besserverdienenden
       Mittelschicht.
       
       Während in Kiew an jeder Ecke Freiwillige Spenden für die Soldaten der
       „Antiterroroperation“ sammeln, ist in Charkiw niemand mit einer
       Sammelbüchse unterwegs. Auch die in der Westukraine üblichen Plakate, die
       zur Unterstützung der Armee aufrufen, fehlen. Nur 800 statt der erwünschten
       4.500 Rekruten wurden seit Januar im Rahmen der Mobilisierungskampagne an
       die Front geschickt. Die Stadt ist – wie das Land – gespalten.
       
       ## Betreuter Dialog
       
       Die 40-jährige Soziologin Alena Kopina versucht im Konflikt zwischen den
       proeuropäischen und den prorussischen Aktivisten zu vermitteln. Ihr
       Arbeitgeber, die „Stiftung für kommunale Demokratie“, ist in einem
       baufälligen Gebäude im Zentrum von Charkiw untergebracht, ein wackliger
       Fahrstuhl bringt die Besucher in die oberste Etage. Seit Monaten
       organisiert Kopina Begegnungen zwischen Vertretern der verfeindeten
       Gruppen. „Ich beobachte mit großer Sorge, wie sich die Aggressionen in
       unserer Stadt hochschaukeln“, sagt sie. „Irgendwann habe ich mir gesagt, es
       reicht nicht, immer nur zu beobachten.“
       
       Auf YouTube betreut Kopina ein Dialogforum, bei dem jeweils ein Vertreter
       der prorussischen und der proeuropäischen Seite über ein festgesetztes
       Thema reden. „Inhaltlich hat sich wenig verändert,“ stellt Kopina fest,
       „beide Seiten stehen sich nach wie vor unversöhnlich gegenüber.“ Doch
       atmosphärisch hätte ihre Gesprächsreihe durchaus etwas bewirkt in der
       Stadt, die sich nach dem Terroranschlag vom 22. Februar weiter polarisiert
       hat. „Dialog ist immer möglich, auch dann, wenn die Gewalt schon weit
       eskaliert ist.“
       
       ## Der Schock des Attentats
       
       Der Schock des 22. Februar wird der Bevölkerung der 1,5
       Millionen-Einwohner-Stadt noch lange in den Gliedern sitzen. An diesem
       Sonntag waren Dutzende von Anhängern des Euromaidan im Gedenken an die
       Toten der Ereignisse in Kiew vor einem Jahr durch Charkiw gezogen. Ein
       Sprengsatz riss vier Demonstranten in den Tod. Der ukrainische Geheimdienst
       verhaftete nur wenige Stunden nach dem Anschlag vier Verdächtige. Sie
       sollen, sagen die ukrainischen Behörden, von Russland für den Anschlag
       vorbereitet worden sein.
       
       Ein paar Tage später werden die Toten des Anschlags vor dem Denkmal des
       ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko aufgebahrt. Ihre Anhänger geben
       ihnen das letzte Geleit. „Ich bin enttäuscht, dass so wenige Menschen zu
       den Trauerveranstaltungen gekommen sind“, sagt Igor Solomadin. „Und nicht
       ein einziger Vertreter der Behörden hat sich die Mühe gemacht, der
       Trauerveranstaltung beizuwohnen.“
       
       Im Gegensatz zu den meisten Maidan-Anhängern unterstützt Solomadin,
       Internetblogger und Historiker, den Krieg in der Ostukraine nicht. „Sollen
       die in Donezk und Luhansk doch gehen, wenn es ihnen bei uns nicht gefällt.
       Wir können auch ohne sie eine moderne Ukraine aufbauen.“ Er ist überzeugt,
       dass die Zukunft des Landes in der Hinwendung zu Europa liege – Vorbild
       Polen. „Mit Militär allein kann Russland keine ostukrainische Stadt für
       sich erobern. Dafür braucht es auch die Unterstützung durch einen großen
       Teil der Bevölkerung. Und genau deswegen ist es so wichtig, dass wir uns
       als Stadt klar positionieren und Russland zeigen, dass wir nicht russisch
       werden wollen.“
       
       ## Besuch bei der KPU
       
       Tatsächlich sind in Charkiw bisher alle Versuche, nach dem Vorbild von
       Donezk oder Luhansk eine „Volksrepublik Charkiw“ auszurufen, gescheitert.
       Bürgermeister Gennadij Kernes hatte sich im Sommer letzten Jahres
       entsprechenden Versuchen entgegengestellt.
       
       Politisch aktiv zu sein ist unter diesen Bedingungen nicht einfach.
       Charkiws Kommunisten fühlen sich in der Defensive. Derzeit läuft auf
       Betreiben der Kiewer Regierung ein Verbotsverfahren gegen die Partei. Ein
       unscheinbares Schild am Hauseingang der Poltawskij Schljach 22 im Stadtteil
       Leninskij weist darauf hin, dass sich hier das Büro der Kommunistischen
       Partei befindet. Im Inneren wirkt es wie ein Stück Sowjetunion der 70er
       Jahre. Die roten Fahnen mit Hammer und Sichel, die Kisten mit roten
       Broschüren, ein Kinosaal, von dessen roter Wand ein übergroßer Lenin auf
       hundert Stühle blickt. Auf den Gängen stapeln sich Säcke mit Hilfsgütern
       für Flüchtlinge aus dem Donbass. „Wir ziehen die Rollläden schon lange
       nicht mehr hoch“, sagt Alla Alexandrowskaja. 14 Jahre hatte die 66-jährige
       AKW-Ingenieurin für die ukrainischen Kommunisten im Parlament gesessen.
       „Wir hatten vor einiger Zeit Besuch vom Rechten Sektor. Die haben unser
       Büro mit Eiern beworfen. Seitdem bemühen wir uns, möglichst wenig
       aufzufallen.“
       
       Am 1. März seien sie und ihr Sohn vom Fernsehsender TSN der Mittäterschaft
       an den jüngsten Terroranschlägen in Charkow beschuldigt worden, sagt Alla
       Alexandrowskaja empört. „Was ist denn das für ein Rechtsstaat, in dem man
       Menschen ohne Beweise und ohne Gerichtsurteil einfach öffentlich des
       Terrorismus beschuldigen kann?“
       
       ## Politische Hyterie
       
       Auch Tanja, 30, und Artur, 28, haben ihren Treffpunkt sorgfältig gewählt.
       In einem Café unweit des 20 Meter hohen „Thermometers“ an der
       Sumskaja-Straße wählen sie einen Tisch, der von der Kellnerin nicht
       einsehbar ist. Hier könne man in Ruhe reden. Außerdem sind die beiden es
       nicht gewohnt, ihr geringes Einkommen von weit unter 100 Euro mit einem Tee
       oder Kaffee unnötig zu strapazieren. Beide sind Sozialisten, aber in keiner
       Partei organisiert. Sie erinnern ein wenig an die russischen Anarchisten
       des 19. Jahrhunderts, obwohl Artur Irokesenschnitt trägt.
       
       Für ihn geht es bei dem Ukraine-Konflikt nur um eins: Geld. Und das, sagt
       Artur, besitzen in der Ukraine nur die Oligarchen. Er sehe es nicht ein,
       sich in einem Konflikt für deren Interessen verheizen zu lassen.
       
       Arturs und Tanjas Gruppe, zehn Leute, trifft sich konspirativ in Wohnungen,
       sie lesen sozialistische Literatur, erarbeiten Flugblätter gegen
       Preiserhöhungen und Entlassungen, die sie vor Fabriken verteilen. „Ich
       arbeite in der Finanzbehörde“, berichtet Tanja. „Wenn mein Chef wüsste,
       dass ich Sozialistin bin, wäre ich meinen Job sofort los. Bei uns geht die
       Angst um.“
       
       ## Schnelle Verdächtigungen
       
       Ein Kollege sei unter dem Verdacht, Separatist zu sein, verhaftet worden.
       Bei einem Gefangenenaustausch wurde er unerwartet den Separatisten in
       Donezk übergeben. Doch der Freund, definitiv kein Separatist, wolle mit der
       „Volksrepublik Donezk“ nichts zu tun haben. Deswegen ist er nach Russland
       geflohen, wo er nun als Obdachloser auf der Straße lebt. Zurück in die
       Ukraine kann er nicht, da er weiterhin als Separatist gesucht wird.
       
       „Die neue Regierung erklärt uns, wie undemokratisch es unter dem
       Kommunismus gewesen ist. Aber ist das nun besser?“ fragt Tanja. Sie und
       Artur wollen nicht, dass Charkiw eines Tages zu Russland gehört. Sie machen
       sich keine Illusionen über das heutige Russland. „Doch viel schlimmer als
       jetzt kann es auch in Russland nicht werden. Der Maidan wird als Revolution
       der Würde bezeichnet. Doch die wachsende Armut hat nun wirklich nichts mit
       Würde zu tun.“
       
       14 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
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