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       # taz.de -- Outsider-Kunst auf der Berlinale: „Erfolg spielt dort keine Rolle“
       
       > Sabine Herpich verfolgt die künstlerische Arbeit von Außenseitern in
       > ihrem Dokumentarfilm „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“
       > (Forum).
       
   IMG Bild: Sabine Herpich, hier vor dem fsk-Kino. Beim Drehen ihrer Filme macht sie meistens alles allein.
       
       Die sogenannte Außenseiter- oder Outsider-Kunst unterscheidet sich vom
       Kunstbetrieb vor allem durch die materiell abgesicherte soziale Lage ihrer
       Künstler*innen in kollektiven Kunstwerkstätten jenseits des Markts. Die
       Berliner Filmemacherin Sabine Herpich hat eine solche Werkstatt in
       Berlin-Spandau besucht und begleitet die solitäre künstlerische und
       gemeinschaftliche Arbeit in einem Film, der grundsätzliche Fragen über
       Genregrenzen und Schubladendenken aufwirft. 
       
       taz: Frau Herpich, Ihr Film „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen
       ist“ bringt uns die Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin-Spandau und einige
       originelle Künstlerinnen und Künstler nahe. Wie sind Sie zu diesem Stoff
       gekommen? 
       
       Sabine Herpich: Auf Umwegen über ein anderes Projekt. Vorher wusste ich gar
       nicht, dass es die [1][sogenannte Outsider-Kunst] gibt. Aber als ich in die
       Kunstwerkstatt kam, war ich sofort begeistert von den Kunstwerken und der
       Art und Weise, wie sie entstehen. Besonders begeisterte mich, dass Erfolg
       überhaupt keine Rolle spielt. Es wird sehr konzentriert an einem Bild
       gearbeitet – und wenn es fertig ist, wird es weggelegt, und die Arbeit am
       nächsten Bild beginnt.
       
       Ist diese Werkstatt-Kunst für Sie ein Gegenmodell zum Kunstmarkt? 
       
       Für mich ist sie vor allem ein Vorbild. Man wird so sozialisiert an der
       Filmhochschule, dass der Druck und die Konkurrenz besonders groß ist. In
       der Kunstwerkstatt geht es eigentlich nur darum, das zu machen, was man
       machen möchte.
       
       Eine luxuriöse Situation, die sich jede Künstlerin wünscht. 
       
       So ist es. Ich habe mich in der Kunstwerkstatt vorgestellt und wollte erst
       einmal eine Hospitanz machen, um zu gucken, ob ich mir vorstellen kann,
       dort zu arbeiten. Aber die Leiterin der Werkstatt, Nina Pfannenstiel, war
       gleich begeistert von meinem Projekt und hat gesagt, von mir aus kannst du
       sofort anfangen zu drehen.
       
       Wie gestaltete sich die Arbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern? 
       
       Bei einigen war es überhaupt kein Problem. Für andere war es ein bisschen
       ungewohnt. Da habe ich mich erst mal zurückgehalten, weil ich gemerkt habe,
       ich hindere sie an der Arbeit. Dann habe ich mich peu à peu wieder
       angenähert.
       
       Vor einigen Jahren haben Sie sich selbst einmal provokativ als
       „Hobbyfilmerin“ bezeichnet, weil Sie ein Konzept des unabhängigen
       Filmemachens jenseits der Filmförderung verfolgen. 
       
       Klar hätte auch ich gerne Förderung oder Stipendien, aber ich sehe, wie es
       praktisch läuft: Einreichen, Warten, Abgelehntwerden. Wieder Einreichen,
       Warten, Abgelehntwerden. Die Frage war: Welche Bedingungen brauche ich,
       damit ich kontinuierlich arbeiten kann? Dann habe ich mir diese Bedingungen
       selbst geschaffen. Das heißt, dass ich mit vier anderen als [2][Kollektiv
       das fsk-Kino] und den Peripher-Filmverleih betreibe und meine Filme mit
       eigenen Mitteln in der Freizeit mache. Dabei mache ich beim Dreh alles
       allein.
       
       Und das geht? 
       
       Ich habe Montage studiert, die Kamera mir selber beigebracht. Jetzt möchte
       ich sie nicht mehr abgeben, es ist wichtig für meine Filme, dass ich die
       Kamera selbst führe und dass es mein Blick ist. So habe ich mittlerweile
       vier Filme gemacht. Toll am Allein-Arbeiten ist die Flexibilität. Aber es
       ist auch eine Überforderung, weil man für alles zuständig ist, und das ist
       ziemlich viel.
       
       Bei diesem Film sollte alles anders werden? 
       
       Ja, ich dachte, dieses Thema möchte ich anders angehen, auch weil die
       Arbeit daran sehr zeitintensiv sein würde. Ich wollte längere Zeit am
       Drehort bleiben und auch mal jemanden mitnehmen für den Ton. Ich habe eine
       Produktionsfirma gewinnen können. Allerdings war mir sehr wichtig, dass wir
       zwar Förderung beantragen, aber den Film ohne Fernseh-Beteiligung
       finanzieren.
       
       Hat das geklappt? 
       
       Nein, wir haben es dreimal versucht und sind dreimal abgelehnt worden. Die
       Produktion wollte mich dazu ermutigen, das Projekt mit einem neuen Exposé
       noch mal einzureichen. Aber ich wusste nicht, was ich neu schreiben sollte.
       Stattdessen habe ich weiter gedreht, dann aber eingesehen, dass ich meine
       Arbeit im fsk Kino länger hätte unterbrechen müssen. 2018 habe ich den Film
       aufgegeben und das gedrehte Material beiseitegelegt. Sonst lösche ich das
       Material, wenn ich ein Projekt abbreche.
       
       Das ist radikal. 
       
       Ich brauche die Festplatten. Und ich habe meinen Kopf erst dann wieder frei
       für ein neues Projekt. Diesmal hatte ich das Material nicht gelöscht, weil
       ich daraus gerne etwas für die Kunstwerkstatt machen wollte. Ich wollte
       ihnen ein zwanzigminütiges Dokument geben für den eigenen Gebrauch. Das
       habe ich dann ein Dreivierteljahr vor mir hergeschoben. Und dann – mit
       etwas Abstand – habe ich gemerkt, da sind viele schöne Sachen dabei. Ich
       dachte, vielleicht kann ich daraus einen Kurzfilm machen.
       
       Was hat den Ausschlag gegeben, dass sich Ihre Perspektive geändert hat? 
       
       Ich habe lange an die vielen geplanten, aber nicht realisierten Aufnahmen
       gedacht, die ich ursprünglich zu drehen vorhatte. Erst während des
       Schnittprozesses habe ich gemerkt, dass das bereits vorhandene Material für
       einen Film ausreicht, obwohl ich gefühlt nur ein Drittel von dem Geplanten
       gedreht hatte. Dabei war es gut, beim Sichten des Rohschnitts Feedback zu
       bekommen, von Produzent Tobias Büchner und anderen Editorinnen und
       Editoren.
       
       Wie ging es dann weiter? 
       
       Ich habe den Film zu Hause geschnitten. Am Ende wurde es doch ein Langfilm,
       den ich im Kino zeigen wollte. Damit war aber auch klar, dass ich eine
       professionelle Postproduktion brauche. Das konnte ich nicht selber machen,
       kostete also Geld. So haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, bei
       der – wie fast immer bei solchen Kampagnen – hauptsächlich Freunde und
       Familie gespendet haben und wir ein bisschen über 10.000 Euro sammeln
       konnten.
       
       Es ist sehr beeindruckend, wie präsent und plastisch die Kunst im Film
       erscheint. Gab es für die Betrachtung der Kunstwerke ein Konzept? 
       
       Das war eher aus dem Bauch heraus. Mir war wichtig, dass man die einzelnen
       Prozesse sehen kann, die Handbewegungen, auch über eine längere Zeit. Also
       [3][wenn Adolf Beutler zeichnet], seine Hand zu verfolgen, das dauert ein
       paar Minuten, ohne dass er Pause macht. Das war ein Konzept, so etwas ganz
       zu zeigen.
       
       Welche Rolle spielt Ihre Arbeit für das Berliner Programmkino fsk, wenn Sie
       selbst Filme machen – und umgekehrt? 
       
       Ich kenne die unterschiedlichen Seiten des Metiers, in dem gerne jeder über
       die andere Seite schimpft. Das heißt, ich kenne als Filmemacherin auch die
       Probleme der Kinos und des Verleihs. Es ist ein enormer Vorteil, dass ich
       weiß, wie schwierig es etwa sein kann, im Kino ein Publikum zu finden.
       
       Wie fanden Ihre Heldinnen und Helden aus der Kunstwerkstatt den Film? 
       
       Wir haben alle zu uns ins fsk-Kino eingeladen, ihnen den Film gezeigt und
       über ihn gesprochen. Das war faszinierend, weil in der Werkstatt jeder nur
       mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt ist und wenig Interesse für die
       anderen besteht. Wir waren sehr erstaunt, wie anders das im Kino war und
       wie groß auch die Neugier für das Schaffen der anderen in der Werkstatt
       wurde.
       
       Könnte Ihr Film so die zukünftige Arbeit der Werkstatt beeinflussen? 
       
       Das glaube ich nicht. Aber ich hoffe sehr, dass er es schafft, dass sich
       mehr Menschen für das Thema Außenseiterkunst interessieren. Und vor allem,
       dass es mehr Ausstellungen und Museen gibt, wo die Kunst von KünstlerInnen
       mit Behinderung ganz selbstverständlich neben Kunst von KünstlerInnen ohne
       Behinderung hängt.
       
       27 Feb 2020
       
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